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Ein Vier-Säulen-Modell der Universitätsmedizin

07.08.2021 09:25
Nach zweijähriger Tätigkeit legt der Wissenschaftsrat – 1957 gegründet als beratende Institution für Bund und Länder in Fragen der inhaltlichen und strukturellen Weiterentwicklung des Hochschulsystems sowie der staatlichen Förderung von Forschungseinrichtungen gegründet – Empfehlungen zur künftigen Rolle der Universitätsmedizin zwischen Wissenschafts- und Gesundheitssystem vor. Er rät, auch in Hinblick auf seine früheren Strukturempfehlungen aus den Jahren 2016, 2018 und 2019 zu einem, über die klassische Aufgabentrias von Forschung, Lehre und Krankenversorgung hinausgehenden Vier-Säulen-Modell der Universitätsmedizin.

http://doi.org/10.24945/MVF.04.21.1866-0533.2329

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>> Die neue, vierte Säule verortert der Wissenschaftsrat im Grenzbereich von Wissenschaft und Versorgung, der zusätzliche Aufgaben „übergeordneten, systemischen Charakters“ umfasse. Dazu zählt der Rat indes nicht den klassischen Versorgungs- und  auch For-
schungsoutput, die sich innerhalb der
Trias Forschung, Lehre und Krankenversorgung ergeben, sondern den wissenschaftlichen Auftrag und die herausgehobene Verantwortung der Universitätsmedizin für die Weiterentwicklung und Verbesserung der Ge-sundheitsversorgung.
„Durch die Wahrnehmung ihrer wissenschaftlichen Aufgaben versetzt sie das Gesundheitssystem in die Lage, nicht nur heute, sondern auch in Zukunft eine evidenzbasierte, qualitativ hochwertige und gleichermaßen effektive wie effiziente Versorgung für Individuum und Bevölkerung
bereitzustellen“, schreibt der Wissenschaftsrat, seit 2020 unter Vorsitz von Prof. Dr. Dorothea Maria Anna Wagner. In Forschung und Lehre leiste die Universitätsmedizin einen „substantiellen Beitrag zur Sicherung der Zukunft der Gesundheitsversorgung und zur Zukunftsfähigkeit des Gesundheitssystems“.
Um diese Aufgabe auch weiterhin erfüllen zu können, werden bessere Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation gefordert. Es sei aus Sicht des Wissenschaftsrats im Sinne des öffentlichen Interesses, wenn die innovationsstarken öffentlich finanzierten Wissenschaftseinrichtungen in die Lage versetzt werden, „gerade solche versorgungsrelevanten Fragestellungen verfolgen zu können, an denen zwar kein kommerzielles Verwertungsinteresse, dafür aber ein gesellschaftliches Interesse besteht“.
Als Ziel formuliert der Rat, die Universitätsmedizin wettbewerbsfähig zu erhalten bzw. sie so zu stärken, dass sie im Innovati-onsgeschehen eine komplementäre Rolle einnehmen könne. Dazu bedürfe es einer nachhaltigen Verbesserung der Rahmenbedingungen für Forschungs- und Innovationsprozesse. Von entscheidender Bedeutung sei es, dass die Universitätsmedizin mehr als bisher in die Lage versetzt werde, Wissenschaftlern „großzügige Freiräume für Forschung und konzeptionelle Arbeit an Innovationen für die Gesundheitsversorgung anbieten zu können, um trotz besser vergüteter Positionen in Unternehmen attraktiv zu bleiben“. Dass die derzeitigen Arbeitsbedingungen in der Universitätsmedizin insbesondere die Gewinnung und Bindung klinisch wissenschaftlich tätiger Ärzte erschweren,  hätten verschiedene Akteure, darunter auch der Wissenschaftsrat, bereits vielfach moniert.  Weitgehend konsentiert sei auch, dass es für eine wirksame Änderung dieser Situation in erster Linie struktureller Reformprozesse in der Universitätsmedizin bedürfe, die vielerorts mit Unterstützung der Politik und Zuwendungsgeber bereits angestoßen wurden. Der Wissenschaftsrat begrüßt diese Fortschritte und bestärkt die Einrichtungen darin, diesen Weg konsequent weiterzuverfolgen.
Als zentrale Handlungsfelder werden folgende Punkte benannt:
• Forschungs- und Innovationsprozesse in
der Universitätsmedizin sollten durch ge-
eignete, fachübergreifende Organisationsstrukturen befördert werden, die Kreativität und unkonventionelles Denken stimulieren und Clinician Scientists verlässliche Freiräume bieten. Der Wissenschaftsrat bekräftigt daher seine Empfehlung zur Einrichtung von Profilbereichen oder vergleichbaren Organisationsstrukturen in der Universitätsmedizin, die auf bestehende Schwerpunkte der klinischen oder versorgungsnahen Forschung aufbauen und diese organisatorisch ausbauen sollten. Auch bei der Förderung von Nachwuchswissenschaftlern während oder nach Abschluss der Facharztweiterbildung (Clinician Scientists, Advanced Clinician Scientists) sollte das Ziel eine dauerhafte Stärkung der Innovationsfähigkeit der Universitätsmedizin sein. Zu diesem Zweck ist die Förderung strukturierter Programme, die ebenfalls auf bestehende Forschungsschwerpunkte aufbauen können, ungleich zielführender als die herkömmliche, projektbasierte Individualförderung, die nicht geeignet ist, nachhaltig strukturwirksame Effekte in der Universitätsmedizin zu entfalten. Der Wissenschaftsrat begrüßt, dass das BMBF mit gezielten Förderinitiativen die nachhaltige Etablierung von strukturierten Programmen für Clinician Scientists und Advanced Clinician Scientists in der Universitätsmedizin unterstützt und damit auch Impulse für eine strukturelle Weiterentwicklung der Einrichtungen setzt. Die Länder sollten die durch diese und andere Förderinitiativen angestoßenen Strukturbildungsprozesse in der Universitätsmedizin unterstützen, indem sie einerseits eigene Programme zur strukturierten Förderung aufsetzen, andererseits aber auch Mittel bzw. Stellen für die Schaffung von Zielpositionen für forschende Ärztinnen und Ärzte in der Universitätsmedizin vorsehen.
• Dringender Handlungsbedarf besteht bei der Einräumung geschützter Forschungszeiten für Clinician Scientists. Der Wissenschaftsrat begrüßt, dass zahlreiche Nachwuchsförderprogramme diesen Bedarf mittlerweile adressieren und entsprechende Maßnahmen einfordern. Er erwartet aber auch von den Universitätsklinika, dem Schutz von Forschungszeiten für klinisch wissenschaftlich tätige Ärzte angemessen hohen Stellenwert gegenüber Versorgungsaufgaben bzw. wirtschaftlichen Erfordernissen der Krankenversorgung zuzumessen. Hierzu sind gleichermaßen verbindliche wie großzügige Regelungen im Rahmen strukturierter Clinician Scientist-Programme zu etablieren.
• Ein weiteres Hemmnis für die klinische Forschung ist die begrenzte und stark uneinheitliche Anerkennung von Forschungsaktivitäten für die Facharztweiterbildung durch die Landesärztekammern. Trotz einzelner Vereinbarungen zur Anerkennung von Forschungszeiten mit Landesärztekammern konnte bisher keine flächendeckende Änderung dieser Praxis, die forschende Ärztinnen und Ärzte nicht zuletzt wirtschaftlich benachteiligt, erreicht werden. Vor diesem Hintergrund hält der Wissenschaftsrat eine bundeseinheitliche Regelung zur Anerkennung von Forschungszeiten für dringend erforderlich. Vorstöße der BÄK zur Standardisierung im Rahmen der Musterweiterbildungsordnung werden begrüßt. Entscheidend ist aber, dass bundeseinheitliche Regelungen zur Anerkennung von Forschungszeiten von den zuständigen Landesärztekammern verbindlich in ihre Weiterbildungsordnungen übernommen werden. Der Wissenschaftsrat fordert die Landesärztekammern auf, sich auf einheitliche Regelungen zu diesem für den wissenschaftlichen Nachwuchs und die Innovationsfähigkeit der deutschen Gesundheitsforschung so wesentlichen Sach-
verhalt zu verständigen. In diesen Prozess müssen aus seiner Sicht auch die Fachgesellschaften und Vertreterinnen bzw. Vertreter der Universitätsmedizin sowie der Gesundheits- und Wissenschaftspolitik (Bund, Länder) einbezogen werden. Kommt auch weiterhin keine Einigung auf Ebene der Landesärztekammern zustande, sollte eine veränderte Zuständigkeit für die Facharztweiterbildung in universitätsmedizinischen Einrichtungen geprüft werden. Da die Weiterbildung kompetenzrechtlich nicht den Bund, sondern die Länder betrifft, die die Zuständigkeit den jeweiligen Landesärztekammern übertragen haben, könnte eine Lösung die Einrichtung einer Landesärztekammer mit länderübergreifender Zuständigkeit sein: Ihr wäre die Verantwortung für die Facharztweiterbildung in Universitätsklinika und die einheitliche Anerkennung von Forschungszeiten zu übertragen.

Zu forschungs- und innovationsförderlichen Arbeitsbedingungen gehört nach Aussage des Rats außerdem ein geregelter Zugang zu Forschungs- und informationstechnologischen Infrastrukturen. Der Wissenschaftsrat empfiehlt den Ländern und der Universitätsmedizin, bei der Einrichtung und Vorhaltung solcher Infrastrukturen künftig vermehrt die Potenziale einer vernetzten Gesundheitsforschung zu nutzen und standortübergreifende Lösungen zu entwickeln. Insbesondere für kostenintensive Infrastrukturen, deren Betrieb dauerhaft geeignetes Fachpersonal erfordert, seien einrichtungsübergreifende Nutzungs- und Betreiberkonzepte, z. B. auf regionaler oder auf Länderebene, sinnvoll. IT-Infrastrukturen für Forschungs- und Versorgungsdaten sollten zudem standardmäßig die Möglichkeit des personalisierten Zugangs für externe Wissenschaftler (Remote Access) anbieten. Zugleich sollten Core-Units für biomedizinische Forschung, professionelle Infrastrukturen für klinische Studien (Clinical Trial Units/CTUs) und Datenbanken als Basisinfrastruktur der medizinischen Forschung und Innovation einem nationalen Benchmarking ausgesetzt sein, um Vergleichbarkeit her- und möglichst einheitliche Qualitätsstandards sicherzustellen. Die universitären oder außeruniversitären Träger der Infrastrukturen sind nach Ansicht des Rats aber auch gefordert, regelmäßige Evaluationen auf Grundlage einheitlicher Parameter durchzuführen und die Ergebnisse dieser Evaluationen innerhalb der deutschen Gesundheitsforschung transparent zugänglich zu machen.
Zur Stärkung der Universitätsmedizin als Innovationstreiber gehört nach Meinung des Wissenschaftsrats außerdem eine Öffnung für Kooperationen mit Partnern außerhalb des Wissenschaftssystems. Die wachsende Komplexität gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen einerseits und die Beschleunigung von Innovationsprozessen andererseits machten es zunehmend erforderlich, dass das Wissenschafts- und Hochschulsystem sich regelmäßig und systematisch mit Akteuren aus anderen gesellschaftlichen Bereichen austauscht und strategische Partnerschaften aufbaut.
Eine wesentliche Bedeutung komme im Bereich der Gesundheitsforschung der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie zu, die für die Translation und das medizinische Innovationsgeschehen aus naheliegenden Gründen eine wichtige Rolle spiele. Der Rat fordert daher, dass sich die Universitätsmedizin, sofern sie ihrer Funktion als Innovationstreiber auch im Bereich der struktur- und systemorientierten Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung gerecht werden will, außerdem für Kooperationen mit innovationsinteressierten Akteuren anderer gesellschaftlicher Bereiche, z. B. kommunalen Partnern, sozialen Einrichtungen oder Nichtregierungsorganisationen  öffnet.
Auch der Aufbau regionaler Versorgungsnetze (vgl. B.III.1) sollte hierzu von Beginn an auf Erfordernisse von Forschung und Innovation abgestimmt werden. Der Wissenschaftsrat empfiehlt ebenso, die regionalen Netzwerke nicht nur für Kooperationen mit anderen Versorgungseinrichtungen zu öffnen, sondern auch für Partner aus der Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen, die beispielsweise im Rahmen von Innovationspartnerschaften oder gemeinsamen Real-Laboren.
Die Realität sieht jedoch anders aus. Betrachtet man die Gesamtheit sowohl der nicht-universitären Krankenhäuser als auch der Universitätsklinika sei laut Wissenschaftsrat seit Jahren ein Rückgang bzw. eine Stagnation der investiven Zuschüsse zu beobachten. Die langjährige investive Unterfinanzierung habe vielerorts zu großen Investitionsstaus geführt. Doch lägen einheitliche und flächendeckende Daten zur Investitionsfinanzierung der Universitätsmedizin nicht vor, da es seit dem Wegfall der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau im Zuge der Föderalismusreform (2006) und dem Rückzug des Bundes aus der gemeinsamen Förderung keine einheitliche Statistik über die Investitionsförderung der Länder mehr gebe.
Zur Einordnung der wirtschaftlichen Situation der Universitätsklinika könnten jedoch die Daten des Dachverbands VUD zur Entwicklung der Jahresergebnisse der Universitätsklinika herangezogen werden. Nach den hier vorliegenden Zahlen beendeten die deutschen Universitätsklinika das Geschäftsjahr 2018 mit einem aggregierten Defizit von insgesamt 71 Mio. Euro, das sich im Jahr 2019 jedoch mehr als vervierfacht habe und 310,5 Mio. Euro (vorläufiges Jahresergebnis 2019) betrug. Das durchschnittliche Jahresergebnis der Universitätsklinika lägen bei -4,4 Mio. Euro im Jahr 2018 und bei -10,8 Mio. Euro im Jahr 2019 (vorläufiges Jahresergebnis). Laut Berechnungen des VUD erwirtschafteten 38 Prozent der Universitätsklinika im Jahr 2018 ein nega-tives Jahresergebnis. Ein positives Ergebnis erzielten 41 Prozent der Universitätsklinika.
Im Jahr 2019 berichteten mehr als die Hälfte aller Universitätsklinika ein negatives Jahresergebnis (57%), nur wenig mehr als ein Drittel (37%) hatte ein positives Ergebnis (vorläufiges Jahresergebnis 2019).
Die parallel zu beobachtende, kontinuierliche und überdurchschnittliche Fall-zahlsteigerung an Universitätsklinika bei gleichzeitiger Zunahme ihres Erlösbudgets aus der Krankenversorgung lege nahe, dass die wirtschaftliche Situation der Universitätsklinika durch weitere Produktivitätssteigerungen bzw. die Realisierung ungenutzter Effizienzpotenziale kaum verbessert werden könne. <<
von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier

Zitationshinweis:
Stegmaier, P.: „Ein Vier-Säulen-Modell der Universitätsmedizin“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/21), S. 30-31. http://doi.org/10.24945/MVF.04.21.1866-0533.2329

Ausgabe 04 / 2021

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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