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Pflegepersonaluntergrenzen, das Selbstverständnis der GKV und die Rolle der Versorgungsforschung

06.12.2017 10:20
Deutschland hat ein Pflegeproblem. Was lange Zeit im Stillen des täglichen Ringens der Pflegekräfte um eine irgendwie ausreichende Versorgung ihrer Patienten geblieben ist, erreicht nun die Öffentlichkeit und wird im politischen Prozess prominent aufgegriffen. Objektive Belege für den „Pflegenotstand“1 lieferte beispielsweise die von der EU finanzierte RN4CAST-Studie, die von 2009 bis 2011 durchgeführt wurde: Während in den USA eine Pflegekraft im Krankenhaus im Durchschnitt 5,3 Patienten betreute und in Norwegen für 3,4 bis 8,2 Patienten zuständig war, lag der Betreuungsschlüssel in Deutschland zwischen 7,5 und 19,2. Damit waren die besten Einrichtungen in Deutschland nur wenig besser als die schlechtesten in Norwegen. Deutschland ist damit Schlusslicht unter allen betrachteten Ländern.

doi: 10.24945/MVF.01.18.1866-0533.2064

Abstract

Um dem durch nationale und internationale Studien mittlerweile belegten Pflegenotstand zu begegnen, hat die Bundesregierung im Juni 2017 einen neuen § 137i SGB V geschaffen. Die Logik, in speziellen pflegesensitiven Bereichen Pflegepersonaluntergrenzen zur Abwendung von Patientengefährdung zu erlassen, birgt diverse Risiken der Umgehung. Wichtigste Frage ist, welches Niveau pflegerischer Versorgung durch die Untergrenzen angestrebt wird und ob dadurch der individuelle Bedarf der Patienten gedeckt wird. Es besteht die Gefahr, dass dauerhaft ein Pflegeniveau festgelegt wird, das unterhalb von ausreichend und zweckmäßig liegt und dem Selbstverständnis der GKV nicht gerecht wird. Die Anforderungen an Pflegepersonalausstattung müssen in Abhängigkeit von den Zielen der Patientenversorgung und dem individuellen Patientenbedarf festgelegt werden. Bei der Begleitung des Prozesses der Verbesserung der Pflegepersonalausstattung kommt der Versorgungsforschung eine hohe Verantwortung zu.

Lower limits for nursing staff in hospitals, the self-conception of German statutory health insurance and the importance of health services research
National and international surveys show a great lack of nursing staff in Germany. Therefore the German government established a new legislation in June 2017. It requires to set lower limits for nursing staff in so called nursing sensitive areas, which makes it vulnerable for evasion. The most important question is what level of patient care is intended to secure by these lower limits and whether patients’ needs are met. There is the danger, that a level of care is fixed which is not sufficient and appropriate and violates the standards in the German statutory health insurance. The individual needs of the patients and the goals governing their care must determine the standards for nursing staff. Health service research will be most important during the process of improving the quality of nursing care in Germany.

Keywords
nursing staff, lower limits for staff, nursing standards, health services research, entitlements in statutory health insurance

Dr. rer. pol. Ilona Köster-Steinebach

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Zitationshinweis: Köster-Steinebach, I.: „Pflegepersonaluntergrenzen, das Selbstverständnis der GKV und die Rolle der Versorgungsforschung“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ 01/18, S. 46-50, doi: 10.24945/MVF.0187.1866-0533.2064

PDF - Open Access

Plain-Text:

Pflegepersonaluntergrenzen, das Selbstverständnis der GKV und die Rolle der Versorgungsforschung  - Betrachtungen aus der Patientenperspektive

Deutschland hat ein Pflegeproblem. Was lange Zeit im Stillen des täglichen Ringens der Pflegekräfte um eine irgendwie ausreichende Versorgung ihrer Patienten geblieben ist, erreicht nun die Öffentlichkeit und wird im politischen Prozess prominent aufgegriffen. Objektive Belege für den „Pflegenotstand“1 lieferte beispielsweise die von der EU finanzierte RN4CAST-Studie, die von 2009 bis 2011 durchgeführt wurde: Während in den USA eine Pflegekraft im Krankenhaus im Durchschnitt 5,3 Patienten betreute und in Norwegen für 3,4 bis 8,2 Patienten zuständig war, lag der Betreuungsschlüssel in Deutschland zwischen 7,5 und 19,2. Damit waren die besten Einrichtungen in Deutschland nur wenig besser als die schlechtesten in Norwegen. Deutschland ist damit Schlusslicht unter allen betrachteten Ländern.

>> Problematisch wird dieses Ergebnis, wenn man die Auswirkungen auf Patienten wie Pflegekräfte betrachtet, die die RN4CAST-Studie ebenfalls mit in den Blick genommen hat (Busse 2015): Für jeden Patienten, den eine Pflegekraft pro Schicht mehr zu versorgen hatte, stieg die 30-Tage-Mortalität um 7% an. Zunahmen bei bestimmten Komplikationen wie Harnwegsinfektion oder Pneumonie waren ebenfalls mit einer geringen Zahl und einem geringen Ausbildungsstand des Pflegepersonals verknüpft. Mittels einer Befragung von 1.511 Pflegekräften aus 49 deutschen Krankenhäusern erhob die RN4CAST-Studie, dass 37,3 % mit ihrer Arbeitssituation unzufrieden waren (1999 noch 17 %), 30,1 % unter emotionaler Erschöpfung litten (1999: 15 %) und bereits 14,5 % Symptome eines manifesten Burn-outs aufwiesen.
Bestätigt werden die RN4CAST-Ergebnisse vom Pflegethermometer 2014, das sich speziell der Versorgung von Menschen mit Demenz widmet. Dort wird konstatiert: „Aus Sicht der Stationsleitungen ist innerhalb der Woche lediglich im Frühdienst in etwas mehr als 60 Prozent der Stationen eine Versorgung von Patientinnen und Patienten mit einer Demenz gesichert. Alle anderen schichtbezogenen Bewertungen zur Versorgungssicherheit liegen deutlich unter diesem Wert. (…) Eine besonders kritische Einschätzung findet sich hinsichtlich der nächtlichen Betreuung. Nur auf einer von fünf Stationen wird die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Demenz in der Nacht als sicher eingestuft.“ (Isfort et.al. 2014:8)
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Zuspitzung, dass in deutschen Krankenhäusern ein „Pflegenotstand“ besteht, durchaus auf Fakten zurückzuführen ist, die deutlich machen, dass sowohl Patientensicherheit als auch die Gesundheit des Pflegepersonals unter der Situation leiden. Dringende Abhilfe ist also geboten.
Reaktionen des Gesetzgebers
auf das Pflegeproblem
Schon mit dem Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) hat der Gesetzgeber im November 2015 den Mangel an Pflege im Krankenhaus aufgegriffen, indem ein Pflegestellen-Förderprogramm und ein Pflegezuschlag in Höhe von zusammen 830 Mio. Euro jährlich vorgesehen wurden (BMG 2015). Damals wurde auch eine Expertenkommission eingesetzt, um über das Thema, insbesondere mit Bezug auf die diagnosis related groups (DRG) der Krankenhausvergütung, weiter zu beraten. Als Folge davon wiederum wurde im November 2016 vom Hamburg Center for Health Economics (hche) rund um Prof. Schreyögg ein – nicht unumstrittenes – Gutachten vorgelegt, das sich der Frage widmet, in welchem Zusammenhang sog. pflegesensitive Ergebnisparameter mit Pflegeverhältniszahlen in Deutschland stehen. In diesem Gutachten werden 12 sog. pflegesensitive Ergebnisindikatoren (PSEI) aufgegriffen, darunter Dekubitus, im Krankenhaus erworbene Pneumonie, Sepsis, metabolische Entgleisung oder Harnwegsinfekte, für die in der Vergangenheit im Rahmen von Studien bereits ein Zusammenhang mit der Pflegequalität nachgewiesen wurde (Schreyögg et. al. 2016:6-7). Weiterhin wurde untersucht, in welchen Fachabteilungen diese PSEI mit den aus den Qualitätsberichten der Krankenhäuser abgeleiteten Personalbelastungszahlen korrelierten, um daraus pflegesensitive Bereiche abzuleiten. Und schließlich wurde der Vorschlag gemacht, die Personalausstattung entweder der 10 % (Dezil) oder 25 % (Quartil) schlechtesten Fachabteilungen auf das Niveau anzuheben, das dem nächstschlechtesten Dezil bzw. Quartil entspricht, woraus sich für Deutschland ein Personalmehrbedarf zwischen 1.022 bis 6.043 Pflegekräften ergeben hätte (Schreyögg et.al. 2016:36-37).
Deutlich beeinflusst von dem oben dargestellten Schreyögg-Gutachten erfolgte dann binnen sehr kurzer Frist eine Gesetzgebung zu sog. Pflegepersonaluntergrenzen als Anhang zum Gesetz zur Modernisierung der epidemiologischen Überwachung übertragbarer Krankheiten im Juni 2017. Damals wurde der §137i SGB V2 neu geschaffen (BMG 2017). Demnach sollen der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) in bilateralen Verhandlungen bis zum 30.06.2018 für „pflegesensitive Bereiche“ „Pflegepersonaluntergrenzen“ festlegen – beides neue und bisher nicht geklärte Rechtsbegriffe.
Schon im Zuge des Gesetzgebungsprozesses wurden praktische Probleme mit dem Vorgehen der Festlegung von Pflegepersonaluntergrenzen (PPUG) in pflegesensitiven Bereichen (PSB) deutlich und teilweise zumindest aufgegriffen:
• Es muss ein Nachweis der Einhaltung der PPUG erfolgen. Wie dieser ausgestaltet ist, haben die Vertragsparteien auszuarbeiten. (§ 137i Abs. 4)
• Personalverlagerungseffekte aus Bereichen, die nicht als pflegesensitiv ausgewiesen wurden, sind zu vermeiden und auch hierzu ist ein Nachweis zu führen. (§ 137i Abs. 1 Satz 5)
• Um die Durchsetzung der PPUG zu gewährleisten, sind Vergütungsabschläge zu vereinbaren, die bei Nichteinhaltung greifen. (§ 137i Abs. 5)
• Außerdem sind die Ergebnisse des Nachweises zur Einhaltung der PPUG in den Qualitätsberichten der Krankenhäuser zu veröffentlichen. (§ 137i Abs. 4 Satz 4)

Die hohe Priorität, die der tatsächlichen Umsetzung des Gedankens der PPUG beigemessen wurde, lässt sich auch daran ablesen, dass das Bundesgesundheitsministerium (BMG) in die tatsächlichen Beratungen fortlaufend eingebunden ist (§ 137i Abs. 2) und dass bereits an verschiedenen Stellen Schiedslösungen etabliert sind, die zum Tragen kommen, sollten sich die Vereinbarungspartner in diesem (erwartbar intensiv umstrittenen) Aufgabenfeld in der sehr knapp bemessenen Frist nicht einigen. Die wichtigste Auffangregelung ist aber, dass das BMG bereits jetzt zur kompletten Festlegung der PPUG berechtigt und aufgefordert ist, kommen Vereinbarungen der Vertragspartner nicht zustande (§ 137 Abs. 3).
Trotz der Vorkehrungen, die bereits im Gesetz gegen die Nicht-umsetzung oder Umgehung der PPUG angelegt sind, gab es schon bei der Verabschiedung kritische Stimmen bezüglich der Frage, ob die Vorgehensweise, bei aller guten Absicht des Gesetzgebers, geeignet ist, tatsächliche Verbesserungen in Bezug auf den Pflegenotstand zu erzielen. Wichtige Fragen waren in diesem Zusammenhang beispielswiese (vzbv 2017):
• In Ermangelung von konkreter Evidenz, ab welcher Personalausstattung Patientengefährdung relevant zunimmt, wurde erwartet, dass die ausgehandelte Höhe zu niedrig für eine angemessene Patientenversorgung ausfallen würde und sich zudem nur auf sehr wenige PSB beziehen würde, so dass viele Patienten keine Verbesserungen zu erwarten hätten.
• Da keine Anreize bestehen bzw. gesetzt werden, Personalausstattung oberhalb der PPUG vorzuhalten, wurde eine Sogwirkung erwartet, die dazu führt, dass Krankenhäuser mit initialer Personalausstattung oberhalb der Untergrenze weiter Personal abbauen. Diese dürfte durch die Logik des DRG-Systems verstärkt werden, das nicht mit dem Pflegebedarf der zu versorgenden Patienten (Soll), sondern mit den Kosten der Ist-Ausstattung an Pflegepersonal kalkuliert und darüber hinaus von einem inhärenten Kellertreppeneffekt bei Personalkosten geprägt ist.
• Die Vorgaben zur Verhinderung von Umgehung der PPUG und zur (nominellen oder tatsächlichen) Verlagerung von Personal aus anderen Bereichen wurden als unzureichend angesehen. Beispielsweise können Aufgaben des Funktionsdienstes, des therapeutischen oder hauswirtschaftlichen Personals auf Pflegekräfte umgeschichtet werden. Eine andere Möglichkeit ist die Umbenennung von Stationen bzw. die Verlegung von eigentlich zu erfassenden Patienten auf andere, nicht erfasste Stationen.

Diese und andere Kritikpunkte sind nach wie vor nicht entkräftet. Insbesondere zu der Befürchtung der Sogwirkung der PPUG auf die Höhe der Personalausstattung sind auch keine irgendwie gearteten Gegenmaßnahmen im Gesetz enthalten, so dass davon auszugehen ist, dass diese eintreten wird. Umso mehr kommt es auf die Höhe der PPUG an wie auch auf die Nachweisverfahren. Ob die Verhandlungspartner DKG und GKV-SV hier zu sachgerechten Lösungen finden, sollte nach Abschluss der Verhandlungen äußerst kritisch geprüft werden und stellt für die Versorgungsforschung eine große Herausforderung und Aufgabe für die Zukunft dar. Bereits jetzt sollten Vorbereitungen für entsprechende Erhebungen getroffen werden, da es in vielen Fällen auf eine tragfähige und aussagekräftige Nullpunktmessung ankommen wird. Diese Herausforderung ist umso brisanter, weil die einzige öffentlich zugängliche Datenquelle zur Personalausstattung in Krankenhäusern, die Qualitätsberichte, bereits im Zusammenhang mit dem oben aufgeführten Schreyögg-Gutachten als nicht zuverlässig identifiziert wurde (Simon 2017:7).
Vereinbarkeit von Pflegepersonaluntergrenzen mit dem Leistungsversprechen der GKV
Bei allen Hoffnungen und Kritik, die sich im Umfeld des Gesetzgebungsprozesses an die PPUG gerichtet haben, blieb doch eine Problemlage unbeachtet, die im Folgenden kurz ausgeführt werden soll. Letztlich geht es dabei um das Niveau der Patientenversorgung, das von der Pflege erreicht werden soll. Dazu sollen zunächst die Funktionen und Ziele von Pflege aus Patientensicht in den Blick genommen werden. Für die Zwecke vereinfachter Kommunikation soll dazu ein Modell mit vier Stufen etabliert werden (Abb. 1). In der Realität gehen diese Stufen selbstverständlich ineinander über, und auch einzelne Elemente wie z.B. Ernährung oder Körperhygiene können z.T. unter ganz verschiedenen Pflegezielen subsumiert werden. Davon unabhängig erleichtert die Systematik die weitere Analyse beträchtlich.
Alle in Abb. 1 genannten Ziele lassen sich direkt aus Grundbedürfnissen und -rechten ableiten, die sogar im Grundgesetz ihre Verankerung fanden: das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG) und die Würde des Menschen (Art. 1 GG). Ebenso finden sie ihr Gegenstück in §1 des Fünften Sozialgesetzbuches: „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Das umfasst auch die Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der Versicherten.“ Damit korrespondiert im Grunde auch das Wirtschaftlichkeitsgebot in §12: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; (…)“ Gerade die Formulierung im § 1 SGB V kann man unmittelbar in die Stufen der Pflegeziele aus Abb. 1 übersetzen: Bei den ersten beiden Stufen geht es darum, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, indem vermeidbarer Schaden von ihnen abgewendet wird. Die nächste Stufe 3 steht unter der Überschrift, die Gesundheit wiederherzustellen bzw. zu verbessern und die Stufe 4 schließlich ist die Voraussetzung dafür, dass Versicherte Eigenkompetenzen entwickeln, um selbst Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen zu können. Daraus lässt sich ableiten, dass die Pflegeausstattung die Erreichung aller dieser Ziele gewährleisten muss, will sie bedarfsgerecht und konform mit dem im SGB V
niedergelegten Leistungsanspruch sein.
Vor dem Hintergrund des noch einmal dargelegten individuellen Leistungsanspruchs lohnt ein vertiefter Blick in die Logik des neuen § 137i. Diese basiert, wie oben dargelegt, auf der Vorstellung, dass im Krankenhaus PSB identifiziert werden, „für die ein Zusammenhang zwischen der Zahl der Pflegerinnen und Pfleger und dem Vorkommen pflegesensitiver Ergebnisindikatoren, sogenannter unerwünschter Ereignisse evident ist.“ (Auszug aus der offiziellen Gesetzesbegründung zum § 137i) Daraus wiederum lässt sich die Zielsetzung ableiten, dass PPUG so festgelegt werden sollen, dass Patientengefährdung auszuschließen ist. Eine Personalausstattung, die aber lediglich auf die Patientensicherheit abstellt, würde nur ein Pflegeniveau auf der Stufe 2 des oben entworfenen Modells bedeuten, wäre also deutlich unterhalb des Leistungsanspruchs angesiedelt, der sich aus den Paragraphen 1 und 12 SGB V ergibt. Geht man weiter davon aus, dass die PPUG eine Sogwirkung dahingehend entfalten werden, dass initial besser ausgestattete Krankenhäuser und Stationen an die PPUG angepasst werden, dann hätten die PPUG zur Folge, dass dauerhaft ein Pflegeniveau eingeführt würde, das deutlich unterhalb von „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ bzw. § 1 SGB V anzusiedeln ist. Aus Patientensicht zentrale Anliegen an die Versorgung im Krankenhaus, dass diese nämlich geeignet ist, um Heilung und den Aufbau von Eigenkompetenz im Umgang mit der Erkrankung bei sich selbst oder den betreuenden Personen zu fördern, würden dauerhaft aufgegeben.
Anforderungen an die Ausgestaltung von
Pflegepersonaluntergrenzen aus Patientensicht
Aus dem in Abb. 1 vorgestellten Denkmodell und dem individuellen Leistungsanspruch der Versicherten im SGB V ergeben sich zwei zentrale Anforderungen an eine Ausgestaltung von Pflegepersonaluntergrenzen, die dem Leistungsversprechen der gesetzlichen Krankenversicherung gerecht werden und die kurz angerissen werden sollen.
• Anforderung 1: Jeder Patient im Krankenhaus hat Anspruch darauf, dass sein individueller Pflegebedarf gedeckt wird. Die Vorstellung, dass bestimmte pflegesensitive Bereiche identifiziert und abgegrenzt werden können, ist vor dem Hintergrund des individuellen Leistungsanspruchs nicht haltbar. Beispielsweise ist sachlich nicht nachvollziehbar, wenn hochbetagte und demente Patienten auf einer (von PPUG erfassten) geriatrischen Station anders versorgt werden als auf einer inneren oder allgemeinchirurgischen Station. Folglich sind alle bettenführenden Abteilungen durch PPUG zu erfassen.
• Anforderung 2: Maßgeblich für die Pflegepersonalausstattung ist der tatsächliche Pflegebedarf der zu versorgenden Patienten. Ein wie auch immer gearteter Dezil- oder Quartilansatz, wie im Gutachten von Schreyögg, unternimmt nicht einmal den Versuch, den tatsächlichen Pflegebedarf in die Festlegung von PPUG einzubeziehen, und ist deshalb abzulehnen. Stattdessen ist die kontinuierliche Erhebung des tatsächlichen Pflegebedarfs (z.B. durch eine weiterentwickelte, ausgebaute und digital umgesetzte Pflegepersonalregelung (PPR)) für die Personalbemessung erforderlich.

Es ist ein Verdienst der aktuellen Gesetzgebung rund um die PPUG, dass der Versuch ihrer Umsetzung dazu führt, dass die Problembeschreibung rund um den „Pflegenotstand“ und insbesondere die erforderlichen Maßnahmen zur Behebung besser ausgeleuchtet werden als bisher. Die einfache Festlegung von PPUG in einigen wenigen PSB auf dem Niveau der Verhinderung von Patientengefährdung wird dem Problem aber jedenfalls nicht gerecht und steht im Widerspruch mit dem Leistungsversprechen der gesetzlichen Krankenversicherung. Davon unabhängig ist zu konstatieren, dass es angesichts seines Ausmaßes nicht möglich sein wird, den „Pflegenotstand“ kurzfristig und in einem einzigen Schritt zu beheben. Folglich wird es darauf ankommen, die geeigneten Schritte auf diesem Weg zu konzipieren, in Gesetzgebung zu übersetzen, nachhaltig und nachdrücklich umzusetzen und durch Versorgungsforschung umfassend zu begleiten.
Exemplarische Fragen an die Versorgungsforschung
Gerade das Thema der PPUG macht deutlich, dass im Bereich der pflegerischen Versorgung im Krankenhaus viel Versorgungsforschung zu leisten ist, um die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen zu bewältigen. Eine der drängendsten Fragen ist die Erhebung des Status quo, sowohl als Nullpunktmessung für die
Evaluation aller zukünftigen Maßnahmen als auch zur Abschätzung des tatsächlichen Handlungsbedarfs. Allein schon die in diesem Artikel bereits aufgeführten Autoren weichen in der Quantifizierung der fehlenden Pflegestellen um den Faktor 100 voneinander ab: Bei Schreyögg liegt die untere Grenze der zu schaffenden Pflegestellen bei 1.022 (Schreyögg et.al. 2016:36-37), Simon (2017:2) hingegen geht von geschätzten mehr als 100.000 fehlenden Pflegekräften aus. Aus Patientensicht muss sich der Soll-Wert der Personalausstattung dabei am Pflegebedarf der versorgten Patienten orientieren. Genau hier ist dann aber auch eine weitere Aufgabe der Versorgungsforschung zu sehen, nämlich Instrumente zu schaffen, die diesen Bedarf auf allen Arten von Stationen sowohl im Tag- als auch im Nachtdienst hinreichend individualisiert erhebbar (und auf Personalkapazität umrechenbar) machen, ohne den Dokumentationsaufwand bei digitaler Erfassung übermäßig zu erhöhen.
Um ökonomische Anreize kennen und ggf. besser steuern zu können, müsste auch die Abbildung der Pflege im DRG-System genauer untersucht werden:
• Werden die in den DRGs kalkulierten Pflegekosten auch für die Pflege verwendet?
• Sind sie hinreichend, um ein Pflegeniveau zu erreichen, dass dem Patientenbedarf auf allen Stufen gerecht wird?
• Wie groß sind die Unterschiede des Pflegebedarfs innerhalb einzelner DRGs und damit der Anreiz zu Risikoselektion durch die Krankenhäuser?

Große Herausforderungen kommen auf die Versorgungsforschung insbesondere auch dann zu, wenn tatsächlich PPUG nur in einigen wenigen PSB eingeführt werden, da damit eine Vielzahl an Umgehungsmöglichkeiten für Krankenhäuser geschaffen werden. Dies durch kritische Analysen zu begleiten und so ggf. die Grundlage für gesetzgeberische Nachsteuerungen zu bieten, dürfte angesichts der mangelnden Transparenz bezüglich der Personalverteilung innerhalb von Krankenhäusern ein durchaus schwieriges Unterfangen werden.
Eine wesentliche Rolle könnte die Versorgungsforschung aber auch bei der gesellschaftlichen Begründung von Verbesserungen bei der Pflegeausstattung spielen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass eine schlechte Versorgung mit Pflege – zusätzlich zu den negativen Auswirkungen auf die Pflegenden selbst – auf Patientenseite zu höheren volkswirtschaftlichen Kosten führt: Todesfälle, vermeidbare Komplikationen und ihre Behandlungskosten, entfallene Produktivität, Frühverrentung, Pflegebedürftigkeit usw. Diese bezifferbar zu machen, wäre ein wichtiges Argument in einer politischen Debatte, die trotz der eindeutigen Rechtslage immer wieder unter Rechtfertigungsdruck für die Kosten des Gesundheitswesens steht. Ziel muss sein, bei notwendigen Krankenhausbehandlungen auch die bedarfsgerechte Pflege für Patienten zu gewährleisten, was auch in eine Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe münden würde. <<

Ausgabe 01 / 2018

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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