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„Innovative Wege zu transformativen Therapien“

08.10.2020 09:00
Nach Ansicht von Dr. Dorothee Brakmann, Leiterin des Bereichs Gesundheitsökonomie, Marktzugang und Erstattung und Mitglied der Geschäftsleitung bei Janssen Deutschland, und Dr. Christoph Bug, Leiter der Medizin und Mitglied der Geschäftsführung, ist das bisher übliche und seit über 100 Jahren gebräuchliche System der Klassifikationen von Krankheiten obsolet.

http://doi.org/10.24945/MVF.05.20.1866-0533.2247

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>> Wenn es nach Ihnen ginge, ist es an der Zeit, das gängige System der Klassifikationen von Krankheiten über Bord zu werfen. Was ist denn an der bisherigen Praxis nach Ihrem Dafürhalten nicht mehr zeitgemäß?
Bug: Wenn Sie mich so zugespitzt fragen: Das System hat sich einfach überlebt.

Wieso das?
Bug: Einerseits nutzen wir hochmoderne Technologien wie MRT (Magnetresonanztomografie, Kernspintomografie) und CT (Computertomografie), doch andererseits klassifizieren wir Krankheiten nach wie vor deskriptiv: Wir ordnen sie nach ihrem Erscheinungsbild ein, also nach den Symptomen, die wir sehen, fühlen oder hören können. Das heißt nichts anderes, als dass wir ungeachtet des medizinischen Fortschritts und modernster Technik Krankheiten heute nahezu genauso wie vor 100 Jahren klassifizieren. Dieser Ansatz geht am Kern der Erkrankungen, den Mechanismen auf molekularer Ebene – den eigentlich krankmachenden Prozessen – ein gutes Stück weit vorbei.

Können Sie das näher erläutern?
Bug: Wir entwickeln transformative Therapien, die einen erlebbaren Unterschied für Patienten machen und die Gesundheitsversorgung der kommenden Generationen maßgeblich verbessern sollen. Unser Ziel ist, dass die Medikamente, mit denen wir die Patienten versorgen, bei diesen auch wirklich voll wirksam sind. Ob sie es tatsächlich sind, können wir heute vor dem Beginn der Therapie jedoch oft nicht verlässlich voraussehen. Mitunter sind Medikamente bei manchen Patienten nicht effektiv genug, um die Erkrankung zu bekämpfen. Wir brauchen also gezielter wirkende Therapien, von denen wir vorab sagen können, bei welchen Patienten sie gut wirken und bei welchen nicht – welchen Patienten wir damit helfen können und welchen Patienten wir die Nebenwirkungen einer voraussichtlich unwirksamen Therapie ersparen sollten. Dafür müssen wir die molekularen Prozesse verstehen und direkt therapieren.
Brakmann: Eine Erkrankung betrifft nicht nur die Organe, in denen sie auftritt. Sie ist auch eine Erkrankung der Gene. Die symptombezogene Bezeichnung, die wir einer Erkrankung geben, ist für das, was auf biologischer, molekularer Ebene passiert, unzureichend.

Was heißt das konkret? Wo setzen Sie stattdessen an?
Bug: Wir setzen auf der Ebene molekularer Strukturen, den sogenannten Biological Pathways, an. Dabei handelt es sich vereinfacht ausgedrückt um eine Reihe von Aktionen zwischen Molekülen in einer Zelle, die zu einem bestimmten Produkt oder einer Veränderung in der Zelle führen. Auf diese Weise werden Signale, zum Beispiel zur Ansammlung neuer Moleküle wie Fett oder Protein, ausgelöst, Gene ein- und ausgeschaltet oder Zellen dazu angeregt, sich zu bewegen oder zu vermehren. Wir sind davon überzeugt, dass in den Biological Pathways der Schlüssel liegt, um die Auslöser von Erkrankungen besser zu verstehen und wirksame Therapieansätze zu entwickeln.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Bug: Nehmen Sie die Psoriasis, gemeinhin auch als Schuppenflechte bezeichnet. Die der Psoriasis zugrundeliegenden Fehlsteuerungen des Immunsystems können sich nicht nur an der Haut (Psoriasis), sondern auch als entzündliche Darmerkrankung (Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa) oder als rheumatische Erkrankung in den Gelenken, der Psoriasis Arthritis, manifestieren. So erklärt es sich, dass Medikamente, die die krankmachenden Prozesse erfolgreich unterbrechen, also die Fehlsteuerung des Immunsystems korrigieren, bei Krankheiten wirken, die in ganz unterschiedlichen Klassifikationen eingeordnet sind. Für uns bedeutet das, dass wir noch besser verstehen müssen, welche Prozesse eine Krankheit auf molekularer Ebene auslösen. Es bedeutet vor allem auch, dass unsere Forschungsaktivitäten nicht aufhören dürfen, wenn wir feststellen, dass ein Medikament eine Krankheit erfolgreich behandeln kann. Wir müssen das Potenzial eines Medikamentes auch bei anderen Erkrankungen untersuchen, die durch den gleichen krankmachenden Prozess ausgelöst werden – selbst dann, wenn diese Erkrankungen ganz andere Symptome zeigen und entsprechend anderen Klassifikationen angehören.
Brakmann: Ein anderes Beispiel, diesmal aus der Hämatologie, ist das Multiple Myelom. Durch eine Fehlsteuerung auf molekularer Ebene werden bei diesem Blutkrebs massiv bestimmte Zellen gebildet, schwemmen aus und lösen verschiedene schwere Symptome aus. Unbehandelt führt diese Erkrankung zum Tod. Therapeutische Antikörper, die auf ein bestimmtes Oberflächenprotein dieser Zellen zielen, helfen dem Körper, diese gezielt abzutöten. Diesen Wirkmechanismus macht man sich zum Beispiel auch beim Mantelzell-Lymphom, einem ganz anderen Blutkrebs, zunutze.   
Bug: Auch bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen SARS-CoV-2 bauen wir auf das Wissen über molekulare Mechanismen. Wir arbeiten an einem sogenannten vektorbasierten Impfstoff. Dieser nutzt einen unschädlich gemachten Erkältungsvirus, um Informationen in die menschlichen Zellen zu transportieren, die es dem Körper ermöglichen, Antikörper gegen das Virus zu produzieren und sich so zu schützen. Die gleiche Technologie setzen wir auch für Impfstoffe gegen andere Erkrankungen ein.

Könnte man sagen, dass die rein symptomorientierte Erforschung von Therapien ein Ansatz von gestern ist, während die Erforschung von molekularen Ursachen und Mechanismen der Ansatz von morgen ist?
Bug: Das machen wir ein Stück weit schon heute. Wir analysieren die pathophysiologische Genese und suchen nach Wirkstoffen, die diese Prozesse stoppen. In Zukunft werden wir den Fokus noch weiter öffnen und schauen, gegen welche krankmachenden Prozesse ein Medikament noch wirksam ist. Hier setzen wir bei der Entwicklung von Therapien an – auch jenseits unserer angestammten Forschungsschwerpunkte. Damit mehr Patienten von neuen Therapien profitieren können, auch wenn ihre Erkrankungen eigentlich in andere Kategorien fallen.
Wie weit sind Sie hinsichtlich der praktischen Nutzung dieser Erkenntnisse zur Entwicklung von Wirkstoffen?
Bug: Wir erwarten in den kommenden Jahren einige neue Zulassungen und Zulassungserweiterungen, unter anderem in der Hämatologie, auf dem Gebiet der soliden Tumore und der Immunologie.

Doch selbst wenn Sie künftig verstärkt auf molekularer Ebene ansetzen könnten. Die Erkrankung ist schon längst da und tut damit ihr zerstörerisches Werk.
Bug: So ist es. Zur Wahrheit gehört, dass wir bei progressiven Erkrankungen mitunter zu spät kommen. Der Tumor ist bereits da oder ein Organ ist irreversibel geschädigt. Die Frage, die wir uns bei Janssen seit längerem stellen, lautet deshalb: Lassen sich krankmachende Prozesse stoppen, bevor sie überhaupt Symptome entwickeln und sich als Erkrankung manifestieren?

Damit zielen Sie auf Ihren Ansatz der Disease Interception ab …
Brakmann: Genau. Wir wissen, dass dieser Ansatz sehr ambitioniert ist. Für ein Unternehmen, dessen Geschäftsmodell darauf fußt, Medikamente zur Behandlung von Krankheiten zu entwickeln, dürfte diese Vision zudem ziemlich ungewöhnlich klingen.

Und der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt würde Ihnen möglicherweise empfehlen, zum Arzt zu gehen.
Bug: Wie gut, dass wir so viele Mediziner bei uns im Unternehmen beschäftigen. Aber im Ernst: Wir sind überzeugt, dass diese Vision
in den nächsten Jahren Wirklichkeit werden kann. Als die NASA Menschen zum Mond und zurückbringen wollte, schien es den allermeisten auch undenkbar. Disease Interception ist quasi unsere Mondlandung. Und zwar nicht zum Selbstzweck, sondern zum Nutzen und Wohle der Patienten. Das treibt uns an.
Brakmann: Letztlich machen beide Ansätze, sowohl unsere Auseinandersetzung mit den Biological Pathways als auch Disease Interception, deutlich, dass wir einen Paradigmenwechsel hin zu transformativen Therapien erleben. Es wird immer deutlicher, dass wir unseren Krankheitsbegriff hinterfragen und auf der Basis der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Möglichkeiten weiterentwickeln sollten. Wenn zwischen dem Beginn eines Krankheitsprozesses und dem Auftreten erster Symptome teilweise Jahre vergehen, muss die Frage erlaubt sein, warum wir nicht früher intervenieren, statt zu reparieren, wenn wir die entsprechenden Werkzeuge dazu haben. Es gibt einen Bereich zwischen „gesund“ und „krank“. Den sollten wir nutzen!

Das klingt allerdings noch sehr nach Zukunftsmusik …
Bug: In unseren Laboren weltweit wird konkret daran gearbeitet.

Halten wir als Zwischenfazit fest: Der Fokus auf Biological Path-ways und Disease Interception können im positiven Fall einen radikalen Wandel in der bisherigen Art und Weise darstellen, wie wir diagnostizieren und therapieren. Die Gretchenfrage bleibt aber bestehen: Wie bereit ist unser Gesundheitssystem für diese Revolution?
Brakmann: Wenn wir personalisierte, smarte und quasi maßgeschneiderte Behandlungen anbieten wollen, müssen wir das bisherige System weiterentwickeln. Unser Ziel ist, dass es transformative Therapien möglichst zeitnah in die Versorgung und damit zu den Patienten schaffen.
Bug: Und genau hier sehen wir als forschendes Pharmaunternehmen Handlungsbedarf, denn Innovationen entwickeln sich naturgemäß schneller als komplexe Systeme und der regulatorische Rahmen.

Wie es Gesundheitssysteme zwangsläufig nun einmal sind.
Brakmann: Absolut richtig. Mit dem AMNOG-System haben wir in Deutschland ein wissenschaftlich-methodisches System etabliert, um das uns viele Länder beneiden. Zu Recht, wie ich finde: Das AMNOG trägt dem Gedanken der Value based Healthcare Rechnung, indem es – zumindest in der Theorie – die Bewertung des Patientennutzens und die Preisverhandlung voneinander trennt. Es ermöglicht auch, Innovationen unmittelbar nach der Zulassung auf den Markt und zu den Patienten zu bringen. Aber auch hier gibt es Anpassungsbedarf.

Derzeit braucht ein Wirkstoff von seiner Identifizierung bis hin zu seiner Markteinführung bisweilen ein Jahrzehnt und kostet einen dreistelligen Millionenbetrag. Können wir uns das künftig leisten?
Brakmann: Dass sich die Entwicklung eines neuen Medikaments über zehn Jahre hinziehen und bis zu zwei Milliarden US-Dollar kosten kann, ist kein Geheimnis. Die Erforschung und Entwicklung innovativer Wirkstoffe und Therapien erfordert von den forschenden Unternehmen hohe zeitliche und finanzielle Investitionen. Wenn die Studien negativ ausgehen oder Nebenwirkungen den Einsatz eines Medikaments verhindern, trägt das forschende Unternehmen das – nicht zu unterschätzende – Risiko des Totalausfalls. Nicht zu vergessen: Arzneimittelforschung ist auch immer ein Generationenvertrag. Die Umsätze von heute sichern die Forschung von morgen. Heute identifizieren wir einen Wirkstoff und testen ihn über viele Jahre im Hinblick auf seine Sicherheit, Verträglichkeit und die optimale Dosierung. Die Frage, die uns umtreibt, ist: Wie können wir die Prozesse, die im Rahmen der Entwicklung eines neuen Wirkstoffs ablaufen – sowohl in der präklinischen als auch in der klinischen Phase – effizienter gestalten, bei gleichbleibenden Anforderungen an Wirksamkeit und Sicherheit? Wie können moderne, effiziente und aussagekräftige Studiendesigns für transformative Therapieansätze aussehen, die dringend benötigte Therapien noch schneller zum Patienten bringen?

Was es bedeutet, immer noch schneller werden zu wollen, sieht man derzeit – Beispiel Russland – am internationalen Wettlauf um den Corona-Impfstoff.
Brakmann: Damit wir uns richtig verstehen: Die Sicherheit und Wirksamkeit eines neuen Wirkstoffs haben für uns absolute Priorität. Wir gehen deshalb davon aus, dass randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) bis auf Weiteres der Goldstandard bleiben. Wir könnten uns jedoch bestehende Ressourcen zunutze machen, um auch diese Studien deutlich schneller und effizienter umzusetzen. Und: Nicht immer sind RCTs möglich.
Bug: Tatsache ist: Unser bisheriges System der randomisierten, kontrollierten klinischen Studien ist angesichts der Dringlichkeit des medizinischen Bedarfs seitens der Patienten manchmal zu langsam. Wir müssen gemeinsam mit allen Stakeholdern daran arbeiten, innovative Therapien noch schneller zu den Patienten und in die angemessene Erstattung zu bringen. Bei einer besonders schweren Erkrankung, für die es keine echte Therapiealternative gibt, könnte man zum Beispiel früher in eine kontrollierte klinische Anwendung gehen.  

Welche Studiendesigns – jenseits der RCTs – wären aus Ihrer Sicht dafür geeignet?
Brakmann:  Es gibt eine Reihe innovativer Studiendesigns, zum Beispiel adaptive Studien, Umbrella- oder auch Basket-Studien. Letztere könnten eine Blaupause für die Onkologie sein. Dabei schließt sich übrigens der Kreis zu unserem Ansatz der Biological Pathways: Die Idee der Basket-Studien ist ja, dass man eine Therapie an Patienten mit der gleichen genetischen Veränderung untersucht, die sich aber in unterschiedlichen Tumorerkrankungen manifestiert. Ein solches Studiendesign erlaubt uns, einen neuen Wirkstoff gleichzeitig in verschiedenen Indikationen bei potenziell kleinen Patientenzahlen ressourceneffizient zu testen. Solche Studien haben es im AMNOG jedoch schwer.
Bug: Aktuell testen wir zum Beispiel ein Medikament, das in eine Signalkaskade eingreift, die durch Fehlsteuerung Tumorwachstum in ganz verschiedenen Organen auslöst. In die Studie schließen wir ganz unterschiedliche Tumorerkrankungen ein, die äußerlich kaum etwas gemeinsam haben, aber alle durch den gleichen krankmachenden Prozess ausgelöst werden. Das nennt man Basket-Studie. Basket, weil so verschiedene Tumorerkrankungen in einen „Korb“ kommen. Dieses Vorgehen birgt mehrere Herausforderungen: Zum einen sind die Patientenzahlen der einzelnen Tumortypen natürlich kleiner, als würde man die Tumortypen einzeln studieren. Zum anderen sind die Alternativtherapien – wenn es welche gibt – unterschiedlich. Und wenn es gar keine wirklichen Therapiealternativen gibt, steht man natürlich vor der Frage, ob es vertretbar ist, aufwändige Studien durchzuführen, die zwar formale Anforderungen erfüllen, aber lange dauern und damit für viele Patienten zu spät zu einer Zulassung führen würden.   

Wie ließe sich dieses Dilemma vermeiden?
Brakmann: Indem wir zum Beispiel vorhandene, selbstverständlich anonymisierte, Patientendaten nutzen, die außerhalb des Kontexts der klinischen Studie erfasst wurden. Beispielsweise könnten wir Patientendaten aus der Versorgungsrealität heranziehen, um sogenannte virtuelle oder synthetische Kontrollarme aufzubauen. Dabei würden wir die Kontrollgruppe mithilfe bereits existierender Daten simulieren – zum Beispiel von Menschen, die von ihrem Arzt die bislang übliche Therapie verschrieben bekommen haben.

Dem steht aber das Digitale-Versorgung-Gesetz entgegen.
Brakmann: Leider ja. Nehmen Sie die aktuelle Covid-19-Pandemie, Krebserkrankungen oder die Alzheimer-Erkrankung: Die Menschen erwarteten von uns, dass wir als forschendes pharmazeutisches Unternehmen wirksame Therapien entwickeln. Zu Recht, wie ich finde. Dazu brauchen wir neben wissenschaftlichen, personellen und finanziellen Ressourcen vor allem eines: den Zugriff auf umfassende, aussagekräftige Datensätze. Dennoch schließt das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) forschende Unternehmen wie Janssen von der Nutzung anonymisierter Versorgungsdaten aus. Dass der Schutz vertraulicher Patientendaten sichergestellt sein muss, ist selbstverständlich. Dass dieser Schutz nicht dazu führen muss, dass medizinischer Fortschritt zu Lasten von Patienten blockiert wird, wissen wir bei Janssen aus langjähriger Erfahrung. Für uns ist das verantwortungsvolle Teilen von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken schon lange selbstverständlich. Bereits 2014 haben wir eine Kooperation mit der Yale University geschlossen, die Wissenschaftlern aus der ganzen Welt im Rahmen des YODA-Projekts (Yale Open Data Access-Project) strukturierten Zugang zu Daten aus unseren klinischen Studien ermöglicht. Der Schutz sensibler Patientendaten hat dabei natürlich höchste Priorität.
Bug: Forschende Pharmaunternehmen beschäftigen hierzulande gut 18.000 hervorragend ausgebildete Forscher und Entwickler. Zusammen investieren wir rund sieben Milliarden Euro pro Jahr in die Suche nach neuen Wirkstoffen. Das sind etwa 30 Millionen Euro pro Arbeitstag. Allein 2019 haben die in Deutschland ansässigen Hersteller 25 neue Medikamente auf den Markt gebracht, darunter zehn zur Behandlung von Krebserkrankungen. Vor diesem Hintergrund ist für mich nicht nachvollziehbar, warum wir bisher keinen Weg gefunden haben, dass auch forschende Pharmafirmen die Daten aus der Versorgungsrealität zur Erforschung von Arzneimitteln nutzen dürfen. Andere Länder lösen das besser und schaffen dadurch deutlich forschungsfreundlichere Rahmenbedingungen.

Wer macht es denn zum Beispiel besser?
Brakmann: Estland mit seinen gerade einmal 1,3 Millionen Einwohnern ist absolut top in Sachen Digital Health: E-Rezept und elektronische Patientenakten sind dort schon seit rund zehn Jahren gesetzlich vorgesehen, Videosprechstunden und Ferndiagnosen seit etwa acht Jahren fester Bestandteil der ambulanten Versorgung. In Estland kann jeder Bürger seine persönlichen Gesundheitsdaten über ein webbasiertes Gesundheitsinformationsportal einsehen, sich über Krankheiten informieren oder Termine bei niedergelassenen Ärzten online buchen. Die Weitergabe von Patientendaten ist rechtlich über ein Opt-out geregelt. Der Patient ist Eigentümer seiner Daten und entscheidet, welcher Arzt welche Inhalte seiner elektronischen Patientenakte einsehen darf. Auch die sekundäre Nutzung von Gesundheitsdaten für wissenschaftliche Untersuchungen oder Statistiken ist erlaubt. Wenn Sie mich fragen: Die Konsequenz, mit der Estland die Digitalisierung seines Gesundheitswesens im Sinne der Patienten – und mit ihnen – angeht, hat für mich Vorbildcharakter.
Bug: Ich wage die These, dass die Aufgeschlossenheit in Sachen Digitalisierung auch hierzulande wächst. Schauen Sie nicht zuletzt auf die erfreuliche Akzeptanz der Corona-Warn-App. Aus Gesprächen mit Ärzten und Patienten wissen wir, dass Patienten sehr wohl bereit wären, ihre Daten für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Natürlich muss es transparente Regeln für die Beschaffung, den Zugang und die Nutzung der Patientendaten geben, die für alle Forschungseinrichtungen gleichermaßen gelten. Diese Regeln gemeinsam mit den künftigen Datenspendern aufzustellen, sollte jedoch möglich sein.

Was würden Sie sich in der besten aller Welten von den verantwortlichen Entscheidern in der Politik wünschen?
Brakmann: Ich würde mir wünschen, dass wir die Chance der deutschen EU-Ratspräsidentschaft nutzen und konsequent europäisch denken. Genau jetzt haben wir die Möglichkeit, gemeinsam einen
europäischen Datenraum zu schaffen, der es ermöglicht, anonymisierte Patientendaten unter Einhaltung aller Sicherheitsvorkehrungen allen forschenden Einrichtungen und Institutionen gleichermaßen zu Forschungszwecken zugänglich zu machen – zum Nutzen der Patienten von heute und der Betroffenen von morgen. Mein Wunsch an die Entscheider in der Politik: Lasst uns diese einmalige Chance bestmöglich nutzen!
Bug: Haben wir einen zweiten Wunsch frei? Dann ergänze ich den Wunsch einer noch konsequenteren Förderung des Forschungs- und Produktionsstandortes Deutschland. Mehr innovative Therapien made in Germany – das wäre mein Wunsch an die Politik.

Frau Dr. Brakmann, Herr Dr. Bug, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Zitationshinweis:
Brakmann, D., Bug, C., Stegmaier, P.: „Innovative Wege zu transformativen Therapien“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (05/20), S. 20-24; doi: http://doi.org/10.24945/MVF.05.20.1866-0533.2247

 

Disease Interception – eine faszinierende Vorstellung

Krankheiten erkennen und verhindern, noch bevor sie sich in Symptomen manifestieren – das ist die Idee hinter Disease Interception. Was auf den ersten Blick noch sehr nach Zukunftsmusik klingt, ist Gegenstand konkreter Forschungsvorhaben bei Janssen, der Pharmasparte von Johnson & Johnson. Ausgangspunkt des Ansatzes ist, dass krankmachende Prozesse im Körper mithilfe diagnostischer Biomarker festgestellt werden können, lange bevor sich klinische Symptome zeigen. Biomarker spielen deshalb eine zentrale Rolle im Konzept von Disease Interception. Die Zeitspanne zwischen ihrem Auftreten und der Manifestation der Erkrankung wird als „Interception Window“ bezeichnet. Innerhalb dieses Zeitfensters soll der Mechanismus, der der Krankheit zugrunde liegt, durch eine gezielte medikamentöse Intervention abgefangen, das heißt verzögert, gestoppt oder umgekehrt werden.
Besonders vielversprechend ist Disease Interception bei progressiven Erkrankungen, die nach heutigem Stand als unheilbar oder nur schwer therapierbar gelten. Dazu gehören verschiedene Krebsformen oder die Alzheimer-Demenz.
Wie Disease Interception funktionieren könnte, zeigt eine aktuelle Studie* zum Multiplen Myelom, einer Krebserkrankung des Blutes. Über das Multiple Myelom ist bekannt, dass es als Smoldering Myelom viele Jahre im Körper schwelt, bevor die Erkrankung schließlich im Vollbild auftritt. Janssen untersucht, inwiefern die zeitlich begrenzte Gabe eines monoklonalen Antikörpers diese Hochrisikokonstellation beseitigen und das Blutbild normalisieren kann. Damit würde sich die bisherige Behandlungsleitlinie, die sich unter „Watch and Wait“ zusammenfassen lässt, hin zu einer deutlich früheren Intervention verschieben.
Das Multiple Myelom ist nur ein Beispiel. Es macht jedoch deutlich, dass Disease Interception das bisherige System von Diagnostik und Therapie signifikant verändern könnte. Denn der Ansatz bedeutet einen Paradigmenwechsel für Betroffene, ihre Angehörigen, Ärzte – ja, das Gesundheitssystem insgesamt.
Disease Interception wirft Fragen auf, die weit über die Medizin hinausgehen, darunter rechtliche, ethische und gesellschaftspolitische. 2018 hat Janssen Deutschland den öffentlichen Diskurs über die Implikationen der Disease Interception angestoßen. Beteiligt wurden unter anderem Vertreter aus Patientenorganisationen, Politik, Krankenkassen, Medizin und Wissenschaft.
Ein Ergebnis dieses Prozesses: Ein Fachbuch, das die wichtigsten Aspekte bündelt und das Thema aus verschiedenen fachlichen Blickwinkeln beleuchtet. Es ist erschienen in der Schriftenreihe Monitor Versorgungsforschung unter dem Titel „Disease Interception – Implikationen einer frühen Diagnose und Krankheitsunterbrechung für Medizin und Gesellschaft“. Die Veröffentlichung der Aufsatzsammlung wurde von Janssen Deutschland unterstützt.

Ausgabe 05 / 2020

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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