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„Versorgungsforschung braucht Grundlagenwissenschaft“

17.01.2020 14:00
Holger Pfaff ist ein, wenn nicht das Urgestein der deutschen Versorgungsforschung. Von Hause aus an der Universität Konstanz studierter Verwaltungswissenschaftler, machte er 1989 seinen Doktor mit summa cum laude und habilitierte 1995 am Institut für Soziologie an der TU Berlin. Seit 2009 lehrt und forscht er als Universitätsprofessor im Fach „Qualitätsentwicklung und Evaluation in der Rehabilitation“ an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und ist seit dieser Zeit ebenso Direktor des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR). Prof. Dr. phil. Holger Pfaff ist damit wie so viele derjenigen, die das Fach Versorgungsforschung in Deutschland geprägt haben und nach wie vor prägen und lehren, ein Quereinsteiger. Indes aus einer Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Wissenschaftsrichtung, die eng mit dem Verständnis und den Inhalten und auch der Zukunft der noch recht jungen Versorgungsforschung verbunden ist, wie er auf dem 1. Charite-Versorgungsforschungskongress in Berlin in seiner Keynote Lecture ausführte.

http://doi.org/10.24945/MVF.01.20.1866-0533.2199

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>> „Versorgungsforschung ist multiprofessionell, braucht aber die Grundlagenwissenschaft.“ Mit dieser kurzen Kernforderung und durchaus auch Takehome-Message begann Pfaff seinen Vortrag, der den „Beitrag der Soziologie zur Implementierungs- und Versorgungsforschung“ beleuchtete. Belastbare Grundlagen seien besonders in der heutigen Zeit wichtig, in der laut Pfaff „ein Niedergang der Disziplinen“ zu beobachten sei. Er nennt die neu aufkommenden Disziplinen „X plus Forschungsfächer“, weil beispielsweise mit der Kombination von Arbeitsforschung plus Versorgungsforschung verschiedene Disziplinen zusammenkommen würden, um ein ganz praktisches Problem zu lösen und neue Lösungen anzubieten. Dazu käme dann noch die Public-Health- und die meist davon getrennte Medizin-Perspektive, unter deren langen Trennung man noch heute leide. Grund dafür sind laut Pfaff nur in einer Gesamtperspektive zu verstehende komplexe Kontexte mit all ihren interdependären Strukturen, Prozessen und Outcomes in der Alltagsversorgung. Derartige komplexe Interventionen seien besonders bei Projekten des Innovationsfonds, aber auch bei denen des BMBF zu beobachten, die sich den tröstlichen Worten Pfaffs zufolge mit ganz vielen Problemen konfrontiert sehen würden, bei denen die Soziologie „zumindest zeigen kann, dass es völlig normal ist, dass es diese Probleme gibt“.
Bei vielen dieser Projekte gehe es darum, Ärzte und Pflegekräfte zusammenzubringen und die durch sie zu erbringende Versorgung zu organisieren. Gleiches gilt nach Pfaff aber auch für Projekte mit dem Einsatz von Technik, wie etwa bei Apps, über die Ärzte mit Patienten vernetzt werden. „Das ist Soziologie“, erklärt Pfaff. Vernetzung und Koordination seien nun einmal Kernthemen der Soziologie mit Fragen zu „Wie können Leute zusammenarbeiten?“ oder: „Welche Grundvoraussetzungen für Zusammenarbeit gibt es?“ Auch sei die Arzt-Patienten-Interaktion als solche ein klassisches Thema innerhalb der Medizinsoziologie. Und das in der Versorgungsforschung angewandte Throughput-Modell ist zudem laut Pfaff ein systemtheoretisches Modell mit einem Ansatzpunkt in der soziologischen Systemtheorie. Was nichts anders heißen würde, als dass man mit dieser Systemtheorie an die Analyse der Probleme herangehen kann, was als wichtiger Beitrag der Soziologie innerhalb der Versorgungsforschung zu begreifen sei. Zu nennen ist laut Pfaff hier aber auch der Kontext, innerhalb dessen jedwede medizinische Gesundheitsleistung erbracht werde. „Der Kontext ist praktisch das soziale Pendant“, sagt Pfaff. Nur die Methoden der Soziologie wären in der Lage, die Rolle des Kontexts als Teil der Kernleistung in Bezug auf die zu erwartenden Outcomes zu erforschen. Dazu gehören für ihn auch die Fragestellungen, wie eine neue Intervention von Ärzten im Krankenhaus oder von Hausärzten aufgenommen wird und warum es Widerstände gegen damit womöglich einhergehenden Wandel gibt. Aber auch Themen rund um die Implementierung von Leitlinien oder Zugangsthematiken. Auch hätten viele Mediziner die Vorstellung, dass – wenn sie eine tolle Idee einführen wollen – nur auf einen Knopf drücken müssen und schon werde die betreffende Innovation angewandt, was Pfaff als das „praktische Vergessen der Implementierung“ bezeichnet.
Auch wenn eine Innovation in einer klinischen Studie getestet worden sei, gehe es immer darum, diese Innovation in einem sozialen Körper einzubauen. Da jede Gesellschaft aus sozialen Körpern besteht, gebe es wie beim menschlichen Körper Abstoßungsreaktionen, wenn man versucht ein fremdes Organ (oder eine neue Idee) einzupflanzen. Pfaff: „Das sieht man zum Beispiel immer dann, wenn der Patienteneinschluss in Studien nicht so funktioniert, wie sich die Mediziner das vorstellen.“ Das könne man nun als technisches Problem begreifen und angehen, oder eben als eine in der Soziologie gut beschriebene Abstoßungsreaktion – damit ein Teil der Implementationsforschung.

Will man Wellen im See messen?

Der Widerstand gegen Wandel sei eine ganz normale Abstoßungsreaktion des sozialen Körpers, wobei sich eigentlich nur die Frage stelle, wie man damit umgeht. Zuallererst müsse man die Abstoßung einfach einmal akzeptieren, um dann darüber nachzudenken, wie man mit Widerstand umgeht.
Aus Evaluationssicht stelle sich zudem die Frage, wie Widerstand überhaupt zu messen ist und vor allem, zu welchem Zeitpunkt. „Wer eine Abstoßungsreaktion zum Beispiel in Innovationsfonds-Projekten zum Zeitpunkt der ersten Implementierung zu evaluieren versucht, misst den Zustand – im Vergleich gesprochen – genau dann, wenn man „einen Stein in einen See wirft und die durch ihn verursachten Wellen aufzeichnet.“ Das aber interessiere gar nicht wirklich, weil dies lediglich Übergangsphänomene seien. Nicht zu beantworten sei dadurch die einzig wichtige Frage, die da lautet: „Was passiert eigentlich danach?“ Eben dann, wenn sich ein System angepasst hat und die anfänglichen Abstos-sungsreaktionen vorbei sind. Um dies zu erforschen, seien jedoch leider die Laufzeiten der Innovationsfonds-Projekte zu kurz.
Erschwerend hinzu kommt der in der Soziologie ebenfalls recht gebräuchliche Begriff des Tailorings – des Zuschneidens jedweder Intervention. Allerdings eines ungewollten Zuschneidens oder besser Weglassens – im Zweifel vielleicht sogar des einzig wirksamen Elements? „Das wissen wir eben nicht“, antwortet Pfaff sich selbst und setzt noch einen drauf, in dem er sagt. „Es kann durchaus sein, dass aufgrund politischer oder sonstiger Vorgaben am Schluss das wirksame Element ausgebaut wurde.“ Was wiederum die Wirkung einer Innovation verwässert oder gar zunichte macht.
Hinweise darauf kann nach Pfaff die empirisch-theoretische Forschung innerhalb der Soziologie liefern. Zum einen jene der Empirie und Theorie des sozialen Verhaltens sozialer Gebilde (gebildet beispielsweise von Hausarztpraxen und Krankenhäusern) mit all ihren Versorgungsstrukturen und -prozessen. Zum anderen die Medizinsoziologie, wenn es um Teilgebiete geht. Doch alles in allem gehe es darum, als Gesundheitswissenschaftler Verhalten zu beeinflussen. Darum müssten laut Pfaff Versorgungsforscher auch oder sogar vor allem Verhaltenswissenschaftler sein, die sich mit der makro- und mikrosozialen Betrachtungsweise und der Analyse des Verlaufs von Krankheiten und deren Versorgung befassen müssen. Dies wiederum schließe die Analyse von Organisationsstrukturen und Berufsgruppen und deren Beziehungsmustern zwischen professionellen Heilern und Helfern, Kranken und Angehörigen ein, was ein großes Thema der Professions-Soziologie ist.

„Gegenmittel gegen Spezialisierung“

Innerhalb der Soziologie gibt es Pfaffs Ausführungen zufolge wiederum zwei Fachrichtungen, zum einen die Handlungstheorie, zum anderen die Systemtheorie. „Beide sind nützlich, um Dinge zumindest zu verstehen“, sagt Pfaff dazu. Wie weit man die damit gewonnenen Erkenntnisse jedoch konkret anwenden könne, um Probleme zu lösen, wäre allerdings die nächste Frage. Was aber auch darin begründet liegen würde, dass Versorgungsprobleme erstens multidimensional seien, zum zweiten aber auch meist multisystemische.
Was nach Pfaff nicht gleichzusetzen sei mit dem oft verwandten Begriff der Multidisziplinarität, einem der großen Probleme jedweder Versorgung. Genau hier verberge sich das Wesen und auch die Wirkung der Wissenschaftsrichtung der Versorgungsforschung, die man nach Pfaff als „Mittel gegen Spezialisierung“ begreifen kann. Pfaff: „Versorgungsforschung bringt verschieden-ste Wissenschaften wieder zusammen, weil es darum geht, gemeinsam ein Problem zu lösen.“ Dazu müssten alle an der Versorgung beteiligten Akteure und Professionen an einen Tisch und überlegen, wie ein Problem zu lösen ist. Das könnten alleine weder der Notfallmediziner und der Akutmediziner in der Notaufnahme tun, das könne laut Pfaff aber auch keine Krankenkasse alleine machen – auch, weil „alles eben ein soziales Problem ist“.
Die Soziologie, die davon ausgeht, das sich die Welt, in der wir leben, permanent ausdifferenziert, könne jedoch bei dieser Reintegrationsaufgabe helfen und dabei auch noch den Gesamtblick über zum Teil überspezialisierte Disziplinen behalten. Was nicht leicht ist, denn Pfaffs Worten zufolge finden alle komplexe Intervention der Versorgung meist in allen vier Systemen, die in der soziologischen Systemtheorie eine Rolle spielen, statt. Dazu gehört frei nach Niklas Luhmann das medizinische, das technische, das soziale und das psychologische System. „Wenn man Versorgungsprobleme wirklich lösen will, muss man alle vier Systeme verstehen und mit ihnen arbeiten“, übersetzt Pfaff das, was Luhmann schon 1995 mit den vier Grundsystemen Organismus, Technik, Sozial- und psychologisches System formuliert hat. Bei allen vier sozialen Systemen gibt es wiederum Unterstufen: das Interaktionssystem (zum Beispiel die Arzt-Patienten-Interaktion)
und die Organisation (die Arztpraxis oder das Krankenhaus und die Gesellschaft als übergeordnetes soziales System), wobei gelte, dass sowohl das psychische wie das soziale und auch die Organismen sogenannte autopoietische Systeme, also selbstgemachte, selbstreferenzielle Systeme seien. Pfaff: „Das ist wichtig, um nachher erklären zu können, weshalb es oft Probleme gibt, solche Systeme zu steuern“. Wenn sie denn überhaupt steuerbar sind! Denn selbstreferenzielle Systeme lassen sich, wie Pfaff ausführt, ungern steuern. Dies sei jedoch nur „ein Problem für die, die steuern wollen“. Das liegt nach Pfaff daran, dass solche Systeme eben keine technischen Systeme sind und damit auch das Maschinenmodell nicht greift.
Diese Thematik spielt – so Pfaff – praktisch bei fast allen Innovationsfonds-Projekten eine Rolle. Denn hier müssen unterschiedlichste Systeme und Spezialisten zusammenarbeiten, wobei eigentlich nur So-
ziologen wüssten und erklären können, wie solche Systeme funktionieren. Genau aus diesem Grund brauche man eine Grundlagenwissenschaft wie die Soziologie innerhalb der Versorgungsforschung, ohne deren Methoden – davon ist Pfaff fest überzeugt – es keine Versorgungsforschung gäbe. Pfaff: „Die Methoden, denen sich die Versorgungsforschung bedient, basieren auf dem Grundkanon der empirischen Sozialforschung.“ <<

von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier

 

Zitationshinweis:

Stegmaier, P.: „Versorgungsforschung braucht Grundlagenwissenschaft“ (01/20), S. 32-33, doi: 10.24945/MVF.01.20.1866-0533.2199

Ausgabe 01 / 2020

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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