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Der Schlüssel zur Partizipation

04.06.2018 14:00
„Gemeinsam klug entscheiden“ ist als Import aus Nordamerika eine viel und vieles versprechende Losung, die aufsetzt auf der alten Erkenntnis der Gesundheitswissenschaften wie auch zahlreicher individueller Erfahrungen, dass weniger oft mehr ist. Kluge Entscheidungen zu fördern ist ein unverzichtbares Ziel guter Medizin. Der Weg dahin könnte aber steiniger sein als viele denken.

>> Ich hoffe insofern, Sie nicht zu sehr zu desillusionieren, wenn ich Ihnen meine Kernaussagen gleich zu Beginn vorstelle: „Gemeinsam“ geht – stark simplifiziert – davon aus, dass beide Seiten, Ärztinnen und Ärzte wie Patientinnen und Patienten erstens Screening-, Untersuchungs- und Behandlungsentscheidungen als Konsentierungsthema verstehen und zweitens beide „auf Augenhöhe“ miteinander sprechen können. Die hohe Wertschätzung des Konzeptes „Shared Decision Making“ auf vielen Seiten verspricht vor allem in öffentlichen Debatten schon den Beginn dieser radikal neuen Kultur in der Begegnung zwischen ÄrztInnen und PatientInnen aufzuzeigen.
Für einen derartigen Optimismus ist es freilich viel zu früh. Dies möchte ich auch mittels Rückgriff auf drei eigene Forschungsberichte erläutern.
Ich beginne mit der begründeten Annahme: Ärztliches Denken ist qua gesellschaftlichem Auftrag und jahrhundertelanger Einübung von der Vorstellung geprägt, dass Kranke ärztlichem Rat zu folgen haben. Non-Compliance ist insofern eine stabile Denkfigur im ärztlichen Denken, welches den „Eigensinn“ von PatientInnen nicht als bedeutsam anerkennt. Eigensinn haben wir die aus qualitativer Forschung gewonnene Haltung genannt, die ausdrückt, dass Kranke häufig von der ärztlichen Sicht abweichende Überzeugungen von Krankheitsentstehung, Verlauf und Behandlung haben, die sie respektiert und gewichtet wissen wollen. Bis heute ist das ärztliche Ohr aber dafür kaum auf Empfang gestellt, und damit fehlt weithin die Basis für den sowieso mühsamen Prozess der Verständigung über gemeinsame Behandlungsziele.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf eine Scheinparadoxie aufmerksam machen. In der jüngeren, auf evidenzbasierte Medizin bezugnehmenden Medizin wird der Topos der Compliance mit der Begründung untermauert, dass mit der Verfügbarkeit moderner Medikamente wie Antibiotika oder Antihypertensiva eine spezifische Rechtfertigung dafür bestünde, auf Einhalten ärztlicher Therapieempfehlungen zu bestehen. Lerner hat gezeigt, wie bedeutsam insbesondere die Entwicklung der Tuberkulostatika für die Akzeptanz des Compliancegedankens gewesen ist, stellt diese Behandlung doch zugleich einen wirksamen Schutz der Öffentlichkeit vor einer bis dato dramatischen Infektionskrankheit dar (Lerner 1997).
Auf der anderen Seite finden sich seit Jahrzehnten Studien, welche das Compliancekonzept radikal infrage stellen. So legte 1985 Conrad auf dem Boden von Tiefeninterviews mit Patienten, die an Epilepsie erkrankt waren, nahe, dass „noncompliance“ ganz wesentlich als Ausdruck des Strebens nach Autonomie zu deuten sei (s. auch allgemeiner Conrad 1987). Trostle argumentierte 1988 dann in größerem Kontext, dass „Medical Compliance“ als eine fundamentale Ideologie gedeutet werden muss, die fest von der Notwendigkeit ärztlicher Kontrolle über Patientenverhalten ausgeht und in der industrialisierten Welt in erheblichem Maß von Absatzstrategien der Industrie geprägt worden ist.
Ein hermeneutischer Zugang zu Verhaltensweisen von Patienten hat wiederholt zeigen können, dass ein Abweichen von ärztlichen Empfehlungen im Rahmen des Krankheitsprozesses keineswegs per se irrational ist und erst mit dem Blick auf den Patienten als handelndes Subjekt interpretierbar wird (Hunt et al 1989). Hierdurch ist die weithin erfolglose Suche nach immer neuen Versuchen, Patienten compliant zu machen, bislang aber nicht ernsthaft irritiert worden. Auch neuere, deutlich reflektiertere Konzepte der Adherence oder Concordance bleiben letztlich der Idee verhaftet, Patienten davon überzeugen zu müssen, dass es klare medizinische Vorgaben gibt, die ihnen den größten Nutzen versprechen, so sehr „modernere“ Varianten wie das Adherence- oder Concordance-Konzept auch immer Patientenzentrierung für sich reklamieren (Carter et al. 2005, Cushing und Metcalfe 2007, NCCSDO 2005, Segal 2007, Treharne et al. 2006).
Auch wenn es nach dem richtungsweisenden Artikel von Trostle immer wieder gut begründete Kritik am Compliance-Konzept gab (Thorne 1990, Donovan and Blake 1992, Playle and Keeley), bleibt der Compliance-Diskurs bis heute mächtig.
Wir haben selber an Hand von Interviews mit Patientinnen und Patienten mit rheumatoider Arthritis gezeigt (Stamer, Schmacke, Richter 2013), dass Ärztinnen und Ärzte im Kern nicht verstehen, welche Mühe es für diese Kranken bedeutet, immer wieder Arrangements mit ihrer für sie unverständlich verlaufenden Erkrankung zu treffen und die Logik einer Stufentherapie zu verstehen, die voller brüsker Wechsel sein kann. Solange die Sinnhaftigkeit der Wahrnehmung der eben oft eigensinnigen Perspektive von Kranken keinen Platz in der Entwicklung ärztlicher Grundhaltungen hat, werden Entscheidungen auf Augenhöhe schwierig bleiben.
Zweitens gehe ich von der Einschätzung aus, dass trotz umfänglicher Bemühungen um eine Vermittlung einer angemessenen Gesprächskultur im Medizinstudium und in der Fort- und Weiterbildung die Ärzteschaft von einer souveränen Übernahme der Grundprinzipien professioneller Gesprächsführung und Kommunikation weit entfernt ist. Diese heftige Aussage stütze ich primär auf umfängliche Literatur, aber auch auf eine eigene Studie, in der wir Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachgebiete, von Allgemeinmedizin bis zu HNO, gewinnen konnten, Bilanzierungsgespräche zum Verlauf chronischer Erkrankungen aufzuzeichnen und anschließend die Partner zu ihrer Sicht des Gesprächsverlaufs zu interviewen (Schmacke, Richter, Stamer 2016). Es ging mit anderen Worten nicht um akut zu treffende Entscheidungen. Und die Ärztinnen und Ärzte, die sich dazu bereit erklärt hatten, stellen vermutlich eher eine positive Auswahl dar. Der Blick auf die Konsultationen zeigte, wie sehr der ärztliche Modus dominierte, d.h. konkret: Wie wenig initial ein Gesprächsziel vereinbart wurde, wie rasch Patientinnen und Patienten unterbrochen wurden, wie selten patientenseitige Deutungen aufgegriffen wurden uswusf.
Bemerkenswert dabei erschien uns, dass die Schwächen der Kommunikation auch in diesen in gewisser Weise ja künstlichen Gesprächssituationen ohne Zeitdruck zu konstatieren waren. Der Weg zu „Shared Decision Making“ ist mithin aus vielerlei Gründen steiniger als oft angenommen wird. Ärztinnen und Ärzte fühlen sich verpflichtet, bzw. sind besorgt, ihre Agenda zum Wohle der Patientinnen und Patienten abzuarbeiten, und verlieren – oft möglicherweise gegen ihre ursprüngliche Intention – die Sensibilität dafür, die Anliegen „der anderen Seite“ als genau so bedeutsam zu erachten wie ihre professionelle Sicht auf Diagnostik und Therapie. Dies führt dazu, dass innerhalb der unabweislich asymmetrischen Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten mit ihren Patientinnen und Patienten beide Seiten rascher als gedacht in den traditionellen Rollenmustern verharren.
Das Einüben einer etwa an die nondirektive Gesprächsführung von Rogers (2007/1942) oder die Forschungsergebnisse von Stewart et al. (2003) wie Roter und Hall (1992) angelehnten Konsultation kann – das war eine unserer Schlussfolgerungen – nicht übersprungen werden, wenn Shared Decision Making heute bereits leichthändig zum Programm erhoben wird. Es könnte sich anbieten, künftig das Konsultationsgespräch selber zum Gegenstand von Gesprächstrainings zu machen: eben durch Reflektieren von elementaren Sequenzen, wie wir sie beispielsweise in unserer Studie aufgezeichnet haben.
Dabei scheinen mir zwei Fragen zentral zu sein: Lässt sich tatsächlich für beide Seiten erfahren, dass sich die Anstrengung zu einer patientenzentrierten Gesprächsführung lohnt und tritt gleichzeitig auf Seiten der Ärzteschaft die Sorge in den Hintergrund, dass eine derartige neue Offenheit mit dem Zeitdruck der Sprechstundenmedizin nicht vereinbar sei?
Meine dritte Aussage lautet: Die vermutlich unterschiedlich motivierte, gleichwohl bedeutsame Zuwendung relevanter Teile der Ärzteschaft zu esoterischen Verfahren unterminiert die Voraussetzungen für partizipative Entscheidungsfindungen generell. Wir haben Patientinnen und Patienten, die länger als ein Jahr bei klassischen ärztlichen Homöopathen in Behandlung waren, nach ihrem Weg zur Homöopathie und ihren Erfahrungen mit dem Versorgungssystem generell befragt (Schmacke, Stamer, Müller 2014). Wir landeten mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit nicht zuletzt beim Thema der Bedeutung einer empathischen Grundhaltung in der Arzt/Ärztin-Patient/Patientin-Beziehung. Auch diese interviewten Kranken haben uns gezeigt, dass die vorhandene sozialwissenschaftliche und psychologische Forschung zur Förderung einer gelingenden Kommunikation in der Praxis nicht die Aufnahme gefunden hat, die im öffentlichen Diskurs um eine gute Medizin allerorten für notwendig gehalten wird.
Die Beliebtheit der so genannten Alternativmedizin findet hier eine wichtige Ursache, nicht die einzige freilich. Für unser heutiges Thema erscheint mir nun aber bedeutsam, dass Homöopathen und Osteopathen und andere so genannte Alternativmediziner in einem scheinbaren Widerspruch zu ihrer Beliebtheit von einer außerordentlich paternalistischen Grundhaltung geprägt sind, in der das klassische „doctor knows best“ immer wieder fröhlich Urstände feiert. Homöopathen erproben oft endlos mit ihren Patientinnen und Patienten die Suche nach der ‚richtigen‘ Therapie, eine Suche, bei der die Kranken immer wieder vom Krankheitsgeschehen unberührte neue Informationen über ihr Leben liefern müssen, um am Ende entweder doch aus einer schlichten Homöopathieapotheke bedient zu werden oder auf die obskure Lehre der Herleitung der ‚wirksamen‘ Globuli aus sogennanten Arzneimittelbildern vertrauen zu müssen. Das Anliegen von „chosing wisely“ wird hier im Kern ad absurdum geführt. Hier wird Medizinkultur zerstört. Gefühlt ist dieses Vorgehen für Anhänger von Homöopathie & Co aber besser als die böse Schulmedizin, deren Erfolge nun aber wieder im Sinne „doppelt Nähen“ gern mitgenommen werden.
Was heißt das: Für die Realisierung der außerordentlich verheissungsvollen Philosophie des „Gemeinsam klug entscheiden“ sind eine Reihe grundlegender Fragen vertiefter zu diskutieren, einige wichtige scheinen mir zu sein:
• Wie kann die Sinnhaftigkeit, sozialpolitisch aber auch die Notwendigkeit der systematischen Bewertung von Screening-, Untersuchungs- und Behandlungsverfahren sowohl der Ärzteschaft wie den PatientInnen plausibel gemacht werden?
• Wie kann ein Reden über Nutzen und Risiken der Medizin im medizinischen Alltag denn nun tatsächlich befördert werden? Vor allem dann, wenn es schwer durchschaubare Entscheidungsoptionen gibt?
•  Welche pädagogischen Ansätze sind für den Weg zu einer als notwendig betrachteten Gesundheitsmündigkeit arzt- wie patientenseitig denkbar und ausbaufähig?
• Wo behindern ordinäre ökonomische Interessen den Weg zu Gesprächen auf Augenhöhe?
• Aber auch: Wo sind – entgegen der hier vertretenen skeptischen Grundeinschätzung – Lichtstreifen am Horizont zu sehen? Welche Forschungsansätze sollten dringend weiter gefördert werden?
• Nicht zuletzt: Wie wird aus den Themen „chosing wisely“ und „shared decision making“ ein politisches und öffentliches Thema, das nicht die Verantwortung am Ende doch wieder auf den vermeintlich unmündigen Patienten abschiebt?

Mir liegt nichts daran, die Bedeutung der „chosing wisely“ Kampagne kleinzureden. Dass es aber zu früh ist, hier schon den Schlüssel zur wünschenswerten Beeinflussung von Über-, Unter- und Fehlversorgung zu sehen, mag abschließend aus dem Mund einiger Pionierinnen des Ansatzes authentischer klingen als es mir möglich ist:
„The campaign is akin to a tool that has many recommendations and a physician engagement strategy focused on leveraging professionalism to improve care. Whether there will be widespread use of that tool by delivery systems is still to be seen. Early indicators of implementation of the recommendations are promising but not conclusive”
(Levinson, Born, Wolfson 2018).

Die Förderung und Verankerung der Idee des „weniger kann mehr sein” in der Medizin bedarf systematischer Unterstützung in Kenntnis der geschilderten Barrieren für eine Entwicklung von Kommunikation auf Augenhöhe. Am Ende wird wie immer auch empirisch zu ermitteln sein, ob es wirklich gelungen ist, zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue Kultur des reflektierten Umgangs mit Evidenz und Ressourcen einzuleiten. <<








Autor:
Prof. Dr. med. Norbert Schmacke, Hochschullehrer am Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen (Abteilung 1 Versorgungsforschung), bis Juni 2018 stellvertretendes unparteiisches Mitglied im Gemeinsamen Bundesausschuss, Mitglied des Münsteraner Kreises) hielt diesen Vortrag auf dem Kongress „Praxis Versorgungsforschung“ unter dem Titel „Viel hilft nicht immer viel – Auf dem Weg zur richtigen Versorgung“, einer gemeinsamen Tagung des WINEG und des InGef am 17.05.2018 in Berlin.

Ausgabe 03 / 2018

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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