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Strukturationstheorie

19.05.2022 00:25
Die Strukturationstheorie des britischen Soziologen Anthony Giddens (1984) ist eine Sozialtheorie, die soziale Praktiken, d. h. wiederkehrende Handlungen, ins Zentrum der Betrachtung und Erklärung stellt. Mittels solcher Praktiken werden Strukturen typischerweise reproduziert, während das Handeln wiederum durch Strukturen bedingt, d.h. beschränkt und ermöglicht, ist. Aus Perspektive der Strukturationstheorie wäre die Nutzung von ambulanter vor stationärer Versorgung eine solche Praktik. Durch sie werden die ambulanten Infrastrukturen genutzt und so das Vorhandensein eines starken ambulanten Sektors als Strukturmerkmal des deutschen Gesundheitssystems reproduziert. Und zugleich gilt: Nur wenn die ambulante Infrastruktur vorhanden ist und Akteure wie Patient:innen und Gesundheitsfachkräfte „wissen“, dass man regelhaft ambulante Behandlungen vorzieht, kann entsprechend gehandelt werden. Anliegen der Strukturationstheorie ist es, die Betrachtungsebenen der Handlung und der Struktur stärker als in anderen Ansätzen miteinander zu verbinden und ihre wechselseitige Bedingtheit ernst zu nehmen. Deshalb wird die Theorie in verschiedenen Disziplinen herangezogen, um die Handlungsspielräume von individuellen und kollektiven Akteuren (wie z. B. Organisationen des ambulanten oder stationären Sektors) in regulierten oder institutionalisierten Kontexten mit Blick auf Wandel und Stabilität gleicher Maßen auszuloten (vgl. Wilz 2019, Sydow/Wirth 2014 oder den Hond et al. 2012).

http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2411

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>> Aufbauend auf einer kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen in der Soziologie etablierten Theorieansätzen arbeitete Giddens die Strukturationstheorie aus und präsentiert sie in seinem Werk „The Constitution of Society“ (1984). Im Zentrum der Theorie steht die Annahme, dass soziale Phänomene auf der Ebene sozialer Praktiken – in Zeit und Raum wiederkehrende Handlungsmuster – zu beobachten und analysieren sind. Das heißt, dass die singulären Handlungen individueller oder kollektiver Akteure ebenso wie die Strukturen sozialer Systeme (z.B. Gruppen, Organisationen, Netzwerke, des Gesundheitssystems in seiner Gesamtheit) nur durch ihre Einbindung in soziale Praktiken verstanden werden können. Denn singuläre Handlungen und Strukturen sind im fortlaufenden Prozess der Strukturation unauflöslich miteinander verknüpft. Strukturen existieren dabei außer in den Erinnerungsspuren der Akteure bzw. Systeme nicht unabhängig von ihrer Produktion bzw. Reproduktion in sozialen Praktiken. Zugleich bilden sie, vermittelt in sozialen Praktiken, die Grundlage sozialen Handelns, da sie dieses zugleich ermöglichen und beschränken. Im Kasten rechts werden die Kernelemente der Strukturationstheorie anhand von verschiedenen Beispielen aus dem Gesundheitswesen detaillierter vorgestellt. Der Kasten rechts erläutert als Glossar die zentralen Begriffe der Strukturationstheorie. Nachfolgend werden die Kernelemente der Strukturationstheorie anhand von verschiedenen Beispielen aus dem Gesundheitswesen detaillierter vorgestellt.

Strukturen: Regeln und Ressourcen

Strukturen können, wenn sie in sozialen Praktiken reproduziert werden, als Regeln der Bedeutungszuschreibung oder Sinnkonstitution (Signifikation), Regeln der Legitimation oder Ressourcen der Machtausübung (Domination) zutage treten. Diese drei Dimensionen des Sozialen sind nur analytisch trennbar, rekursiv aufeinander bezogen und bedingen deshalb einander. So kann beispielsweise auf der Bedeutungsebene eine bestimmte Region in Deutschland mit Hilfe der Regeln der Bedarfsplanungsrichtlinie als unterversorgt bestimmt werden (Signifikation). Dadurch ergibt sich eine Legitimation für Beschwerden und Klagen, die sich auf die Norm eines gleichwertigen Zugangs zu Versorgung beziehen. Hierdurch kann der Befund einer Unterversorgung in Verbindung mit ihrer ethischen Bewertung letztlich zur machtvollen Ressource werden, um aus Sicht der lokalen Akteure Fördermittel für die bessere Versorgung der Region zu erhalten. In der Tat wird der Ansatz der Strukturationstheorie zur Analyse von Machtverhältnissen herangezogen, da er, wie das vorangegangene Beispiel zeigt, nicht mit einem absoluten Machtbegriff arbeitet. Es wird also nicht angenommen, dass Akteure entweder Macht haben oder nicht, sondern gefragt, wer in welcher Beziehung Machtmittel mobilisieren kann und worauf die soziale Wirksamkeit dieser Machtmittel beruht.

Praktiken: Handlungen über Raum und Zeit

Praktiken können eine unterschiedliche Reichweite, d.h. Ausdehnung in Zeit und Raum, haben. Sie können das gewohnheitsmäßige Handlungsmuster beispielsweise einer kleinen Arbeitsgruppe z.B. innerhalb einer Organisation, aber auch gesellschaftsweite Praktiken wie das Tragen von Masken im öffentlichen Nahverkehr bezeichnen. Die Strukturationstheorie geht dabei davon aus, dass in einer sozialen Praktik immer auch Strukturen verschiedenster Reichweite reproduziert werden können. Daher nimmt die Strukturationstheorie immer eine Mehrebenenperspektive ein (s. auch Abbildung 2). Beispielsweise werden in einer Interaktion zwischen Ärzt:in und Patient:in Praktiken reproduziert oder verändert. Dabei wird zum einen auf Regeln zugegriffen, die Mediziner:innen in ihrer professionellen Ausbildung erlernt haben (bspw. Regeln der Bedeutungsbestimmung bestimmter Symptome), zum anderen aber auch auf Regeln auf Organisationsebene (z. B. des Krankenhauses, in dem die Ärzt:in beschäftigt ist) und gesellschaftsweite Regeln der Legitimation ärztlicher Praxis und Praktiken des Vertrauens in ärztliches Wissen. In der Interaktion können diese Regeln zugleich reproduziert aber auch erschüttert bzw. außer Kraft gesetzt werden, wenn beispielsweise Patient:innen das Vertrauen in ihre spezifischen Ärzt:innen verlieren.

Akteurskompetenzen: Knowledgeability und Reflexivität

Wenngleich Praktiken und nicht Akteure oder ihre singulären Handlungen im Zentrum der Strukturationstheorie stehen, sind für diesen Ansatz Akteure mit bestimmten Fähigkeiten essenziell:
„It is the specifically reflexive form of the knowledgeability of human agents that is most deeply involved in the recursive ordering of social practices“ (Giddens 1984, S. 3).

Der Begriff „Knowledgeability“ ist schwer ins Deutsche zu übersetzen. Er zielt auf das Wissen von Akteuren um die Bedingungen und Folgen ihres Handelns ab. Dieses Wissen befähigt sie zu handeln, weil sie praktisch wissen, wie man in auftretenden Situationen agiert: Akteure beobachten den fortlaufenden Strom des sozialen Geschehens und kennen daher einen relevanten Teil der – wenn auch nicht alle! – Bedingungen und Wirkungen ihres Handelns. Denn die immer auch vorhandenen unerkannten Handlungsbedingungen können auch zu unintendierten Folgen führen. Das „Kennen“ der Bedingungen und Folgen ist dabei nicht immer als explizites Wissen zu verstehen. Vielmehr findet ein Großteil des „reflexive monitoring“ (der fortlaufenden Beobachtung des Handlungsstromes) auf einer praktischen Bewusstseinsebene mit implizitem Wissen statt. Diese Ebene wird nur dann verlassen, wenn das bisherige implizite Wissen in anderen Situationen an seine Grenzen stößt (Giddens 1984; s. auch Ortmann et al. 1997).
Beispielsweise haben der soziale und politische Umgang mit der Covid-19-Pandemie in vielen Handlungszusammenhängen etablierte Praktiken verändert, weil das „business as usual“ seine Legitimation und seinen praktischen Nutzen verloren haben. Hier können Akteure die Bedingungen ihres Handelns mitgestalten, indem sie etwa neue Technologien wie eine Corona-Warn-App mit einer bestimmten Erwartung einführen. Allerdings nur, wenn sie über die entsprechenden Ressourcen verfügen und die Legitimation beanspruchen können, z. B. Gesetze oder andere Verhaltensnormen entsprechend zu ändern. Dabei können sie aber die Konsequenzen dieses Tuns nicht vollständig überblicken.
Sozialer oder auch organisationaler Wandel ist letztlich nur auf Ebene der Praktiken zu beobachten, also als inkrementelle oder radikale, mehr oder weniger nachhaltige Verschiebung einer Praktik. Ein neues Gesetz kann dann also nur relevant sein, wenn sich Praktiken unter Bezug auf dieses verändern. Genauso kann eine neue Technologie nur als erfolgreich eingeführt gelten, wenn sie auch genutzt wird. Weder Gesetz noch Technologie determinieren die Nutzung; vielmehr bleiben beide gänzlich irrelevant, wenn sie nicht in Praktiken eingebunden werden.

Verwendung und Nutzen für die Versorgungsforschung

Die Strukturationstheorie ist eine universelle Prozesstheorie über soziale Systeme, die Handlungsweisen von Individuen, aber auch kollektiven Akteuren wie Gruppen, Organisationen, Netzwerken oder einer ganzen Gesellschaft in den Blick nehmen kann. Dabei wird das sich gegenseitig bedingende Zusammenspiel von Aktion bzw. Handlung und Struktur in sozialen Praktiken auf verschiedenen Ebenen fokussiert.
Trotz Ursprungs der Theorie in der Soziologie und ihrer breiten entweder direkten und – über die Informierung anderer Theorien (z.B. Neoinstitutionalismus) – indirekten Verwendung in der Management- und Organisationsforschung ist ihre Anwendung in der internationalen Versorgungsforschung seit den 1990er Jahren recht überschaubar. Thematisch adressieren viele dieser Studien die Implementierung neuer Technologien, v.a. in Organisationen (z.B. telemedizinische Anwendungen, elektronische Patientenakten, Medikationssysteme, z.B. Jeffries et al. 2017) aber auch in lokalen Gesundheitssystemen (Shaw et al. 2017). Ein weiteres Anwendungsfeld der Strukturationstheorie sind Fragestellungen, bei denen die Auswirkung des Kontextes bzw. mehrerer Ebenen – z. B. die gesellschaftlicher Strukturen auf individuelles Gesundheitsverhalten und -erleben (Hinder/Greenhalgh 2012) oder die organisationaler Strukturen auf Praktiken der Koordination von Versorgung (Beringer et al. 2006) – in den Blick genommen werden. Viele Studien greifen dabei einzelne Aspekte der Strukturationstheorie heraus, so etwa die Wirkung von Regeln, die Allokation von Ressourcen oder Machtbeziehungen innerhalb von Organisationen.
Aufgrund ihres umfassenden Ansatzes wäre die Theorie durchaus dazu geeignet, den Blick für die Komplexität von Gesundheitsversorgung zu schärfen und relevante Faktoren bzw. Rahmenbedingungen zu identifizieren, die Implementierungsvorhaben und Praktiken des Versorgungsalltags beeinflussen und/oder entscheidend von ihnen beeinflusst werden. Mit Blick auf die voranschreitende Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems spielen beispielsweise nicht nur Implementationsprozesse einzelner Technologien in Organisationen und ihre Auswirkungen auf die Patientenversorgung eine Rolle. Auch beeinflusst der Digitalisierungsgrad von Strukturen und Praktiken innerhalb der gesamten Gesellschaft wiederum die Digitalisierung von gesundheitsbezogenen Praktiken auf der Ebene von Organisationen und Patient:innen. Beispiele sind hier Ressourcen wie die Digital Literacy einzelner Patient:innen und Leistungserbringer, ihr Zugang zu digitalen Technologien (z. B. Endgeräte) sowie digitalen Infrastrukturen (z. B. Breitbandausbau), aber auch digitale Ressourcen in anderen Lebensbereichen (z. B. Smart Homes und Hausnotruf). Gleichzeitig stellen gesetzliche Regelungen, ihre beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen sowie die Macht einzelner Akteure wie großer Internetplattformen wichtige weitere Rahmenbedingungen dar. Zur Beantwortung einzelner Teilfragen aus diesem Themenkomplex bieten sich sowohl die Strukturationstheorie als auch andere, in dieser Serie vorgestellte theoretische Ansätze mit einem engeren Fokus an. So mag es v. a. für politische Entscheidungen informierende, evaluierende Forschungsvorhaben notwendig sein, eine zentrale – linearere – Wirkungsbeziehung innerhalb von Studiendesigns herauszuarbeiten. In diesen Fällen kann die Strukturationstheorie, quasi als Metatheorie, helfen, den theoretischen Stand eines Vorhabens zu reflektieren.

 

Kritik und methodische Herausforderungen

Eine verbreitete Kritik und ein Hindernis für die empirische Verwendung der Strukturationstheorie, auch im Kontext der Versorgungs- und Gesundheitssystemforschung, ist die Art und Weise, wie Giddens seine Konzepte formuliert hat. Viele Begriffe und Bestimmungen bleiben aufgrund des allgemeinen Geltungsanspruchs sehr abstrakt oder mehrdeutig, sodass sie sich gegen eine klare Operationalisierung und damit Messbarkeit sperren (Walgenbach 2006). Giddens selbst gibt außerdem wenig Hinweise für die Nutzung seiner Theorie in empirischen Studien. Er möchte seine Konzepte lediglich als „sensitizing device“ (Giddens 1984, S. 326) verstanden wissen, die die empirische Arbeit orientieren. Daher erfordert eine Verwendung dieser allumfassenden, eher ganzheitlichen Theorie meist eine kontextspezifische Bestimmung der zu verwendenden Konzepte. Bereits existierende Studien und insbesondere theoretische Weiterentwicklungen bieten viele geeignete Begriffsbestimmungen und Konzepte an, die für die Aus- und Weiterbildung von Praktiker:innen der Gesundheitsversorgung und Versorgungsforschung bedeutsam sind. <<
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Zitationshinweis: Deisner, J., Auschra, C.: „Strukturationstheorie“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (03/22), S. 51-53. http://doi.org/10.24945/MVF.03.22.1866-0533.2411

 

Literatur


Beringer, A. J./Fletcher, M. E./Taket, A. R. (2006): Rules and resources: A structuration approach to understanding the coordination of children‘s inpatient health care. In: Journal of Advanced Nursing 2006, 56, 3: 325–335.
den Hond, F./Boersma, F. K./Heres, L./Kroes, E. H./van Oirschot, E. (2012): Giddens à la Carte? Appraising empirical applications of Structuration Theory in management and organization studies. In: Journal of Political Power 2012, 5, 2: 239–264.
Giddens, A. (1984): The constitution of society. Outline of the theory of structuration. Berkeley: University of California Press.
Giddens, A. (1993 [1976]): New rules of sociological method. A positive critique of interpretative sociologies, 2. Auflage, Cambridge: Polity Press.
Hinder, S./Greenhalgh, T. (2012): „This does my head in“. Ethnographic study of self-management by people with diabetes. In: BMC Health Services Research 2012, 12: 1–16.
Jeffries, M./Phipps, D./Howard, R. L./Avery, A./Rodgers, S./Ashcroft, D. (2017): Understanding the implementation and adoption of an information technology intervention to support medicine optimisation in primary care: Qualitative study using strong structuration theory. In: BMJ Open 2017, 7, 5: 1-10.
Ortmann, G./Sydow, J./Windeler, A. (1997): Organisation als reflexive Strukturation. In: Ortmann, G./Sydow, J./Türk, K. (Hrsg.): Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft. Wiesbaden: 315–354.
Shaw, J./Shaw, S./Wherton, J./Hughes, G./Greenhalgh, T. (2017): Studying scale-up and spread as social practice: Theoretical introduction and empirical case study. In: Journal of Medical Internet Research 2017, 19, 7: 1-12.
Sydow, J./Wirth, C. (Hrsg.) (2014): Organisation und Strukturation. Eine fallbasierte Einführung. Wiesbaden.
Walgenbach, P. (2006): Die Strukturationstheorie. In: Kieser, A./Ebers, M. (Hrsg.): Organisationstheorien. 6. Auflage Stuttgart: 403–426.
Wilz, S. M. (2019): Praxistheorie und Organisationsforschung. Anthony Giddens. In: Apelt, M./Bode, I./Hasse, R./Meyer, U./Groddeck, V. von/Wilkesmann, M./Windeler, A. (Hrsg.): Handbuch Organisationssoziologie. Wiesbaden: 1–19.
Windeler, A. (2001): Unternehmungsnetzwerke. Konstitution und Strukturation. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Ausgabe 03 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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