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Interventionsgrenze, Reproduktionszahl, Vorwarnzeit

25.05.2020 11:00
Die Bund-Länder-Konferenz zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie hat am 6. Mai 2020 beschlossen, „dass in Landkreisen oder kreisfreien Städten mit kumulativ mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der letzten 7 Tage sofort ein konsequentes Beschränkungskonzept unter Einbeziehung der zuständigen Landesbehörden umgesetzt“ werden muss. Vor diesem Hintergrund hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) länderspezifische Kennzahlen zur Steuerung des Pandemieverlaufs entwickelt.

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>> Viele Patienten haben im Zuge der Kontaktbeschränkungen während der ersten Phase der Covid-19-Pandemie Arztbesuche aufgeschoben. Davon sind nach ersten Hinweisen auch akute Behandlungsanlässe sowie laufende Untersuchungen und Behandlungen chronischer Krankheiten betroffen. An einem normalen Tag verzeichnet die vertragsärztliche Versorgung etwa 3,9 Millionen Patienten, von denen über die Hälfte an einer dringlich behandlungsbedürftigen bzw. an einer oder mehreren chronischen Krankheiten leiden. Dem stehen gemäß Robert Koch-Institut (RKI) derzeit bundesweit rund 24.000 akut mit dem Erreger SARS-CoV-2 infizierte Meldefälle gegenüber.
Mit Blick auf die konkurrierenden Gesundheitsrisiken ist eine Rückkehr zu einer medizinischen Versorgungsnormalität daher notwendig. Dies wiederum erfordert ein vorausschauendes Pandemie-Management. Wir gehen der Frage nach, welche Indikatoren dies unterstützen würden. Ein Ergebnis der Telefonschaltkonferenz zwischen Bund und Ländern am 06.05.2020 war die Verpflichtung der Länder sicherzustellen, „dass in Landkreisen oder kreisfreien Städten mit kumulativ mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der letzten 7 Tage sofort ein konsequentes Beschränkungskonzept unter Einbeziehung der zuständigen Landesbehörden umgesetzt wird“. (Beschluss zu TOP 2, Ziffer 3.)
Eine an der absoluten Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen orientierte Interventionsgrenze ist der Orientierung an der bloßen Reproduktionszahl R (R-Wert) überlegen. Diese ist bei einem niedrigen Infektionsniveau schwer zu interpretieren, da sie bei geringen Fallzahlen stark auf kleine Veränderungen in der Zahl der Neuinfektionen reagiert. Die Schätzung der Reproduktionszahl durch das RKI unterliegt zudem einer erheblichen Unsicherheit im Rahmen des so genannten Nowcastings, das auf dem geschätzten Erkrankungsbeginn der Fälle basiert.
Durch das RKI wurde für den 06.05.2020 mit Datenstand vom 10.05.2020 eine Reproduktionszahl von R=1,13 geschätzt, das 95%-Vertrauensintervall der Schätzung liegt dabei zwischen R=0,94 und R=1,35. Die zeitliche Verzögerung der Schätzung liegt darin begründet, dass für die letzten drei Meldetage noch ein erheblicher Anteil von Nachmeldungen zu erwarten ist, der auch mit dem Nowcasting nicht abgeschätzt werden kann.
Für alle übrigen Tage des Erkrankungsbeginns werden mittels Nowcasting anschließend Abschätzungen zum erwarteten Anteil von Nachmeldungen generiert. Da der Erkrankungsbeginn aber nur für ca. zwei Drittel der Fälle bekannt ist, muss er für die übrigen Fälle ebenfalls geschätzt werden.
Die Unsicherheit dieser Schätzung wird durch das Vertrauensintervall des R-Wertes allerdings nicht abgebildet. Die Berechnung des R-Wertes durch das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) erfolgt aufgrund dieser Herausforderungen allein auf Basis der neu gemeldeten Fälle, wobei aber ebenfalls die letzten drei Meldetage nicht berücksichtigt und eine Glättung für ein 7-Tageszeitfenster erfolgt. Dieses Vorgehen soll stabilere Schätzwerte liefern und die eingehende Unsicherheit sowie Widersprüche zwischen der Entwicklung der Fallzahlen und der Entwicklung des R-Wertes reduzieren. Unabhängig von der verwendeten Berechnungsmethode bietet der R-Wert ohne Berücksichtigung der absoluten Zahl von Neuinfektionen wenig Erkenntnispotenzial.
Am 12.05.2020 hat das RKI angekündigt, seine Methode zu verändern.
Somit steht eine einheitlich fixierte Interventionsgrenze im Raum, ab der die Länder zum Handeln angehalten sind. Dieser Steuerungsansatz unterscheidet sich vom Frühindikator des Zi, der effektiven Vorwarnzeit. Die Vorwarnzeit soll eine Information darüber geben, wieviel Zeit noch besteht, um bei steigenden Neuinfektionen durch Interventionen ein Erreichen der rechnerischen Belastungsgrenze des Gesundheitswesens zu vermeiden (*).


Ein Vergleich zwischen der Interventionsgrenze und der rechnerischen Belastungsgrenze des Gesundheitswesens:
a. Die Belastungsgrenze wird abgeleitet aus den für die Versorgung von Covid-19-Patienten verfügbaren intensivmedizinischen Behandlungsplätzen (25% aller registrierten Intensivplätze), dem Anteil der intensivmedizinisch behandlungspflichtigen Covid-19-Patienten an allen gemeldeten Infektionsfällen (5%), und der mittleren Behandlungsdauer der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen (10 Tage). Gemäß DIVI-Register standen am 07.05.2020 32.828 Intensivbetten in Deutschland zur Verfügung. Somit liegt die rechnerische Belastungsgrenze des Gesundheitswesens am 07.05.2020 bei 16.414 täglichen Neuinfektionen bundesweit. Dementsprechend liegt die von Bund und Ländern fixierte Interventionsgrenze bei 5.930 täglichen Neuinfektionen (36% der rechnerischen Belastungsgrenze).
b. Da den Ländern die Kompetenz für Entscheidungen über Interventionen übertragen ist, und die Ausstattung mit intensivmedizini-schen Behandlungskapazitäten relativ zur Bevölkerungsdichte regional unterschiedlich ist, ist es sinnvoll, die rechnerische
Belastungsgrenze nach Ländern zu berechnen und zu vergleichen, in welchem Verhältnis die einheitliche fixierte Interventionsgrenze zur länderspezifischen Belastungsgrenze steht (vgl. Tab. 1, Spalte 6).
c. Je höher die länderspezifische Belastungsgrenze durch die Interventionsgrenze ausgeschöpft ist (vgl. Baden-Württemberg: 42,2%; Saarland: 20,2%), desto kürzer ist folglich bei einer gegebenen Infektionsdynamik die verbleibende Zeit
bis zum Erreichen der Belastungsgrenze
bezogen auf die im jeweiligen Bundes-land verfügbaren intensivmedizinischen
Ressourcen. Dies kann anhand eines Szenarios dargestellt werden, das auf zwei Annahmen basiert:
(1) Es findet eine räumlich nicht eingeschränkte Infektionsausbreitung statt;
(2) Die Reproduktionszahl beträgt bei Überschreiten der Interventionsgrenze R=1,3 und verbleibt anschließend auf diesem Niveau. In diesem Fall würde die Vorwarnzeit je Bundesland zwischen 22 und 46 Tagen variieren (vgl. Tab. 1, Spalte 7; Abb. 1).
d. Berücksichtigt man pauschal anzunehmen-de Zeitverluste bis zum Wirksamwerden von Maßnahmen unter der Annahme, dass sich die Vorwarnzeit hierdurch um 21 Tage verkürzt (effektive Vorwarnzeit), betrüge die verbleibende Zeit im o. g. Szenario in einigen Bundesländern 2 bis 3 Wochen, in anderen nur noch 1 bis 3 Tage (vgl. Tab. 1, Spalte 8).
Fazit
a. Mit der Festlegung der einheitlichen Interventionsgrenze auf einem im Vergleich zur rechnerischen Belastungsgrenze vergleichsweise niedrigen Niveau von Neuinfektionen (36% der Belastungsgrenze) wurde von Bund und Ländern vorsichtig vorgegangen. Es besteht zwar grundsätzlich eine Reserve nach oben, diese ist in den verschiedenen Bundesländern allerdings unterschiedlich groß bemessen. So besteht auch weiterhin die Gefahr, dass unter Umständen sehr schnell erneute Auflagen veranlasst werden müssen.
b. Unsere Modellbetrachtung zeigt, dass es hilfreich und notwendig ist, neben der Interventionsgrenze die rechnerische Belastungsgrenze und die voraussichtlich verbleibende Zeit bis zum Erreichen dieser Belastungsgrenze zu berücksichtigen. Dies kann helfen, die Anzahl und die Art der notwendigen Interventionen zu bewerten und gegenüber den damit einhergehenden Grundrechtseinschränkungen abzuwägen.
c. Die Vorwarnzeit berücksichtigt die Dynamik des Infektionsgeschehens und damit die Veränderung der Reproduktionszahl. Die Berechnungsmethode des Zi basiert hierbei im Unterschied zum RKI auf einer Glättung der Fallzahlentwicklung ohne Berücksichtigung des geschätzten Erkrankungsbeginns. Der R-Wert wird dadurch besser interpretierbar, da er nicht von potenziellen weiteren Unsicherheiten aus dem Nowcast-Verfahren beeinflusst wird. Beide Werte sind gleichermaßen aktuell und weisen einen zeitlichen Verzug von vier Tagen auf. Dieser zeitliche Verzug wird im Rahmen der effektiven Vorwarnzeit berücksichtigt.
d. Ein Szenario mit einem flächendeckenden, nicht auf einzelne Landkreise eingrenzbaren Infektionsgeschehen mit hoher gleichförmiger Dynamik (z.B. R≥1,3) bei Überschreiten der Belastungsgrenze ist zwar grundsätzlich unwahrscheinlich, wird aber im Zuge der beschlossenen Lockerungen und die steigende interregionale Mobilität wieder wahrscheinlicher.
e. Zusammengenommen verdeutlichen diese Punkte die Gefahr, dass bei einer ausschließlichen Betrachtung des vom RKI-berichteten R-Werts oder der Interventionsgrenze zu zögerlich oder zu heftig interveniert wird. Wir empfehlen daher die zusätzliche Berücksichtigung der effektiven Vorwarnzeit als Frühindikator. <<

von: Dr. Dominik von Stillfried, Dr. Lars E. Kroll, Dr. Edgar Steiger, Thomas Czihal; alle: Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland

Zitationshinweis
von Stillfried et al.: „Interventionsgrenze, Reproduktionszahl, Vorwarnzeit“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (03/20), S. 46-47, doi: 10.24945/MVF.03.20.1866-0533.2228

 

*Link

https://www.zi.de/fileadmin/images/content/PMs/Fruehindikator_fuer_ein_Management_des_Pandemiegeschehens.pdf

Ausgabe 03 / 2020

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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