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Prävalenz und Risikofaktoren von Delirdiagnosen in Hausarztpraxen

04.06.2018 10:20
Mit dem Begriff des Delirs wird ein ätiologisch unspezifisches hirnorganisches Syndrom erfasst, das charakterisiert ist durch gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität und des Schlaf-Wach-Rhythmus. Die Dauer und der Schwergrad kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein [Dilling H et al., 2014]. Delirante Syndrome sind eine häufige Komplikation bei der stationären Behandlung älterer Patienten. Während bei ambulant behandelten über 65-jährigen Patienten delirante Syndrome mit einer Prävalenz von 1-2 % selten gefunden wurden (Lange et al., 2013; Davies et al., 2013), gab es teilweise sehr hohe Prävalenzraten von bis zu 70% in Pflegeheimen (zwischen 1,4% und 70,3%) und bis zu 82% in Krankenhäusern (zwischen 7% und 82%) (Inouye et al., 2014, Lange et al., 2013). Die weite Spanne dieser Befunde hängen in erster Linie von den verwendeten diagnostischen Kriterien, dem Alter der Patienten und der Demenzrate ab. Im Allgemeinen ist das Delir mit einer längeren Aufenthaltsdauer, erhöhten Pflegebedürfnissen, einer Zunahme der Heimunterbringungen und letztlich einer erhöhten Mortalitätsrate assoziiert (Inouye et al., 2014; Pendleburry et al., 2015). Es ist bekannt, dass Delire sowohl stationär als auch ambulant oft unentdeckt bleiben (Lange de, et al. 2013, Jenkin et al., 2016). Daher ist die Identifizierung von Risikofaktoren besonders wichtig, um so früh wie möglich präventive Maßnahmen einleiten zu können (z. B., Kratz et al., 2015; Pendlebury et al., 2017). Dies gilt insbesondere für präventive diagnostische Instrumente, wie sie z. B. für das Delir bei Demenz eingeführt wurden (Richardson et al., 2017). Für den ambulanten Versorgungsbereich gibt es jedoch nur geringe Informationen zur Prävalenz und den Risikofaktoren des Delirs (Lixouriotis et al., 2011; Lange et al., 2013). Ziel dieser Studie war es daher, die Prävalenz der dokumentierten Delirdiagnosen in einer großen Stichprobe von Patienten in deutschen Hausarztpraxen zu bestimmen und zu untersuchen, ob Risikofaktoren identifiziert werden können, die das Auftreten eines Delirs wahrscheinlicher machen.

http://doi.org/10.24945/MVF.03.18.1866-0533.2081

Abstract

Ziel dieser Studie war es, die Prävalenz und Risikofaktoren des nicht stoffgebundenen Delirs in deutschen Hausarztpraxen zu identifizieren. Die vorliegende Studie umfasst 2.194 Patienten ab 65 mit Delir und 2.194 Kontrollpatienten ohne Delir aus einer Stichprobe von 6.180.042 Patienten aus 1.262 Hausarztpraxen. Multivariate logistische Regressionsmodelle wurden mit Delir als abhängige Variable und den anderen Erkrankungen als mögliche Prädiktoren ausgestattet.
Es ergab sich eine Fünf-Jahres-Prävalenz von 0,08 % und ein Durchschnitt von 0,7 (SA: 1,5) Patienten pro Praxis und Jahr. Die Studienpopulation bestand zu 43,0 % aus Männern und das Durchschnittsalter betrug 82,2 Jahre (SA=7,1 Jahre). Delir war positiv mit Unterbringung im Pflegeheim, Demenz, Epilepsie, Schlaganfall, Parkinson-Krankheit, Schlafstörungen, Niereninsuffizienz, Frakturen, und der Verordnung von Benzodiazepinen und Antiepileptika assoziiert. Schließlich kam es auch für die Anzahl der verschiedenen Arzneimittelklassen, die im Jahr vor dem Indexdatum verordnet worden waren, zu einer positiven Assoziation mit dem Risiko eines Delirs.
Verglichen mit der stationären Behandlung hatten in der Primärversorgung neuropsychiatrische Risikofaktoren und Polymedikation einen besonders großen Einfluss auf die Delirdiagnostik. Die methodischen Grenzen der Analyse von Daten aus der Routineversorgung müssen berücksichtigt werden. Delir wird in der Primärversorgung nur selten diagnostiziert. Die Risikofaktoren in der Primärversorgung unterscheiden sich von denen in der stationären Versorgung. Die Gründe hierfür müssen weiter untersucht werden.

Prevalence and risk factors for delirium diagnosis in patients in general practices in Germany
The aim of this study is to identify the prevalence and risk factors of documented delirium in general practices in Germany. The study includes 2,194 patients over the age of 65 years with delirium, and 2,194 controls without delirium from a sample of 6,180,042 patients from 1,262 general practices. Multivariate logistic regression models were fitted with delirium as a dependent variable and other disorders and drugs as potential predictors. A five-year-prevalence of 0.08% and an average of 0.7 (SD: 1.5) patients per practice per year were found. Among the study participants, 43.0% were men, and the mean age was 82.2 years (SD = 7.1 years).
Delirium was found to be positively associated with nursing home residence, dementia, epilepsy, stroke, Parkinson‘s disease, sleep disorder, renal insufficiency, fractures, and the prescription of benzodiazepines and antiepileptics.
Finally, the number of different drug classes prescribed within one year prior to the index date was positively associated with a risk of delirium. In primary care, neuropsychiatric risk factors and polymedication were particularly important for the diagnosis of delirium compared to inpatient care. The methodological limitations of the analysis of data from routine care must be considered. Delirium is rarely diagnosed in primary care. Risk factors in primary care differ from those found in inpatient care. The reasons for this need to be further investigated.

Keywords
delirium; older people; prevalence; primary care; risk factors

Dr. med. Dr. phil. Jens Bohlken - Prof. Dr. rer. med. Karel Kostev

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Zitationshinweis: Bohlken, J., Kostev, K.: „Prävalenz und Risikofaktoren von Delirdiagnosen in deutschen Hausarztpraxen“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (03/18), S. 49-53, doi: 10.24945/MVF.03.18.1866-0533.2081

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Prävalenz und Risikofaktoren von Delirdiagnosen in Hausarztpraxen

Mit dem Begriff des Delirs wird ein ätiologisch unspezifisches hirnorganisches Syndrom erfasst, das charakterisiert ist durch gleichzeitig bestehende Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität und des Schlaf-Wach-Rhythmus. Die Dauer und der Schwergrad kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein [Dilling H et al., 2014]. Delirante Syndrome sind eine häufige Komplikation bei der stationären Behandlung älterer Patienten. Während bei ambulant behandelten über 65-jährigen Patienten delirante Syndrome mit einer Prävalenz von 1-2 %  selten gefunden wurden (Lange et al., 2013; Davies et al., 2013), gab es teilweise sehr hohe Prävalenzraten von bis zu 70% in Pflegeheimen (zwischen 1,4% und 70,3%) und bis zu 82% in Krankenhäusern (zwischen 7% und 82%) (Inouye et al., 2014, Lange et al., 2013). Die weite Spanne dieser Befunde hängen in erster Linie von den verwendeten diagnostischen Kriterien, dem Alter der Patienten und der Demenzrate ab. Im Allgemeinen ist das Delir mit einer längeren Aufenthaltsdauer, erhöhten Pflegebedürfnissen, einer Zunahme der Heimunterbringungen und letztlich einer erhöhten Mortalitätsrate assoziiert (Inouye et al., 2014; Pendleburry et al., 2015). Es ist bekannt, dass Delire sowohl stationär als auch ambulant oft unentdeckt bleiben (Lange de, et al. 2013, Jenkin et al., 2016). Daher ist die Identifizierung von Risikofaktoren besonders wichtig, um so früh wie möglich präventive Maßnahmen einleiten zu können (z. B., Kratz et al., 2015; Pendlebury et al., 2017). Dies gilt insbesondere für präventive diagnostische Instrumente, wie sie z. B. für das Delir bei Demenz eingeführt wurden (Richardson et al., 2017). Für den ambulanten Versorgungsbereich gibt es jedoch nur geringe Informationen zur Prävalenz und den Risikofaktoren des Delirs (Lixouriotis et al., 2011; Lange et al., 2013). Ziel dieser Studie war es daher, die Prävalenz der dokumentierten Delirdiagnosen in einer großen Stichprobe von Patienten in deutschen Hausarztpraxen zu bestimmen und zu untersuchen, ob Risikofaktoren identifiziert werden können, die das Auftreten eines Delirs wahrscheinlicher machen.

>> Die vorliegende Studie basiert auf Daten aus der Disease Analyzer-Datenbank (IQVIA). Diese trägt Informationen zu Arzneimittelverordnungen, Diagnosen und grundlegenden medizinischen und demografischen Daten zusammen, die direkt und in anonymisierter Form von den Computersystemen in Arztpraxen geliefert werden (Dombrowski und Kostev, 2017).

Studienpopulation
Die Studienstichprobe umfasste Patienten im Alter ab 65, die zwischen Januar 2012 und Dezember 2016 (Indexdatum) erstmals eine Delirdiagnose (ICD 10: F05) von einem deutschen Hausarzt erhalten hatten. Von 1.261 Hausärzten dokumentierten 851 für mindestens einen Patienten eine solche Diagnose. Patienten mit einer Beobachtungszeit von weniger als 365 Tagen vor dem Indexdatum wurden ausgeschlossen. Nach Anwendung identischer Einschlusskriterien wurden Delirpatienten und Kontrollpatienten ohne Delir einander anhand von Alter, Geschlecht und Arzt (1:1) zugeordnet (Abb. 1).

Variablen
Als demografische Daten wurden Alter, Geschlecht und Art der Unterbringung (zuhause oder im Pflegeheim) erhoben. Die klinischen Daten umfassten die folgenden, innerhalb von 365 Tagen vor dem Indexdatum dokumentierten Diagnosen Hypertonie, Adipositas, Hyperlipidämie, koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Myokardinfarkt, Schlaganfall einschließlich TIA, Diabetes, Niereninsuffizienz, Leberfibrose und -zirrhose, Krebs, oberflächliche Verletzungen, offene Wunden, Frakturen, Depression, Angststörungen, Anpassungsstörungen, Demenz jeglichen Ursprungs, Epilepsie, Parkinson-Krankheit, Schlafstörungen, Hörverlust, Blindheit und Sehbeeinträchtigung, Senilität, Harnwegsinfektionen, Infektionen der oberen und unteren Atemwege, Harninkontinenz und Stuhlinkontinenz.
Außerdem standen die folgenden, innerhalb von 365 Tagen vor dem Indexdatum dokumentierten Arzneimittelklassen für die Analyse zur Verfügung: Antidepressiva ohne Lithium, Neuroleptika, Benzodiazepine, Lithium, Anti-Parkinson-Mittel, Antiepileptika, Analgetika, Kortikosteroide, Diuretika, Betablocker, Kalziumkanalblocker, Antibiotika, Antiarrhythmika, Antihistaminika, Anticholinergika, Antiasthmatika und Muskelrelaxanzien (M03). Darüber hinaus wurde die Gesamtanzahl der innerhalb eines Jahres vor dem Indexdatum verordneten Arzneimittel analysiert.

Statistische Analysen
Für die demografischen und klinischen Variablen wurden beschreibende Analysen erstellt. Für das Alter wurde der Mittelwert ± SA berechnet, während für die anderen Variablen die jeweiligen Anteile ermittelt wurden. Ein logistisches Regressionsmodell wurde verwendet, um die Assoziation zwischen Delir und den verschiedenen Variablen zu berechnen. Die Bonferroni-Korrektur wurde angewendet, um einer Alphafehler-Kumulierung bei multiplen Vergleichen entgegenzuwirken. Bei den 47 Variablen im Regressionsmodell wurden p-Werte <0,001 (berechnet als 0,05/47) als statistisch signifikant angesehen. Die Analysen wurden mit Hilfe von SAS Version 9.3 durchgeführt.
Ergebnisse
Unter den 6.180.042 Patienten, die zwischen Januar 2012 und Dezember 2016 mindestens einmal einen der 1.262 Hausärzte in Deutschland besucht hatten, gab es 4.792 Patienten in 851 Praxen, bei denen eine Delirdiagnose dokumentiert worden war. Dies ergibt eine Fünf-Jahres-Prävalenz von 0,08 % und einen Durchschnitt von  0,7 (SA: 1,5) Patienten pro Praxis und Jahr. Bei 4.444 der 4.792 Patienten lag eine erstmalige Delirdiagnose vor (keine Delirdiagnose vor dem Indexdatum).
Die Patientencharakteristika sind in Tabelle 1 aufgeführt. Die Studie umfasste insgesamt 2.194 Patienten mit Delirdiagnose und einem Beobachtungszeitraum von mindestens 365 Tagen vor dem Indexdatum sowie 2.194 Kontrollpatienten. Das Durchschnittsalter betrug 82.2 Jahre (SA=7,1 Jahre) und 43,0 % der Teilnehmer waren Männer. Circa 24 % der Delirpatienten und 10 % der Kontrollpatienten lebten in Pflegeheimen.
Delir war positiv mit Unterbringung im Pflegeheim (OR=1,69), Demenz (OR=3,45), Epilepsie (OR=2,16), Schlaganfall (OR=1,80), Parkinson-Krankheit (OR=1,78), Schlafstörungen (OR=1,64), Niereninsuffizienz (OR=1,57) und Frakturen (OR=1.56) assoziiert. Delir war außerdem mit der Verordnung von Benzodiazepinen (OR=1,62) und Antiepileptika (OR=1,53) assoziiert. Zu guter Letzt zeigte sich auch eine positive Assoziation zwischen dem Risiko eines Delirs und der Anzahl der verschiedenen Arzneimittelklassen, die im Jahr vor dem Indexdatum verordnet worden waren. Verglichen mit Patienten ohne medikamentöse Behandlung betrug das OR für Delir 1,53 für eine Arzneimittelklasse, 1,83 für zwei Klassen, 1,97 für drei Klassen, 2,22 für vier Klassen und 3,21 für mehr als vier Klassen.
Diskussion
Prävalenz
Die Fünf-Jahres-Prävalenz von dokumentierten Delirdiagnosen in deutschen Hausarztpraxen betrug in der hier vorgestellten Studie 0,08 %. Von besonderer Bedeutung ist, dass in unserer Stichprobe nur 851 der 1.262 Hausärzte (67,4%) überhaupt eine Delirdiagnose dokumentierten. Es ist zu vermuten, dass ein Drittel der Hausärzte mit der Diagnosestellung eines Delirs wenig vertraut waren. Delirante Syndrome sind vermutlich sowohl im stationären als auch im ambulanten Versorgungsbereich unterdiagnostiziert. Das Wissen und die Einstellung von Ärzten hinsichtlich der Diagnose eines Delirs sollte deshalb verbessert werden (Jenkin et al., 2016). Dies gilt insbesondere für die Diagnose eines hypoaktiven Delirs, da hier die Diagnosestellung aufgrund des Fehlens einer sofort ins Auge fallenden Symptomatik besonders schwierig ist (Peritogiannis et al., 2015). Es kann davon ausgegangen werden, dass Delirdiagnosen in deutschen Hausarztpraxen in der Regel nur auf Grundlage der klinischen Symptomatik ohne Verwendung standardisierter Beurteilungsmethoden gestellt wurden (Grover and Kate, 2012; van Velthuijsen et al., 2016). Dies könnte den Unterschied zwischen ambulanter und stationärer Versorgung widerspiegeln, da in der stationären Versorgung zunehmend standardisierte Untersuchungsverfahren im Rahmen der  Delirprävention eingesetzt werden (Kratz et al., 2015; Pendleburry et al., 2017).
Ein weiterer Grund kann sein, dass die Ärzte bei der Delir-Diagnose keinen ICD-10-Code nutzen, der für Delir vorgesehen ist. So ist vorstellbar, dass Delir bei Demenz mit Demenz-Code (z.B. G30) und nicht mit Delir-Code (F05) kodiert wird. Darüber hinaus ist vorstellbar, dass viele, vor allem nicht ICD 10 geschulte Ärzte unter einem Delir (in Anlehnung an das Alkoholdelir) eine produktiv ausgestaltete Symptomatik im Rahmen einer Psychose diagnostizieren und nicht als passagere Verwirrtheit im Rahmen eines Delirs. Dies könnte ebenfalls ein Grund für die Unterschätzung der Häufigkeiten des nicht stoffgebundenen Delirs in Hausarztpraxen sein.

Heimunterbringung
Patienten, die in Heimen lebten, hatten ein höheres Risiko ein Delir zu entwickeln. Im deutschen Gesundheitssystem behandeln niedergelassene Hausärzte sowohl Patienten, die zuhause leben, als auch Patienten, die in einer Einrichtung untergebracht sind. Im Allgemeinen geht die Heimunterbringung mit einer wesentlichen morbiditätsbedingten Beeinträchtigung der Alltagsfähigkeiten einher (Arinzon et al., 2011).

Demenz
In mehreren Übersichtsarbeiten wird Demenz als wesentlicher Risikofaktor für die Delirentwicklung angesehen (Inouye et al., 2014; Oh et al., 2015; Yang et al., 2017). Die Ergebnisse sind mit denen aus unserer Studie gefundenen vergleichbar. Auch in den Risikoanalysen populationsbasierter Studien wurde das Auftreten von kognitiven Störungen und Demenz als wichtiger Risikofaktor für die Delirentstehung identifiziert (Lange et al., 2013).

Andere neuropsychiatrische Störungen
Neben der Demenz weisen auch andere neurologische und psychiatrische Erkrankungen wie Epilepsie, Schlaganfall, Parkinson-Krankheit  und Schlafstörungen ein erhöhtes Risiko für Delir bei von Hausärzten behandelten Patienten auf. Einzelne Studien haben gezeigt, dass Epilepsie (Neije et al., 2014; Woodford et al., 2015), Schlafstörungen (Terzaghi et al., 2014), Parkinson-Krankheit (Vardy et al., 2015) und Schlaganfälle (Shi et al., 2012) mit einem erhöhten Delirrisiko assoziiert sind. Allerdings zeigten mit Ausnahme des Schlaganfalls weder die Übersichtsarbeiten von populationsbasierten Studien (Lange et al., 2013) noch die Übersichtsarbeiten zu stationären Patienten (Achmed et al., 2014; Inouye et al., 2014) Hinweise auf ein erhöhtes Delirrisiko im Zusammenhang mit den vorgenannten Erkrankungen.  
Die verordneten Benzodiazepine und Antiepileptika stellten weitere Risikofaktoren dar. Die verordneten Arzneimittel sind mit den neuropsychiatrischen Diagnosen Schlafstörungen und Epilepsie assoziiert.

Internistische und chirurgische Diagnosen
Neben den neuropsychiatrischen Risikofaktoren wurden in den Bereichen innere Medizin und Chirurgie nur Niereninsuffizienz und Frakturen als Risikofaktoren identifiziert.  Niereninsuffizienz ist ein klinisch bekannter Risikofaktor für Delir. Nach unserem Kenntnisstand wurden hierzu bisher keine umfassenden Risikostudien durchgeführt. Insbesondere Dialysepatienten leiden häufig an einer psychiatrischen Komorbidität. Zu diesen Komorbiditäten zählen Depressionen, Angststörungen, Suizidalität und auch delirante Syndrome (De Sousa, 2008). Möglicherweise wurden die hausärztlich behandelten Patienten mit Niereninsuffizienz zusätzlich von Spezialisten behandelt, die dann z. B. im Rahmen der Dialysebehandlung eine Delirdiagnose stellten, ohne dass der Hausarzt diese Diagnose ebenfalls kodierte. In Bezug auf chirurgische Erkrankungen stimmen unsere Ergebnisse mit den Informationen in Bezug auf die häufig im fortgeschrittenen Alter auftretenden Hüftfrakturen überein. Aktuelle Übersichtsarbeiten zu Hüftfrakturen haben die Bedeutung solcher Frakturen für die Entwicklung eines Delirs gezeigt (Oh et al., 2012; Young et al., 2017). Bei den Patienten in unserer Studie handelt es sich wahrscheinlich um solche, die im Rahmen einer stationären Frakturbehandlung postoperativ nach einem Delir von einem Hausarzt behandelt worden waren, sowie um solche, die vorzeitig mit einem protrahierten Delir aus dem Krankenhaus entlassen worden waren (vgl. Peritogiannis et al., 2015; Pendleburry et al., 2015).

Polymedikation
Schließlich war die Anzahl der verschiedenen Arzneimittelklassen, die innerhalb eines Jahres vor dem Indexdatum verordnet wurden, positiv mit dem Risiko eines Delirs assoziiert. Vergleichbare Ergebnisse wurden für den stationären Bereich berichtet (Ahmed et al., 2014; Inouye et al., 2014). Von besonderem Interesse bezüglich unserer Stichprobe war die Tatsache, dass nur eine höhere Anzahl an verordneten Substanzen mit einem höheren Delirrisiko assoziiert war, nicht aber einzelne, potenziell delir-induzierende und für diese Studie ausgewählte Substanzen, die auch als „Hochrisikoarzneimittel“ bezeichnet werden (Ahmed et al. 2014). Dieses Ergebnis ist wahrscheinlich auf die Stichprobengröße und die Unterschiede zwischen stationären und ambulanten Patienten zurückzuführen. Das erhöhte Risiko bei der Verabreichung von mehr als einem potenziell delirogenen Arzneimittel basiert vermutlich auf einem Summierungseffekt, einem erhöhten pharmakokinetischen oder pharmakodynamischem Interaktionspotenzial oder auf Anwendungsfehlern mit Überdosierung, die im Rahmen einer Multimedikation bei multimorbiden und kognitiv eingeschränkten Patienten auftreten können (Alegiakrishnan and Wiens, 2004; Inouye et al., 2014).

Einschränkungen und Stärken
Diese Studie basiert auf einer Auswertung von Routinedaten, die im Rahmen der Dokumentationspflicht und zur Abrechnung mit den Krankenkassen generiert werden. Im deutschen Gesundheitssystem wird die ICD-10 (Dilling et al., 2014) als Grundlage für eine dahingehende Dokumentation verwendet. Die diagnostische Qualität kann nicht mit den Daten wissenschaftlicher Studien verglichen werden. Informationen darüber, wie Hausärzte ein Delir diagnostizierten, standen nicht zur Verfügung. Es ist anzunehmen, dass Hausärzte die Delirdiagnosen anhand klinischer Symptome stellten, ohne weitere Tests durchzuführen. Eventuell wurde die Diagnose auch jeweils den vom Krankenhaus (Entlassungsbericht) oder von niedergelassenen Fachärzten erstellten Unterlagen (Konsilberichte, Arztbriefe) entnommen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Rate delirspezifischer Testuntersuchungen in Deutschland ähnlich niedrig ist wie Testuntersuchungen in der Demenzdiagnostik  (Eichler et al., 2015). Darüber hinaus gehören spezifische Delirtests (Grover and Kate, 2012) nicht zum Inhalt des Gebührenkataloges, in welchem die Vergütung der ärztlichen Leistungen im ambulanten Bereich geregelt ist.
Eine der Stärken der Studie ist die Größe der ursprünglichen Stichprobe, die mehr als sechs Millionen Patienten und mehr als 1.200 Hausarztpraxen umfasste. Die größte Stichprobe von Patienten (zuhause oder in Einrichtungen lebend), die im Hinblick auf das Auftreten eines Delirs untersucht wurde, umfasste N=10.262 Teilnehmer (Andrew et al., 2006). Die Auswertungen von Versicherungsdaten umfassten etwas mehr als 75.000 Patienten. Diese Daten berücksichtigten jedoch alle Gesundheitsbereiche (Fick et al., 2005).
Schlussfolgerung
Die Diagnosecodierung eines Delirs ist in der hausärztlichen Versorgung ein sehr seltenes Ereignis. Angesichts der geringen Prävalenz und des hohen Anteils an Praxen, die diese Diagnose nicht verwenden, ist zu vermuten, dass ein großer Teil der Ärzte mit der Diagnosestellung eines Delirs nicht vertraut waren. Das Wissen und die Verhaltensroutinen bei der Diagnosestellung benötigen deshalb eine Qualitätsverbesserung.
Verglichen mit der stationären Behandlung waren in deutschen Hausarztpraxen neuropsychiatrische Risikofaktoren, speziell Demenz und die Anzahl der verordneten Hochrisikoarzneimittel, besonders wichtig für die Diagnosestellung eines Delirs. Die Gründe hierfür müssen weiter untersucht werden. Die Frage, ob die Auflistung dieser speziellen Diagnosen und Arzneimittel im Kontext des Schnittstellenmanagements bei Krankenhauseinweisungen durch Hausärzte sinnvoll wäre, um das aufnehmende Krankenhaus über das Delirrisiko in Kenntnis zu setzen, erfordert ebenfalls weitere Untersuchungen. Die methodischen Grenzen der Analyse von Daten aus der Routineversorgung müssen berücksichtigt werden. <<

Ausgabe 03 / 2018

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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