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Nagel: „Die Erwartungshaltung hat kein Maß“

04.06.2018 14:00
Dies sei der erste deutsche Kongress zur Überversorgung, lobte ein Redner die Veranstalter, das WINEG und die TK auf der einen, das Forschungsinstitut INgef von spectrumK auf der anderen Seite, die in Berlin gemeinsam das Forum „Praxis Versorgungsforschung“ unter dem Titel „Viel hilft nicht immer viel - Auf dem Weg zur richtigen Versorgung“ durchführten. Über die „Patientenautonomie am Lebensende“ (Prof. Dr. mult. Eckhard Nagel, Universität Bayreuth) über Analysen zu „Chemotherapien am Lebensende“ von Prof. Dr. Roland Linder (WINEG) und „Fehlversorgung und deren Auswirkungen auf den Patienten“ von Dr. Jochen Walker (InGef), „Übertherapie am Lebensende“ (Buchautor Dr. Matthias Thöns) und „Therapieziele bei fortgeschrittenem Krebsleiden“ von Dr. Johannes Bruns (Deutsche Krebsgesellschaft e. V.) führte der Bogen zu „Antibiotikaeinsatz in der Primärversorgung“ mit der Frage „Individueller Nutzen vs. kollektiver Schaden?“ von Prof. Dr. Attila Altiner (Universität Rostock), die „Medikamentöse Therapie bei Multimorbidität“, verbunden mit der Frage „Wo endet der Nettonutzen?“ (Prof. Dr. Petra A. Thürmann, Universität Witten/Herdecke) bis zu einem umfassenden Editorial zum Thema „Gemeinsam klug: Arzt-Patienten-Kommunikation als Schlüssel zur Partizipation“ von Prof. Dr. Norbert Schmacke (Universität Bremen), das vollständig ab Seite 39 zu lesen ist.

>> „Das ist vielleicht der Beginn einer langen und wunderbaren Freundschaft“, erklärte Thomas Ballast, stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse, in seiner Begrüßung. Er meinte daher aber die Kasse an sich, nicht den eigentlichen Mitveranstalter, das Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG), dessen Tage gezählt sind. Deren Mitarbeiter, so Ballast, würden auf einzelne Abteilungen umverteilt, auch weil Versorgungsforschung nicht mehr nur an einer  Speerspitze zu sehen sei, sondern die gesamte TK eine Organisation werden solle, die sich mit Versorgungsforschung auseinandersetzt; auch als „Zeichen, dass wir die erfolgreiche Arbeit des WINEG im größeren Rahmen der TK fortsetzen wollen“.
Als Mitveranstalter des Forums ging es Ballast darum, sich einmal die Freiheit der Forschung zu gönnen, rein über den Nutzen zu sprechen, genauer über das Thema, dass „ein Maximum an Medizin nicht automatisch das optimale Resultat zu Tage“ bringen muss. Dem widersprach Keynote-Speaker Prof. Dr. mult. Eckhard Nagel, geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth, nur teilweise. Er sprach über das „Maß der Dinge“ und „sinnhafte medizinische Versorgung im Zeitalter des wissenschaftlichen Fortschritts“, erklärte aber gleich eingangs: „Da kommen wir an der Ökonomie nicht vorbei.“
Wer über das „Maß der Dinge“ sprechen wolle, müsse jedoch zuallererst definieren, was überhaupt sinnhaft ist. Das beginnt nach Meinung des Theologen und Mediziners bei einer ganz grundlegenden Frage, die man oft auf die Medizin übertragen könne: „Was macht den Menschen und was macht den Sinn seines Leben aus?“ Erst wenn diese Frage beantwortet sei, könne man darüber reden, was eine sinnhafte medizinische Versorgung ist, immer davon abhängend, in welcher Position sich ein bestimmter Mensch und in welcher Position sich eine Gesellschaft befände. Darüber hinaus
gebe es eine Reihe von Punkten, die in der Diskussion des Maßes der Dinge eine Rolle spiele. Nagel: „Das ist zuerst die Nutzenfrage, doch so ähnlich wie es mit dem Sinn ist, kann man auch den Nutzen unter verschiedenen Gesichtspunkten sehen.“ Dazu gehöre auch die Erwartungshaltung der Patienten, mit der alle Beteiligten des Gesundheitswesen konfrontiert seien. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist für Nagel, dass dieses wichtige Thema nicht in einer professionellen Diskussion verbleiben dürfe, die ausschließlich in Fachkreisen stattfindet, weil Gesundheit zu den existentiellen Gütern wie Gerechtigkeit und Freiheit gehört. „Gesundheit ist eine Grundvoraussetzung für das gelingende Leben, und insofern nicht nur für das individuelle Leben bedeutend, sondern etwas, was wir als Gesellschaft insgesamt schützen wollen.“
Dennoch müsse man über Zugang, Erwartung und Einschränkungen reden. Denn genau in diesem Spannungsfeld bewege man sich auf der Suche nach dem „Maß der Dinge“, doch – so Nagel: „Die Erwartungshaltung hat kein Maß“. Daher müsse man immer schauen, wie und ob es gelingen kann, „die artikulierte Maßlosigkeit“ – die er nicht kritisiere, sondern hinter der er stehe – in einen handelbaren Kontext zu packen, ohne dass man permanent enttäuscht werde, gerade als ein in seiner Existenz gefährdetes Individuum. Es sei nicht nur eine medizinische, sondern auch eine gesellschaftliche Verpflichtung, all das zu tun, was in Hinblick auf den in existentieller Not befindlichen Patienten sinnvoll ist.
„Da werden Sie sagen, ein schönes Maß der Dinge, wenn es alles heißt“, sagt Nagel, und weiter: „Doch das Wort ,alles‘ grenzt sich ein durch den Begriff ,Sinn‘.“ Schon alleine darum müsse man immer differenzieren, was wirklich helfe. So wäre manchmal nicht aktives Handeln die beste Hilfe, sondern der klassische Begriff des Beistandleistens, der Barmherzigkeit, als Mittelpunkt dessen, was wir anstreben. Übersetzt heiße Barmherzigkeit nichts anderes als trotz allem medizinischen Fortschritts zu gegebener Zeit einmal „nicht unbedingt Handeln zu müssen, sondern eine entsprechende Begleitung und Unterstützung zu leisten“. Dennoch warnt Nagel davor, den medizinischen Fortschritt als Kostentreiber zu sehen, was mit einem über viele Jahre hinweg ziemlich gleichbleibenden Anteil am Brutto-Inlandsprodukt auch nicht der Wahrheit entspreche.
Wenn man sich dem „Maß der Dinge“ und damit der Nutzendebatte nähern wolle, müssen der zugrundeliegende Nutzen auf die Sinnhaftigkeit dessen, was wir tun, hin definiert werden. Dazu müsse man Formeln entwickeln, die EBM und andere Aspekte heranzuziehen. All das sei legitim, denn die Vergleichbarkeit werde durch Rationalität nicht über Emotionalität geschürt. Doch ganz am Ende könne auch nicht alles in einer entsprechenden Formel berücksichtigt werden. Das gelte vor allem für die Präferenzen und die Selbstbestimmung von Patienten, die im Hinblick auf die letztliche Sinnhaftigkeit selbst entscheiden und viele Fragen selbst beantworten müssen: In Hinblick auf das Ertragen von Schmerzen und Isolation. Und im Umgang der existentiellen Krise? Für die behandelnden Ärzte indes kommt laut Nagel am Ende nur ein Begriff zum Tragen: Welche Begründung gibt es dafür, eine konkrete medizinische Handlung durchzuführen? Das sei das einzig wichtige und relevante „Maß aller Dinge für den ärztlichen Behandlungsauftrag“. Kann das Gewinnstreben sein? Darauf antwortet Nagel kategorisch: „Ich bin davon überzeugt, dass wir in diesem Land eine Diskussion dazu brauchen, ob jeder, der ein entsprechendes Angebot im Gesundheitswesen macht, eine Gewinnerwartung entsprechend anderer Dienstleistungsbereiche haben kann, ich beantworte das mit nein.“
Doch soweit sind wir noch lange nicht, wie eine Auswertung von Kassen-Abrechnungsdaten von Patienten zeigten, die wegen eines Tumorleidens stationär behandelt wurden und in der Klinik verstorben sind. Der Fokus, präsentiert von Prof. Dr. Roland Linder, richtet sich auf die letzten beiden Lebenswochen: Bei etwa 6 %
der Betroffenen, also jedem Sechzehnten, wurde noch kurz vor dem Tod eine Chemotherapie neu begonnen. Bei ebenso vielen werde eine Strahlentherapie neu begonnen. Und 4,5 % der Patienten, also jeder zweiundzwanzigste Betroffene, sei mindestens einmal reanimiert worden. „Hochgerechnet auf die Bundesrepublik sind damit schätzungsweise jährlich mehr als 36.000 todkranke Menschen davon betroffen, bei denen innerhalb der letzten 14 Tage ihres Lebens sehr belastende, mit schwerwiegenden Nebenwirkungen und Komplikationen verbundene Therapien neu begonnen werden“, erläuterte Linder, Noch-WINEG und bald Versorgungsforscher der TK. Seinen Worten zufolge zeigten diese Zahlen, dass es ein durchaus relevantes Thema sei, wie Patienten am Lebensende behandelt würden. Linder: „Hinter all den Zahlen stehen Menschen. Ihr Wohl und ihre Wünsche müssen im Mittelpunkt stehen.“
Neben der Versorgung am Lebensende ging es auf dem Symposium auch um den Antibio-tikaeinsatz in der ambulanten Versorgung und hier ganz speziell um die Frage nach dem tatsächlichen Nutzen von Polymedikation für Menschen, die an mehreren Erkrankungen gleichzeitig leiden. Analysen auf Basis anonymisierter Routinedaten der InGef-Forschungsdatenbank, die Dr. Jochen Walker, Geschäftsführer des InGef, vorstellte, zeigten, dass die Anzahl der verschriebenen Wirkstoffe stark mit der Anzahl der Erkrankungen und der Anzahl der behandelnden Ärzte korreliert. „Saisonale Variationen von Antibiotikaverschreibungen sowie der steigende Anteil an Verschreibungen für Reserveantibiotika machen deutlich, dass es auch hier weiteres Verbesserungspotenzial gibt“, erklärte dazu Walker.
Die Frage, wie viel Therapie letztlich dem Wohl des Patienten dient, zog sich als roter Faden durch die gesamte Veranstaltung. „Die maximal mögliche medizinische Versorgung muss nicht in jedem individuellen Fall auch die optimale Versorgung für den Patienten in seiner konkreten Situation sein“, stellte
spectrumK-Geschäftsführer Yves Rawiel in seinem Fazit fest: „Die Entscheidung für oder gegen eine Therapie sollte immer von Arzt und Patient gemeinsam getroffen werden.“ Thomas Ballast ergänzte: „Um Ärzte bei diesen komplexen Entscheidungen zu unterstützen, sind Plattformen für den Austausch zwischen Praxis und Versorgungsforschung – wie das Symposium Praxis Versorgungsforschung – von unschätzbarem Wert.“ <<

 

Zitationshinweis.

Stegmaier, P.: „Nagel: Die Erwartungshaltung hat kein Maß“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ 03/18, S. 38-39, doi: 10.24945/MVF.03.18.1866-0533.2080

Ausgabe 03 / 2018

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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