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Häussler: „Lasst uns von der Leine“

04.06.2018 14:00
Podiumsdiskussion des 8. Fachkongresses von „Monitor Versorgungsforschung“. Es dikutierten Prof. Dr. Thomas Wilke, Dr. Michael Happich, Prof. Dr. Dieter Paar, Dr. Ilona Köster-Steinebach, Corinna Schaefer, Prof. Dr. Reinhold Roski, Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Prof. Dr. Bertram Häussler, Prof. Dr. Matthias Schrappe und Prof. Dr. Gerd Antes.

Roski: Ich habe kürzlich gelesen, dass das Land Israel alle Gesundheitsdaten, die dort gespeichert werden, für die internationale Forschung freigeben möchte: Die Regierung verspricht sich davon erhebliche Vorteile, sowohl für die Versorgungslösung selbst, als auch ökonomische Vorteile, verbunden mit der Hoffnung, dass sich Firmen in Israel ansiedeln, die mit diesen Daten arbeiten und dafür auch bezahlen wollen.

Häussler: Das ist ähnlich wie vor rund zehn Jahren in Island, als die genetische Datenbank öffentlich gemacht worden ist. Das hat für Island als auch für die internationale Forschung insgesamt einen Kick gegeben. Bei uns hingegen sehe ich eher eine große Müdigkeit, die sich auch darin ausdrückt, dass im Koalitionsvertrag 271 Mal Digitalisierung steht. Herr Schrappe, Sie haben gerade gesagt, dass die Patientenakte nicht zu einer Integration des Gesundheitssystems führen wird. Vielleicht haben Sie recht, dass wir in zehn Jahren sagen werden, dass das wieder nichts geworden ist. Doch glaube ich das diesmal eigentlich nicht, weil über Google, Amazon und Apple mindestens drei gewaltige Potenziale am Werk sind, die in diesem Umfeld Angebote machen werden, denen man außer rigiden Verboten im schlimmsten Fall nichts entgegenzusetzen hat.

Antes: Ich bin – nicht überraschend – extrem anderer Ansicht. Klar hat es damals in Island einen Kick gegeben. Aber wo ist der Nutzenbeweis dafür? Gerade jetzt, wo die Welt sozusagen neu geordnet wird – auch wenn Facebook gerade im US-Kongress auf die Nase gefallen ist –, brauchen wir einen Nutzenbeweis und vor allen Dingen die Abwägung von Nutzen gegen Risiko, der uns gegenwärtig völlig fehlt. Insbesondere haben wir einen riesigen Interessenkonflikt seitens der Informatik und auch seitens meiner Kollegen. Nebenbei gesagt versagt die Wissenschaft gerade völlig, sich beim Thema „Big Data“ zu positionieren.

Schäfer: Im Zusammenhang mit dem Sammeln vieler Daten kommt es auf die Konzepte an, die diesem Sammeln zugrunde gelegt werden und den Nutzen, den ich mir davon verspreche. Sehr bezeichnend dafür ist die Quantified Self-Szene, in der viele Menschen ihre Daten speichern und hoffen, daraus Erkenntnisse abzuleiten. Wobei diese Erkenntnisse, die man hofft abzuleiten zu können, auf Annahmen basieren, die durch Evidenz nicht gut gestützt sind. Vor allem nicht durch kausale Evidenz. Hier sind wir bei der Frage, in welchem gesellschaftlichen System wir uns bei der Erhebung von Daten bewegen, was im härtesten Falle dazu führen kann, dass damit der Solidargedanke unterhöhlt wird. Erst sammelt man viele Daten, dann weisen wir diesen Kausalitäten zu und erklären irgendwann, dass die Schuld bei einem selbst liegt und man doch dafür solidarisch nicht mehr eintreten kann. Quantified Self ist ein schönes Beispiel dafür, was passieren kann. Das muss man bei der Forderung nach der Beurteilung von Nutzen und Schaden mit bedenken.

Schrappe: Ökonomisch geht es in erster Linie darum, diese Daten handelbar zu machen. Das ist natürlich eines der letzten Felder, in denen Privatheit existiert. Es ist die Frage, ob wir das überhaupt zurückdrehen können. Ich habe die Zahlen ziemlich genau im Kopf: In den USA werden 26 Milliarden Dollar der Gesundheitsausgaben für die Forschung im Gesundheitsbereich ausgegeben, 15 Milliarden – also weit mehr als 60 Prozent – davon für Daten in Informatik, Datenanalyse und Genetik. Die Publikationen dazu sind von 1994 auf 2014 um fast 1.000 Prozent angestiegen, im PubMed ganz allgemein nur um 175 Prozent. Damit erleben wir in der gesamten Wissenschaftsszene eine Ausrichtung in diese Richtung. Das kann man nun gutheißen oder nicht. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass wir eigentlich auch so etwas bräuchten, wenn wir die elektronische Krankenakte einrichten wollen. Ich sage nicht, dass in die Akte keiner etwas eintragen würde, ich sage aber: Wir sind zu blauäugig, wenn wir uns davon so wahnsinnig viel erhoffen. Das Ganze ist nämlich nicht so einfach wie es scheint. Die Engländer haben schon 2004 oder 2005 damit angefangen und ihr Projekt nach eineinhalb Jahren wieder beenden müssen, weil die Leute einfach nicht mitgemacht haben. Darum brauchen wir Forschung auf diesem Gebiet, die die Umfeldbedingungen beobachtet und analysiert, ansonsten werden wir auch mit diesen hoffnungsvollen Ansätzen auf dem Bauch landen.

Ludwig: Herr Schrappe hat in seinem Vortrag erwähnt, dass im Koalitionsvertrag 271 Mal Digitalisierung erwähnt wurde, ich setzte hinzu, das nur 1 Mal der Begriff Arzneimitteltherapiesicherheit vorkommt, und das angesichts der demografischen Entwicklung und der Multimedikation. Seit 15 Jahren reden wir über elektronisch unterstützte Verordnungen, Erkennung von Interaktionen und vernünftige Pharmakotherapie. Dabei stehen heute im Jahr 2018 genau dort, wo wir am Beginn dieser Diskussion auch schon standen. Das hat viele Gründe. Teilweise liegt es natürlich an den Unternehmen, die die Programme liefern sollten, aber nicht geliefert haben. Auch an der Gematik, die mit ihrer elektronischen Gesundheitskarte grandios gescheitert ist. Wenn mir einer vor 15 Jahren gesagt hätte, in 15 Jahren seid ihr so ungefähr dort, wo ihr jetzt seid, wir wären damals wahrscheinlich sehr verzweifelt gewesen. Der andere Punkt ist – und dafür bin ich den Rednern außerordentlich dankbar –, dass keiner den Begriff „personalisierte Medizin“ in den Mund genommen hat. Das ist die erste Veranstaltung, die ich besuche, bei der das passiert ist. Wenn wir uns anschauen, was bei der personalisierten Medizin, gerade in den Bereichen wie in der Onkologie, wo sie eine große Rolle spielt, in dieser Dekade aus diesen vielen Daten, die wir dort inzwischen zu Krankheiten, zu genetischen Veränderungen und zu gewissen Dispositionen bei Patienten erheben können, an konkreter Verbesserung in der Medizin herausgekommen ist, ist das sehr überschaubar. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass wir allein von großen Daten möglicherweise nicht so wahnsinnig profitieren werden. Ich würde mich freuen, wenn ich mich irre.

Paar: Es gab vor Jahren einen Weltkongress für Diabetes, bei dem ein Poster von Patienten präsentiert wurde, die ihre Insulinpumpen über den Sensor selbst programmiert haben. Das ist schon irgendwie ein bisschen peinlich für uns als Industrie, wenn junge Typ-I-Diabetiker beginnen, ihre Geräte selbst zu programmieren. Könnte es nicht einfach sein, dass wir bei all dem Big Data vielleicht ein bisschen optimistischer denken müssen.

Stegmaier: Herr Schrappe, Sie erwähnten in Ihrem Vortrag den Begriff Forschungsagenda. Wen würden Sie denn in der Pflicht sehen, eine Forschungsagenda aufzusetzen? Wäre das unter Umständen der G-BA?

Schrappe: Ich bin nicht der Meinung, dass der G-BA, obgleich er eine zentrale Funktion im Innovationsausschuss wahrnimmt, die richtige Adresse wäre, um eine Forschungsagenda aufzustellen. Ich bin auch nicht unbedingt der Meinung, dass die Regierungsbürokratie die richtige wäre. Richtiger wären Vereinigungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften, die für eine bestimmte Zeit ein Expertengremium auf die Beine stellen könnten, um eine derartige Agenda zu erarbeiten. Ich glaube nicht, dass der Gemeinsame Bundesausschuss dazu in der Lage wäre, weil der alles – was man auch dauernd sieht – nach der jeweiligen Interessenlage filtern würde. Darunter würde das innovative Element, das wir dringend brauchen, leiden.

Antes: Wenn ich einmal eine Utopie formulieren darf? Ich würde die Medizin herauslösen aus dem BMBF, in dem vom Waldsterben bis sonst wohin alles erforscht wird. Medizinforschung gehört ins BMG, womit wir so etwas Ähnliches wie in Großbritannien hätten. Wer Forschung und Versorgung verzahnt, kann damit quasi automatisch auch die Priorisierung vornehmen, zumindest technisch. Aber das ist sicher nichts, was ich noch erleben werde.

Ludwig: Gerne würde ich als Kliniker etwas zur Rolle der Patienten sagen. Bei all unseren Diskussionen und Vorträgen fehlt ein wichtiges ethisches Grundprinzip: Das ist die Patientenautonomie. Genau die wollen wir doch eigentlich erreichen, in der Onkologie ganz besonders. Da muss ich sagen: Auch nach 35 Jahren klinischer Tätigkeit stehen wir damit noch ziemlich weit am Anfang und haben recht wenig erreicht.

Köster-Steinebach:  Grundsätzlich teile ich die Einschätzung von Herrn Schrappe bezüglich der Geeignetheit des G-BA, eine Forschungsagenda zu erarbeiten. Wenn man die komplexe Intervention der Erstellung einer Forschungsagenda in Schritte zerlegt, wäre der erste sicherzustellen, dass wir überhaupt eine Plattform bekommen, die wichtigen Fragen zu artikulieren, zu präsentieren und zu sammeln, um irgendwann einmal überhaupt einen Schritt weiterzukommen. Ich sehe eine solche Möglichkeit derzeit nicht.

Stegmaier: Haben Sie denn den Eindruck, dass im Rahmen der frühen Nutzenbewertung die Patientenvertretung im G-BA bestimmte Dinge ein Stückchen voranbringen kann?

Köster-Steinebach: Ich denke schon, dass es einen Unterschied macht, wenn Patienten mit am Tisch sitzen. Auch wenn wir immer wieder überstimmt werden, weil Anträge im Verhältnis 13:1, 13:0 oder 12:1 abgelehnt werden. Wenn man der Vertretung der Patienteninteressen in die Augen schauen muss, gehen einfach manche Dinge möglicherweise doch nicht mehr so, wie sie ohne sie gegangen sind. Das ist nicht ganz der Effekt, den man sich wünschen würde, aber besser als nichts. Ich war Herrn Schrappe sehr dankbar, dass er einen objektiven Bedarf durch Forschung in unserem System einfordert.

Stegmaier: Herr Happich und Herr Paar: Sie haben wunderbar gezeigt, dass man extrapolieren kann, wenn man es denn will. Aber wird das denn überhaupt anerkannt, wenn man von einer engen Studienpopulation in eine breitere versorgungsnähere Population kommen möchte? Wird das in Deutschland geschätzt oder haben Sie es noch gar nicht versucht?

Happich: So weit sind wir doch noch gar nicht. Wir sind erst einmal generell dabei, die Akzeptanz zu klären. Das war die erste Frage im Rahmen des IMI-Projekts, das ich vorgestellt habe, ob Zulassungs- oder HTA-Behörden diese Herangehensweise als relevant für die Zukunft erachten, und ob das Instrumentarium den entsprechenden Qualitätskriterien genügt. Die Methode an sich hat meiner Meinung nach ein großes Potenzial, das man europäisch betrachten muss. Europa hat vielleicht auch einfach mehr Budget, um ein solches Vorhaben voranzutreiben. Dazu müssen wir es allerdings schaffen, vielleicht ein bisschen aus der isolierten Blickrichtung in Deutschland herauszutreten, dann hätten die Dinge, die wir europäisch realisieren können, vielleicht auch etwas mehr Zug.

Wilke: Ich will ein Schuss mehr direkter sein. Ich würde sagen: Lieber G-BA, macht es doch mal. Fragt einmal ein einreichendes Unternehmen, wie eure Ergebnisse aussehen würden, wenn man Real World-PatientenCharakteristika anwenden würde. Ich verstehe wirklich nicht, warum man das nicht einfach mal macht.

Paar: Und wie gehen wir dann mit dem „blauen Feld“* um, das Sie in ihrem Vortrag gezeigt haben?

Wilke: Deswegen sage ich Patienten- statt Populations-Charakteristika, weil letztere methodisch sicherlich anspruchsvoller sind. Doch im Bereich der Patienten-Charakteristika sind wir methodisch inzwischen sehr sicher. Darum wäre das für mich ein probater Ansatz, einmal zu zeigen, wie ein innovatives Präparat wirkt, wenn Patienten-Charakteristika der realen Welt gelten. Ich sehe keinen Grund, warum man das nicht als
G-BA verlangen könnte.

Stegmaier: Frau Dr. Köster-Steinebach, Sie haben acht Jahre lang als Patientenvertreterin im G-BA viele öffentliche Verhandlungen mitgemacht und auch in geheim tagenden Unterausschüssen mitgewirkt. Hätten Sie als Patientenvertreterin, wenn Sie denn gewusst hätten, dass es so etwas gibt, diese Art von Studien eingefordert?

Köster-Steinebach: Zunächst mal würde ich gerne Herrn Wilke antworten, weil ich weiß, warum so etwas der G-BA nicht macht. Die Antwort ist ganz einfach: Weil es nicht im Gesetz steht. Wenn es im Gesetz stehen würde, würde der G-BA das tun. Weil es aber nicht da drinsteht, hat er Angst, es zu tun. Und auf Ihre Frage, ob ich diesen Ansatz geschätzt hätte: uneingeschränkt!

Stegmaier: Das hätten Sie aber auch selbst mit Ihrem eigenen Budget finanzieren können.

Köster-Steinebach: Durchaus. Doch das ist eine andere Frage. Das aber führt uns zu der Frage, warum Studien nicht näher an den Patienten-Charakteristika dran sind. Wer diese Forderung aufstellt, dass solche Extrapolations-Hochrechnungen gemacht werden, muss das womöglich auf Basis ganz kleiner Fallzahlen tun, die hoch gewichtet werden müssen. Das hat dann wieder mit hohen Unsicherheiten zu tun, die sicherlich auch Effekte auf die Qualität der RCT haben werden. Ganz oft habe ich in Verhandlungen erlebt, dass hinterher gesagt wird, die vorliegenden Studiendaten würden bei der Beantwortung unserer Fragen nicht weiter helfen. Darum plädiere ich für einen stärkeren Erziehungseffekt bei der Gestaltung solcher Studien. Wenn wir schon Gelder dafür einsetzen, sollten diese Studien auch so sein, dass hinterher relevante Fragen damit beantwortet werden können.

Ludwig: Wir haben in den Vorträgen zwei Beispiele aus dem Formenkreis der onkologischen Erkrankung gehört. Vor 20 oder 25 Jahren, als ich die ersten Patienten mit dieser Erkrankung behandelt habe, war das ein einziger großer Populationstopf, der sozusagen alle Patienten mit nichtkleinzelligem Bronchialkarzinom beinhaltete. Heute verändert sich dieser Topf von Jahr zu Jahr, weil immer neue genetische Veränderungen entdeckt werden, die alle eine prognostische Bedeutung haben. Darum müssten wir jedes Jahr all das wieder neu simulieren, was ich – weil sehr kostenintensiv – für fast unmachbar einschätze. Ich würde mir wünschen, dass wir dann eher doch an der Qualität der Studien an sich arbeiten, bevor wir danach zu viel simulieren.

Roski: Es gibt anscheinend keine große Kontroverse zwischen RCT und anderen Methoden. Alles wird hier so vornehm und höflich kombiniert.

Antes: Alles im Bereich der Gesundheitsversorgung ist nun einmal sehr interessendurchsetzt. Dabei würde ich sogar bei der Akademia beginnen, die ich einmal in einem Editorial sinngemäß als „Achse des Bösen“ tituliert habe. Denn alle – von den Ethik-Komissionen bis hin zu den Bundestagsabgeordneten – sind Täter und Opfer zugleich. Die einzigen, die in meinem Editorial gut davon kamen, war die Industrie. Denn die verhält sich als einzige rational und tut das, was sie eigentlich will: Geld verdienen. Alle anderen hingegen haben eine verdeckte Agenda. Doch weil das ganze Thema so komplex ist, haben wir damit so enorme Probleme.

Roski: Können Sie mal ein paar Punkte nennen?

Antes: Nehmen wir zum Beispiel die medizinische Biometrie, bei der gerade ein paar Lehrstühle zusammengefaltet wurden. Nun aber gibt es sogenannte Data Scientists, die großenteils nicht wissen, wie man komplexe Studien auswertet. Und genau die versprechen jetzt über die Auswertung von großen Datenmengen die Zukunft. Als ich zu diesem Thema den ersten Artikel im „Laborjournal“ im Jahr 2015 geschrieben habe, hat mich ein Kollege angesprochen und gesagt: „Du hast im Prinzip nicht ganz unrecht, aber was soll ich jetzt machen? Ich bin genau in dem Zeitfenster, wo ich eine Dauerstelle und ein Lehrstuhl bekomme und habe meine Karriere auf dieses Thema aufgebaut.“ Das ist die Folge der Forschungsförderung auch des BMBF. Wir haben das ganze Schiff in diese Richtung geschoben, und selbst, wenn wir jetzt heraus wollten, würde das nicht schnell gehen.

Schrappe: Genau so läuft das. Das ist auch bei der Versorgungsforschung so. Hier sind Programme aufgelegt worden, mit denen auch Lebensschicksale verbunden sind. Darum muss man auch nicht rot werden, wenn man darüber redet, dass wissenschaftliche Elemente in die Gesetzesbücher hinein kommen. Das steigert die Interpretationshoheit oder die Interpretationsfähigkeit der schnöden Realität durch Vertreter dieser Wissenschaftsrichtungen, sei es jetzt EBM, Versorgungsforschung oder was auch immer. Darum halten dann natürlich auch alle daran fest. Meiner Beobachtung zufolge, können aber Wissenschaftler sehr schlecht mit politischem Einfluss umgehen, weil sie einfach nicht in der Lage sind, die Schwierigkeiten politischer Entscheidungsfindung zu erfühlen. Statt dessen meinen sie, mit ihrem Rat die Dinge so richtig beeinflussen zu können, unterschätzen jedoch die Komplexität der Vorgänge. Doch weil sie an ihrem virtuellen Einfluss festhalten wollen, sind sie in manchen Fällen sogar bereit, bei der wissenschaftlichen Reinheit – sagen wir es einmal so – gewisse Abstriche zu machen.

Häussler: Die Frage war doch, nicht ob, sondern welche Interessen dahinterstecken. Fassen wir uns doch einfach an die eigene Nase und beginnen einmal bei Herrn Antes, der anscheinend Data Scientists quasi für eine Schlange hält, die nach allem greift. Ich frage: „Können denn nur Biometriker mit klinischen Daten umgehen?“ Oder könnte es nicht sein, dass die Akademia nur davon ausgeht, dass alles des Teufels ist, was die anderen machen, weil sie so ihre Themen gegen andere zu verteidigen versucht? Das, indem sie ganz einfach behauptet: „Die anderen sind doch keine Experten.“ Jetzt komme ich zu meiner eigenen Nase und erkläre: „Mein Interesse ist es, all die Datensätze, die zum Beispiel die gesetzliche Krankenversicherung hortet, viel mehr zu nutzen und zwar ohne ständige Beschränkung und Gängelung.“ Meine Forderung: „Einfach mal laufen lassen und sehen, was da rauskommt.“ Und die Fragen gleich dazu: „Warum lässt man uns nicht einfach mal von der Kette?“ „Warum lässt man uns nicht Korrelationen rechnen, bis es raucht.“ Danach können wir uns gegenseitig immer noch fragen, welche Zusammenhänge bestehen und wie diese zu validieren sind. Wir könnten auch Zeitreihen-analysen machen, um noch mehr an die Kausalität heranzukommen. Das sollten wir nicht Ländern wie Israel oder Island oder vor allen nicht den Vereinigten Staaten oder gar China überlassen.

Köster-Steinebach: Wir haben doch eigentlich auch eine Krise der Unabhängigkeit von Wissenschaft. Man weiß doch als sich bewerbendes Institut, dass man, wenn man zu Ergebnissen kommt, die der Auftragnehmer so gar nicht wünscht, sich kein zweites Mal bewerben braucht. Das bedeutet letztlich, dass alle Ergebnisse immer auch interessengeleitet produziert werden. Daher plädiere ich für eine stärkere Trennung zwischen dem Interessenträger und dem Auftraggeber von Evaluationen. Wenn wir das nicht hinbekommen, dann haben wir letztlich eine den Kern von Wissenschaft verfehlende Tätigkeit.

Ludwig: Das, was Sie meinen, ist bei einigen Projekten im Rahmen des Innovationsfonds auch relativ deutlich geworden.

Schäfer: Zuerst einmal zu Herrn Häussler, warum man Sie nicht von der Kette lassen sollte. Das kann ich Ihnen sagen: Aus meiner Sicht, weil wir dann, wenn wir die nächste Leitlinie aktualisieren, zuerst einmal 135.000 systematische Reviews zur Korrelation von Asthma und psychischen Problemen der Mütter in der Schwangerschaft finden. Da müssen wir uns doch fragen, wie handlungsleitend das ist. Wir können sicher überall ganz viele Korrelationen finden, doch müssen danach immer alles aussortieren, was nicht handlungsleitend ist. Natürlich finden Sie dabei auch sehr viele Dinge, die wunderschöne Forschungshypothesen ergeben, und bei denen man dann versuchen kann, weiter zu forschen. Doch geht es letzten Endes darum, Patienten gut zu behandeln. Dafür müssen wir alle Ressourcen, die wir haben, mobilisieren, und zwar nicht irgendwie, sondern intelligent mobilisieren. Das ist ein Problem bei Big Data: Wir haben einfach nicht unbegrenzte Ressourcen, um all diese Daten irgendwie zu bearbeiten, weswegen wir diese Arbeit Maschinen überlassen. Doch unser klinisches und unser wissenschaftliches Denken bleibt dabei möglicherweise auf der Strecke. Darum die Kernfrage all unseres Tuns: Was konkret hilft den Patienten? Doch nicht, wenn ich ihm sage, du hast Asthma, weil deine Mutter in der Schwangerschaft psychische Probleme hatte.  

Häussler: Die Fragestellungen, mit denen man sich da beschäftigt, sind doch keine l‘art pour l‘art-Fragestellungen. Ein Beispiel: Wir glauben heute, dass wir eine Hepatitisepidemie aufgrund des Hepatitisvirus haben. Was aber wäre, wenn der Diabetes hier eine ganz wesentliche Rolle spielen würde? Und was, wenn die Insulinisierung der Bevölkerung eine ganz wesentliche Rolle hätte? Wenn wir das nicht wissen, weil wir es nicht erforschen, laufen Sie doch mit Ihren Bewertungen in die falsche Richtung.

Paar: Wir können nur Geld verdienen mit zugelassenen Arzneimitteln, doch ohne RCT gibt es keine Zulassung.

Ludwig: Das ist nicht ganz richtig, es gibt viele Zulassungen ohne RCT.

Paar: Bei kardiovaskulären Indikationen geht es aber eben nicht ohne RCT. Unsere letzte hat 24 Millionen Euro gekostet. Ich glaube schon, dass uns Real World-Evidencedaten helfen können, bessere Studien zu machen. Das „Von-der-Kette-Lassen“ heißt ja auch, dass man unter Umständen erkennt, dass das, was man vorher dachte, möglicherweise auf einmal hinterfragt wird, weil man sich sagt: „Irgendwie kann das doch alles gar nicht sein!“ Darum würde ich raten, bei dieser Frage den Experten vertrauen, die schon dafür sorgen werden, dass keine Unsinnskorrelationen gerechnet werden.

Hildebrandt: Ich würde gerne eine Perspektivänderung vorschlagen. Was ich fehlerhaft in unserem deutschen System finde, ist, dass es eine Divergenz zwischen dem Interesse an einer Optimierung der Versorgung und einem Gesundheitsnutzen und den eigenen Interessen der jeweiligen Partner gibt. Das Problem dabei ist, dass auch die Krankenkassen kein hundertprozentiges Optimierungsinteresse am Gesundheitsnutzen der Patienten haben. Was sie hingegen haben, ist ein wirtschaftliches Interesse, aus dem Gesundheitsfonds entsprechende Mittel zu bekommen und weniger auszugeben. Das Gleiche gilt für jeden Player in jedem einzelnen Sektor. Für den niedergelassenen Arzt, der sich genau deshalb kontextuell anders verhält, als wir es uns wünschen, weil er anders finanziert wird. Das gilt für das Krankenhaus genauso. Warum also überlegen wir nicht, wie wir neue Organisationsebenen schaffen können, die ein wirtschaftliches Interesse an der Gesundheitsmaximierung generieren? Wenn wir das politisch organisieren könnten, hätten wir auch das Interesse an besseren Studien. <<

Ausgabe 03 / 2018

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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