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„Wir brauchen einen Priorisierungskatalog Versorgungsforschung“

22.09.2022 07:00
Im großen Sommer-Interview anlässlich des 10-jährigen Dienstjubiläums als unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses sprach Prof. Josef Hecken über Entwicklungen des AMNOG, die zukünftige EU-HTA-Bewertung sowie Veränderungen beim Nutzenbewertungsprozess durch das aktuelle GKV-Finanzstabilisierungsgesetz – nachzulesen in der eben erschienenen Ausgabe von „Market Access & Health Policy“, dem Schwestermagazin von „Monitor Versorgungsforschung“. In diesem Interviewpart beschreibt Hecken seine Erfolge, aber auch das, was seiner Meinung nach nicht so gut oder auch falsch lief. Ebenso formuliert er eine klare Handlungsmaxime für die Versorgungsforschung, welche die Durchschlagskraft dieser Wissenschaftsrichtung wesentlich erhöhen würde.

http://doi.org/10.24945/MVF.05.22.1866-0533.2433

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>> Lassen Sie uns zu Ihrem 10-jährigen Dienstjubiläum als unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses zuerst nicht den üblichen Blick zurück, sondern nach vorne werfen. Derzeit macht – abgesehen von Corona und Ukrainekrieg – vor allem die zunehmende Finanzierungslücke bei den gesetzlichen Krankenkassen Sorgen, an der auch das eben beschlossene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz wohl wenig ändern wird.
Das ist nur eine der Sorgen, die mich umtreiben. Fakt ist, dass wir bereits in wenigen Jahren noch mehr Menschen im Rentenalter haben als bisher. Das ist pure Demografie. Schon heute ist klar, dass das Rentenniveau bis 2030 auf 48 Prozent sinken wird. Zudem wird es immer mehr Menschen geben, die während ihrer Erwerbstätigkeit nur den Mindestlohn bekommen – oder gar noch weniger – und die dann auf dieser Minimalbasis die erwähnten 48 Prozent Rente erhalten. Dementsprechend sinken dann auch die daraus resultierenden Krankenversicherungsbeiträge, die diese Menschen zahlen können. Zugespitzt gesagt: Es ist ein reines Rechenexempel, zu welchem Zeitpunkt es sich fast nicht mehr lohnen wird, diese Beiträge überhaupt einzuziehen. Dazu kommt ein schon heute erheblicher Personalmangel in allen Branchen und natürlich auch im Gesundheitswesen, der sich ohne konsequente Einwanderungsstrategie weiter verschärfen wird. Und wenn hunderttausende Menschen im Arbeitsprozess fehlen, können diese auch keine positiven Deckungsbeiträge für die Sozialversicherungen erbringen. Diese Perspektive bereitet mir höchste Sorgen.
Das lässt die 17 Milliarden Euro, die im kommenden Jahr zur Finanzie-
rung der Gesetzlichen
Krankenkassen fehlen, in einem etwas anderen Licht erscheinen.
Natürlich freue ich mich darüber, wenn die Politik etwas unternimmt, um die absehbaren Finan-
zierungslücken des kom-
menden Jahres zu schließen. Und dass beispielsweise die Erstattungsbetragsverhandlungen des AMNOG weiterentwickelt werden. Damit ist jedoch nicht die Frage beantwortet, welche Strategie, welchen Mas-
terplan wir für die nächsten fünf, sechs, sieben oder acht Jahre verfolgen werden. Es ist höchste Zeit, dahingehende Lösungen zu diskutieren und dann auch konsequent durchzusetzen – denn es braucht viel Zeit, die unbedingt notwendigen Strukturveränderungen in unserem medizinischen Versorgungsangebot und auch in der Vergütungssystematik umzusetzen. Stattdessen hat man den Eindruck, dass sehr konsequent und die Tatsachen leider verleugnend, das Thema Zukunft beiseite gedrückt wird, frei nach dem Motto: Hauptsache, das Konto ist am Ende des Jahres einigermaßen ausgeglichen.

Anfang dieses Jahres betrugen die Rücklagen der Kassen GKV-weit 9,9 Milliarden Euro, wie DAK-Chef Andreas Storm anlässlich der Vorstellung einer IGES-Prognose zur stark zunehmenden Finanzlücke bei den Krankenkassen erklärte. Anfang 2023 werden die Rücklagen nach dieser Prognose nur noch 8,3 Milliarden Euro betragen. Schöpft man nun davon 4 Milliarden Euro ab, wie im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vorgesehen, betragen die Rücklagen nur noch 4,3 Milliarden Euro, wodurch zahlreiche Kassen unter die Mindestrücklage von 20 Prozent rutschen dürften.
Es gäbe noch die Möglichkeiten – jenseits des Einsatzes der Rücklagen, die seitens der Krankenkassen über viele Jahre hinweg aufgebaut wurden – Liquiditätsreserven des Gesundheitsfonds zu nutzen, den allgemeinen Beitragssatz im Sozialgesetzbuch anzuheben oder sogar zusätzliche Deckungsmöglichkeiten durch Kredite zu nutzen, diese sicher zu hohen Zinslasten. Aber: Wer im Privatleben eine solche kurzfristige „Finanzstrategie“ hätte, würde bei der Schufa in der Bonität zu Recht schlechter dastehen als jemand, der nach vorne denkt und mit aller Kraft versucht, aus einer Position noch vorhandener Stärke strukturell notwendige Veränderungen herbeizuführen.

Woran liegt es, dass genau das nicht getan wird?
Weil jedwede Politiker:innen – so auch die Gesundheitspolitiker:in-nen – Angst vor dem Aussprechen unangenehmer Wahrheiten haben. Wobei diese Aussage – das sage ich ganz ausdrücklich und auch aus eigener Erfahrung – für jede Partei und jede Regierungskoalition gilt. Die drängenden Fragen von heute und morgen hat keine Vorgängerregierung – bisher aber auch nicht die aktuelle – beantwortet.

Nun sind Sie zehn Jahre G-BA-Vorsitzender, wollen Sie noch mal zehn Jahre auf dem Chefsessel sitzen?
Mit absoluter Sicherheit nicht. Man soll gehen, wenn es am schönsten ist  (lacht) – wobei natürlich zu definieren ist, wann es am schönsten ist oder – anders ausgedrückt: Wann eben der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel ist. Das tun zum einen unsere sogenannten Bänke beziehungsweise Trägerorganisationen, auf deren Vertrauen ich angewiesen bin, zum anderen natürlich ich selbst. Doch noch mal zehn Jahre mache ich auf keinen Fall.

Nehmen wir den zurückliegenden Zeitraum dieser Dekade, lehnen uns einmal entspannt zurück und schauen darauf, was wirklich grundlegend im System verändert worden ist.
Die Antwort ist: recht wenig. Sicherlich wurde einiges graduell verbessert, auch ein bisschen herumgeschraubt mit viel Klein-Klein-Regelei, aber alles leider ohne einen Masterplan.

Wessen Aufgabe wäre es denn, einen Masterplan „Zukunft Gesundheitswesen“ vorzudenken und dann auch konsequent umzusetzen? Sollen das etwa die Patient:innen selbst in die Hände nehmen?
Die Patient:innenschaft wird das mit Sicherheit nicht tun. Das liegt schon alleine darin begründet, dass es das ganz natürliche Interesse der Patient:innen ist, in der jeweiligen Behandlungssituation möglichst maximale Leistungen zu bekommen – bei möglichst geringen Beitragszahlungen.

Wer denn dann?
Ich sehe die Verantwortung absolut im politischen Bereich verortet. Wenn man im Gesundheitssystem eine langfristige Zukunftsfähigkeit und Finanzierungssicherheit gewährleisten will, muss die Politik stringent die verschiedenen Einflussfaktoren im Blick haben: von der demografischen Entwicklung über die Digitalisierung bis hin zum immer schnelleren medizinisch-technischen Fortschritt. Dieser rasante Fortschritt ist für mich dabei der entscheidende Faktor, weil auf einmal Krankheiten behandelbar werden, die vor 10 oder 15 Jahren sogar bei Best Supportive Care fast immer zum Tod der Patient:innen geführt hätten. Die Politik muss aus meiner Sicht – was sie eigentlich längst hätte tun sollen – aufzeigen, in welche Richtung das Gesundheitssystem von morgen weiterentwickelt werden soll.

Wohin führt uns der Weg?
Das muss die Politik entscheiden. Und das möglichst bald. Eigentlich umgehend. Wenn die Politik zum Beispiel vor allen Dingen Kostendämpfung erreichen will, könnten beispielsweise Kosten-Nutzen-Relationen in das System implementiert werden, wie es im angelsächsischen Raum mit den sogenannten QALYs der Fall ist. Das wäre eine durchaus mögliche Option, die ich allerdings aus sozialpolitischen Gründen für absolut unvertretbar halte. Eine Sozialversicherung soll doch gerade dann den Menschen helfen, wenn die Kraft des Einzelnen überfordert ist, was im Krankheitsfall bei fortgeschrittenen Therapielinien schnell passieren kann. Dann zu sagen, dass genau an der Stelle die Solidarität endet, weil weitere medizinische Maßnahmen zu teuer wären, ist zwar diskutabel, aber für mich ausgeschlossen. Die zweite mögliche Option wäre es zu definieren, wie viel Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts wir bereit sind, mit Blick auf die Demografie und den medizinisch-technischen Fortschritt für Gesundheit auszugeben und wie diese Mittel aufgebracht werden können. Das Aufbringen der Mittel alleine über den Faktor Arbeit wird nicht funktionieren, wenn man sich die zunehmende Marginalisierung der Lohn- und Gehaltsanteile im Bruttoinlandsprodukt anschaut. Deshalb wird die Politik – sobald definiert und konsentiert ist, wie viel die Gesellschaft in Gesundheit investieren will – über anderweitige Finanzierungsmöglichkeiten nachdenken müssen.

Wo bleibt die Eigenverantwortung?
Die kommt jetzt: Man muss – auch das ist für Gesellschaft wie für Politik sehr unbequem – darüber nachdenken, ob in die Inanspruchnahme von möglicherweise unangemessenen Versorgungsangeboten eine Eigenbeteiligung der Patient:innen implementiert werden sollte, denn nur so kann eine Steuerungswirkung erzielt werden. Also zum Beispiel, wenn jemand mit bereits wochenlang andauernden Rückenschmerzen die Notaufnahme einer Universitätsklinik anstelle des niedergelassenen Orthopäden aufsucht. Das alles sind jedoch Fragen, die nur politisch-demokratisch legitimiert beantwortet und entschieden werden können. Das kann kein G-BA-Vorsitzender machen, dessen über den Gesetzgeber und die Rechtsaufsicht erteilte demokratische Legitimation ohnehin von einigen Verfassungsrechtlern bestritten wird.

Sie können doch allzeit Ihre Stimme erheben.
Das mache ich häufig genug, indem ich auf strukturelle Probleme hinweise und in aktuelle politische Diskussionen Lösungsvorschläge einbringe. Als unparteiischer Vorsitzender erreichen mich aus der Versorgung, die wir als G-BA in einem nicht unerheblichen Maß mitgestalten, natürlich auch viele Hinweise auf mögliche Über- oder Fehlregulierungen. Manchmal sind es Probleme, die der G-BA über seine Richtlinien lösen kann; viel öfter handelt es sich jedoch um Fälle, bei denen uns als G-BA die Hände gebunden sind und die Politik gefragt wäre. Dennoch – und das ist ein relativ frustrierendes Fazit nach zehn Jahren als G-BA-Vorsitzender – ist offenbar der Druck im System noch nicht groß genug, damit die Politik Handlungsnotwendigkeiten erkennt.

Erkennen wird sie diese schon.
Erkennen ist schön, nützt für sich gesehen jedoch relativ wenig. Die Politik braucht Handlungswillen und vor allen Dingen Handlungsmut. Denn egal, wie unsere in erster Linie strukturell bedingten Probleme im Gesundheitssystem angegangen und gelöst werden: Es wird auch immer um unangenehme Wahrheiten gehen. Hier sind wir wieder in der aktuellen Situation: Jeder der Akteure versucht seinen Kopf in den Sand zu stecken und hofft dabei inbrünstig, das System fürs nächste Jahr einigermaßen über die Bühne zu retten. Obwohl ich mir manchmal wie ein einsamer Mahner in der Wüste vorkomme, habe ich nach wie vor die Hoffnung, dass irgendwann eine grundsätzliche Diskussion in Gang gesetzt wird, die alles andere als einfach werden wird.

Worin sehen Sie das Grundproblem?
Da gibt es natürlich mehrere. Beginnen wir mit den Patient:innen, nach denen Sie beim Thema Eigenverantwortung gefragt haben. Man kann, ausgehend vom Leitsatz, dass die Patient:in im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht, bei eben jener Patient:innenschaft nun einmal ganz zwiegespaltene Interessen feststellen. Zugespitzt formuliert: Solange man als Versicherter gesund und munter ist, wird wegen 0,1 Prozent Zusatzbeitrag-Unterschied die Kasse gewechselt, um Geld zu sparen. In dem Augenblick, wo dieselbe Person aber akut oder chronisch krank wird, richtet sich das Interesse in erster Linie auf ein maximales Versorgungsangebot aus, koste es, was es wolle und unabhängig davon, ob eine Leistung auch wirklich sinnvoll ist. Das alles ist zwar rein menschlich verständlich und letztlich in diesen Ausprägungen selten in Reinform vorhanden. Doch führt das damit verbundene Verhalten eben doch zu Schieflagen. Hinzu kommt, dass Kostenträger wie Leistungserbringer versuchen, die medizinische Versorgung so kostengünstig wie möglich zu gestalten. Das ist kein Vorwurf, sondern die logische Folge davon, dass die Politik vor allen Dingen die Krankenkassen – natürlich auch die Leistungserbringer, speziell die Krankenhäuser – in einen Wettbewerb gestellt hat, der zum Teil ruinös geführt wird. In dieser Gemengelage eine Lösung zu finden, bei der am Ende des Tages alle jubeln, wird leider nicht funktionieren.

Damit haben Sie exakt die sogenannten Bänke des G-BA genannt, wobei allerdings die Patient:innenschaft ohne, alle anderen mit Stimmrecht agieren können.
Wenn die Trägerorganisationen des G-BA definieren, was eine angemessene, wirtschaftliche und zweckmäßige Versorgung ist, ist das gerade bei einer nicht lupenreinen Studienlage teilweise hochkonfliktreich, weil hier natürlich auch die verschiedenen Interessen aufeinanderprallen. Unser klarer Auftrag ist es jedoch, in einem angemessenen Zeitrahmen und trotz des systemimmanenten Konfliktpotenzials die für die Versorgung wichtigen Leistungen auszugestalten. Der G-BA hat indes keinerlei Kompetenzen, was die Generierung und Verteilung von Geld angeht und ebenso keinerlei Kompetenzen, was die Frage einer Steuerung – etwa durch Selbstbeteiligung der Versicherten – angeht. Es ist originäre Aufgabe des Gesetzgebers, die Voraussetzungen für eine bessere Versorgung zu schaffen.

Wenn dieser die Aufgabe annehmen würde.
Ich warte auf den Tag, an dem unsere obersten Staatsrechtler definieren, welche Entscheidungen der Gesetzgeber eigentlich treffen müsste, um unser Gesundheitssystem angesichts des medizinischen Fortschritts, aktueller Krisen wie der Corona-Pandemie und der besonderen Versorgungsbedarfe von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine resilienter zu gestalten.

Machen wir das Ganze doch einmal an einem handfesten Beispiel fest.
Nehmen wir die Diskussion um den nicht-invasiven Pränataltest, kurz NIPT, zur Feststellung auf Trisomien 13, 18 und 21 beim ungeborenen Kind. Als G-BA waren wir mehrheitlich der Auffassung, dass eine technokratisch anmutende Überprüfung des medizinischen Nutzens dieses Tests in keiner Weise ausreicht, weil mit der Testmöglichkeit auch fundamentale ethisch-moralische Grundsatzfragen unserer Gesellschaft berührt werden. Von daher haben wir den Gesetzgeber gebeten, uns eine Wegweisung zu geben, was dieser leider nicht getan hat. Schlussendlich mussten wir entsprechend unseres generellen Handlungsauftrags über den medizinischen Nutzen und die Kostenübernahme entscheiden – da hatten wir gar keine andere Option.
Die Entscheidung ging, wie Sie wissen, in Richtung der Erstattung, so dass die gesetzlichen Krankenkassen seit Juli 2022 in bestimmten Situationen die Kosten für einen nicht-invasiven Pränataltest auf Trisomien 13, 18 und 21 übernehmen.

War das einer der Fälle, in dem Sie Ihre Stimme als unparteiischer Vorsitzender einsetzen mussten, um einen G-BA-Beschluss auf die eine oder andere Seite ausfallen zu lassen?
Nein, da waren die Bänke eigentlich einer Meinung.

Was selten genug vorkommt.
Das kommt sehr viel öfter vor, als man denkt. Circa 90 Prozent aller Beschlüsse werden einstimmig getroffen. Doch gibt es eben auch Fälle, in denen ich in meiner Funktion als unparteiischer Vorsitzender die entscheidende Mehrheitsstimme abgeben muss. Dieser Akt, die dreizehnte Stimme einzusetzen, ist keine angenehme Aufgabe, weil man damit immer eine der konfliktären Seiten unterstützt, was die andere Seite – verständlicherweise – gar nicht goutiert. Zumal es dann auch meist um wichtige Grundsatzfragen geht, bei denen die natürlichen Interessengegensätze offenkundig werden.

Wäre der G-BA ohne die dreizehnte Stimme handlungsunfähig?
Er wäre handlungsfähig, doch würden die Beratungsverfahren noch weit mehr Zeit in Anspruch nehmen als jetzt schon.

Was ist die Lösung?
Zum einen ist das Ausdauer und eine hohe Frustrationstoleranz: Ob es um neue, aber teuerste Wirkstoffe geht, Mindestmengen oder
wie aktuell um das Ersteinschätzungsverfahren in der Notaufnahme. Zum anderen: Man muss selbst fundierte Vorschläge auf den Tisch legen, statt lapidar zu sagen: „da müsst ihr euch eben einigen“ oder „da müsst ihr mal was machen“. Man sieht es leider viel zu oft, dass zwar Probleme beschrieben und deren drängende Lösung angemahnt, jedoch keine tragfähigen Ideen beigesteuert werden.

Was machen Sie hier ganz persönlich?
Ich entwickle Vorschläge und stelle sie zur Diskussion. Wenn sie aufgenommen werden, freue ich mich; wenn sie nicht aufgenommen werden, nehme ich das zur Kenntnis – ohne jede Verbitterung. Aus meiner Zeit im aktiven politischen Geschäft ist mir nur zu gut bewusst, aufgrund welcher Unwägbarkeiten oder auch Agenden politische Entscheidungen fallen oder eben nicht. Und es gibt immer eine nächste Landtags- und immer eine kommende Bundestagswahl, hinter der man sich probat verstecken kann.

Haben Sie schier unendliche Geduld mit der Politik?
Keineswegs. Denn ich sehe, dass wir kostbare Zeit verlieren, die wir dringend brauchen, um politisch endlich die gravierenden strukturellen Probleme in der Gesundheitsversorgung anzugehen. Noch leben wir in einer Zeit, in der die Politik behutsam und über einen längeren Zeitraum hinweg Lösungen auf den Weg bringen kann. Wissend, dass die hier geforderten Grundsatzentscheidungen nicht in drei Tagen, nicht einmal in wenigen Jahren aus der Hüfte geschossen werden können.
Das müssen wir wieder an einem Beispiel festmachen.
Nehmen wir die einkommensunabhängige Gesundheitsprämie, die 2004 unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel angedacht worden war. 2009 wurde diese im Koalitionsvertrag der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP als „einkommensunabhängige Arbeitnehmerbeiträge“ aufgenommen und fand 2010 sogar Eingang ins Eckpunktepapier des Gesundheitsministeriums unter Philipp Rösler. Damit war dann Schluss und die an sich gute Idee starb nach langen Diskussionen den Heldentod. Das Beispiel zeigt sehr schön, wie komplex derartige Strukturinnovationen sind, vor allem wenn sie die Finanzierung betreffen. Vor diesem Hintergrund noch einmal: Es ist höchste Zeit für grundlegende Änderungen. Wenn man sie denn will.

Dann hoffen wir alle auf die himmlische Erleuchtung. Aber gehen wir doch noch einmal zurück zu Ihrer dreizehnten Stimme als unparteiischer Vorsitzender, die man sich als eine Art Hammer vorstellen kann: Wo mussten Sie damit den Nagel einschlagen?
Das ist schon häufiger passiert. Manchmal habe ich es richtig gemacht und manchmal falsch, was man jedoch leider immer erst im Nachhinein wissen kann.

Wo haben Sie richtig entschieden?
Nehmen wir einen Fall, bei dem sich am Ende des Tages gezeigt hat, dass ich richtig lag, obwohl das Thema zum Zeitpunkt der Beschlussfassung recht umstritten war. Es handelte sich um die Arzneimittelbewertung von Sofosbuvir aus dem Jahre 2014, bekannter unter dem Handelsnamen „Sovaldi“. Der innovative Wirkstoff, der in Kombination mit anderen Arzneimitteln zur Behandlung der chronischen Hepatitis C bei Erwachsenen angewendet wird, löst immerhin rund eine Milliarde Euro Mehrausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung aus.

Wobei der entsprechende G-BA-Beschluss für therapienaive Patien-ten mit chronischer Hepatitis-C-Virus-Infektion immerhin ein Hinweis für einen beträchtlichen Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie zugestand.
Genau darum geht es: Der Zusatznutzen für diesen Wirkstoff war bei bestimmten Hepatitis-C-Patienten belegt, allerdings nicht bei allen. Hier gab es zwischen den acht untersuchten Patientengruppen Unterschiede. Außerdem war der Wirkstoff wesentlich teurer als die nebenwirkungsreiche und im Ansprechen bei den Patienten nur relativ moderat wirkende, zweckmäßige Vergleichstherapie mit Interferon.

Wo ist das Problem, wenn es genügend Evidenz gibt?
Weil man selbst Evidenz aus verschiedenen Sichtweisen gnadenlos interpretieren kann. Leider kann man Zulassungsstudien schön oder auch schlecht reden, indem man beispielsweise nicht bereit ist, eine hohe Cross-over-Rate anzuerkennen. So hat damals zum Beispiel das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, argumentiert, dass man eine wichtige Zulassungsstudie nicht anerkennen könne, weil zu viel Cross-over stattgefunden hätte.

Was jedoch die Ethikkommission ausdrücklich gefordert hat.
Exakt. Der Grund für die explizit gewollte Möglichkeit eines Cross-overs war, dass man betroffene Patient:innen in der Kontrollgruppe nicht ein Jahr lang weiter mit Interferon behandeln und schwersten Nebenwirkungen aussetzen kann, während Patient:innen in der Interventionsgruppe nach zwölf Wochen das Krankenhaus verlassen – genesen wohlgemerkt.

Damit war eine versorgungspolitische Entscheidung gefragt, die im Endeffekt auf die Frage hinausläuft: Was darf Heilung kosten?
Damals hat ein Teil der Stakeholder gesagt: „Natürlich wollen wir die Versorgung verbessern, aber leider ist die Studie nicht brauchbar.“ Während der andere, ebenso große Teil, erklärt hat, dass die Ergebnisse der Studien – es waren mehrere – absolut überzeugen. Es stand pari. Darum musste letztlich meine Stimme entscheiden, ob wir der IQWiG-Empfehlung folgen. Mit der Anerkennung des Zusatznutzens habe ich mir nicht unheimlich viele Freunde gemacht hat.

Weil die Entscheidung, die mit Ihrer Stimme gefällt wurde, das GKV-System sehr viel Geld gekostet hat.
Na klar. Gottseidank war die Entscheidung richtig, denn mittlerweile ist Sofosbuvir die Standardtherapie in der Zweier- und Dreierkombination. Klar, es war teuer, aber die Welt ist davon nicht untergegangen. Übrigens auch nicht bei der Diskussion um die Notfallstufen für Krankenhäuser, die ich als zweites Beispiel anführen möchte. Auch hier denke ich, mit meiner Stimme richtig entschieden zu haben. Denn auch hier ist der beabsichtigte Erfolg in Form einer damit bezweckten Strukturbereinigung eingetreten. Nun haben wir rund 1.200 Krankenhäuser, die an der Notfallversorgung teilnehmen, weil sie klare Strukturkriterien erfüllen.

Wo lagen Sie falsch?
Falsch war wahrscheinlich der Einsatz meiner dreizehnten Stimme bei der PPP-Richtlinie, die die Personalausstattung in Psychiatrie und Psychosomatik regelt. Wir mussten damals auf der Basis relativ dünner Evidenz entscheiden, da das eigens beauftragte Gutachten letztlich nicht verwendet werden konnte. Durch Expertengespräche haben wir dann versucht, diese Evidenzprobleme etwas zu kompensieren und dann – unter Einsatz meiner Stimme – die Mindestpersonalanforderungen in bestimmten Bereichen moderat angehoben. Das alleine war aber noch gar nicht der entscheidende Punkt. Folgenschwerer war, dass wir relativ arbeitsaufwendige stationsbezogene Dokumentationspflichten implementiert haben – sie sollen Aufschluss über den tatsächlichen Personalschlüssel geben und waren die Grundlage dafür, um später einmal eine Nichteinhaltung der Mindestanforderungen sanktionieren zu können. Diese Beschlussfassung der PPP-Richtlinie ist seitdem ein steter Quell des Ärgers, der sich beispielsweise in einer erklecklichen Anzahl teilweise identischer Briefe äußert, aus unterschiedlichsten Ecken der Republik. Daran sieht man, dass insbesondere leitende Verwaltungsdirektoren von Krankenhäusern sehr organisa-
tionsstark sind. Anzuerkennen ist jedoch, dass wir mit der gut gemeinten Richtlinie, die die Einhaltung der Mindestpersonalvorgaben regeln und damit für ausreichend Personal auf den Stationen sorgen soll, ein Stück weit über das Ziel hinausgeschossen zu sein scheinen.

Über das Ziel hinausgeschossen ist noch nicht falsch.
Stimmt. Doch wenn das angestrebte Ziel wegen des allenthalben beobachtbaren Personalmangels nicht erreichbar ist, nützt eine solche Regelung leider wenig. Daher werden wir wohl die im Beschluss implementierten Übergangsregelungen Jahr für Jahr verlängern müssen.
Man sieht doch an der aktuellen Einigung zwischen den Universitätsklinika und den Pflegenden, dass Dokumentation explizit von den Pflegenden gefordert wird, um auf Missstände hinzuweisen und die dann auch sanktionieren zu können.
Das wird in diesem Fall auch richtig sein. Wir sind hier jedoch im Bereich der Qualitätssicherung, die vor dem großen Problem steht, dass sich immer mehr Indikatoren mehr oder weniger im Nachkommabereich verändern, aber – das ist mein bitteres Fazit in diesem Bereich – dadurch auch weitestgehend folgenlos bleiben. Sie verfolgen das Gesundheitssystem nun auch schon seit Jahrzehnten: Haben Sie schon mal zur Kenntnis genommen, dass aufgrund einer vom G-BA implementierten Qualitätssicherungsmaßnahme und daraus folgender Dokumentation zeitnah zum Schutze der Patient:innen irgendwo eine Einrichtung geschlossen wurde?

Das wäre mir neu.
Dabei haben wir strukturierte Dialoge geführt, Formulare um Formulare ausfüllen und melden lassen, dazu immer mehr Leistungsbereiche mit immer mehr Indikatoren in die Qualitätssicherung einbezogen. Was ändert sich? Nichts! Einmal pro Jahr gibt der Qualitätsreport der staunenden Öffentlichkeit zur Kenntnis, dass wir zum Beispiel 2019 in 24 Qualitätssicherungsverfahren 221 Indikatoren ausgewertet haben und bei 95 Prozent dieser Indikatoren kein besonderer Handlungsbedarf festgestellt wurde. Da stelle ich mir nun als nicht in der Qualitätssicherung elementar verhafteter unparteiischer Vorsitzender des G-BA die Frage: Was bringt es, wenn wir mit großem Aufwand so viele Indikatoren erheben und auswerten, die sich zehn Jahre auf hohem Qualitätsniveau nicht verändert haben?

Ihr Lösungsansatz?
Ich würde, wenn ich fünf neue Indikatoren in die Betrachtung aufnehme, mindestens zehn, die sich nicht verändert haben, entfernen.

Oder gleich das Gros der 95 Prozent der Indikatoren, bei denen sich quasi nichts ändert, dafür aber die 5 Prozent mit volatilen Ergebnissen wesentlich genauer betrachten.
Sie sagen das so einfach. Ich bin weit davon entfernt, blauäugig zu sein. Das war ich schon nicht, als ich vor zehn Jahren zum G-BA kam, weil ich aus meinen vorangegangenen Funktionen gelernt habe, wie solche Dinge funktionieren. Der entscheidende Punkt ist: Qualitätssicherung muss in der Lage sein, Änderungen herbeizuführen, um eine bessere Versorgung zu erreichen. Das gelingt jedoch nur dann, wenn in den Bereichen, in denen Qualitätsmängel zu erahnen sind, in unregelmäßigen Zeitabständen unangekündigte Stichproben genommen werden, frei nach dem Evangelium von Matthäus 24,42: „Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt.“

Oder, um Matthäus umzudeuten, der auch sagte: „Kein Stein wird hier auf dem andern bleiben; alles wird niedergerissen werden.“ Ist die Qualitätssicherung alter Art eine Totgeburt?
Es schien zumindest einige Zeit so. Doch sind wir im letzten Jahr einen sehr wichtigen Schritt vorangekommen, indem wir drei Leistungsbereiche identifiziert haben, in denen wir versuchen wollen, eine Art „Qualitätssicherung light“ zu implementieren. Jedoch gilt das „light“ lediglich in dem Sinne, dass wir eine Menge an unnötiger Dokumentationsaufwände und Indikatoren herausnehmen, dafür aber sieben oder acht harte, risikoadjustierte Indikatoren messen, die man auch sehr schnell nachhalten und damit auch zeitnah auf Messergebnisse reagieren kann.

Klingt doch ganz logisch.
Logisch schon, aber Weglassen ist eben leider auch mit Unsicherheiten behaftet. Es kann sogenannte statistische Ausreißer geben, was Sterblichkeit oder Infektionen angeht, die man dann nicht messen kann, wenn man sich auf weniger Indikatoren beschränkt.

Weglassen ist auch eine Form von Entscheidungsmut, die Sie von der Politik fordern.
Schon richtig. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, durch eine voll umfassende Qualitätsmessung eine schier absolute Sicherheit erzeugen zu wollen. Qualitätssicherung – neu gedacht – soll dazu beitragen, relativ zeitnah Versorgung zu verbessern und da umsteuern, wo es richtig und wichtig ist. Genau das pilotieren wir jetzt.

Was wiederum heißt: Wir beginnen Mitte 2022 und haben schon wieder 10 oder 15 Jahre Zeit vergeudet. Seit wann gibt es Qualitätssicherung des G-BA oder die Sektorenübergreifende Qualitätssicherung, die schon davor eingeführt wurde? Seit 2009!
Daran ist die Versorgungsforschung nicht ganz unschuldig.

Nur raus mit der Kritik, wir sind doch sozusagen unter uns.
Der Punkt ist aus meiner Sicht, dass das, was die Politik und der G-BA an Entscheidungsgrundlagen benötigt und das, was Wissenschaft macht, nicht immer kongruent ist. Das liegt vor allem daran, dass es die Wissenschaft – was sicher systemimmanent und ebenso sicher auch typisch deutsch ist – Studien und Ergebnisse solange mit enormen Aufwand optimieren möchte, bis annähernd die erwünschten 100 Prozent erreicht sind. Indem jedoch die Wissenschaft versucht, den Evidenzgrad immer höher zu schrauben – was natürlich ein ehrenwerter Anspruch ist –, werden hohe Energien in Form von Budgets und Manpower eingesetzt. Die damit erreichte Zielgenauigkeit hilft auf der Entscheidungsebene letztlich aber nicht viel weiter. Damit will ich mich in keiner Weise gegen wissenschaftliche Genauigkeit aussprechen, doch habe ich in meinem ersten Job nach meinem erfolgreichen Abschluss der juristischen Studien in meiner Tätigkeit als Referent für Wasser- und Abfallrecht gelernt, dass 95 Prozent eines angestrebten Erfolges mit relativ wenig Ressourcen zu erreichen sind, die letzten fünf Prozent aber schier unendliche Ressourcen verschlingen, indes nur noch einen relativ geringen Mehrwert erzeugen.

Dazu kommt der ebenso wichtige Faktor Zeit.
Genau. Wer von vornherein die 100 Prozent erreichen will, muss mit der Folge leben, dass 95 Prozent Genauigkeit vielleicht schon nach 2 Jahren erzielt werden, 100 aber erst nach 20 oder 25. Damit kann vielleicht ein Viertel Jahrhundert später quasi das Paradies auf Erden geschaffen werden, doch in der Zwischenzeit ist so unendlich viel passiert, dass das Ergebnis Makulatur bleiben wird. Das gilt für viele Bereiche, im besonderen Maße jedoch für die Qualitätssicherung. Langer Rede kurzer Sinn: Wir haben uns in den frühen Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts auf den Weg gemacht, beseelt vom Gedanken, über Qualitätssicherung eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Dann haben wir entdecken müssen, dass eigentlich 95 Prozent der Messungen und Ergebnisse unstreitig sind, aber das restliche Delta von 5 Prozent hoch konfliktär ist.

Womit in den im G-BA-Plenum zur Qualitätssicherung geführten Diskussionen, die ich regelmäßig verfolge, nicht selten der Eindruck aufkommt, dass Kassen und Patient:innenschaft Qualitätssicherung wollen, DKG, KBV oder die KZBV aber nicht.
Das ist absurd. Diese drei Bänke wollen Qualitätssicherung natürlich auch. Doch muss in den Augen der Leistungserbringer, die die Dokumentationsarbeit schließlich leisten müssen, das gewollte Ergebnis im Verhältnis zum Aufwand stehen. Wenn Qualitätssicherung ab einem bestimmten Punkt keinen Mehrwert explizit für die Patient:innen bietet, dann müssen wir eben die Erhebungsmengen begrenzen, weil nun einmal die Ressource Personal begrenzt ist.

Qualitätssicherung ist doch nichts anderes als der Versuch, strukturelle oder prozessuale Probleme sichtbar und steuerbar zu machen. Was aber hilft es, wenn das Ziel nicht klar ist, es keine Vision eines zukunftsfähigen resilienten Gesundheitssystems gibt, eben ein „Masterplan“ fehlt, der in unserem Gespräch schon öfter Eingang fand? Anders gefragt: Was erwarten Sie explizit von der Versorgungsforschung, die als einzige Wissenschaftsrichtung die Pfaffsche „letzte Meile“ erforscht?
Es steht mir als jemand, der keine akademische Karriere hinter sich hat, nicht an, Wissenschaft zu kritisieren, so auch nicht die der Versorgungsforschung. Ich konstatiere jedoch, dass sich die Versorgungsforschung durchaus mit Themen wie den zukünftigen Krankenhausstrukturen oder Möglichkeiten der Ambulantisierung beschäftigt. Das ist gut so, denn hier geht es um große und um wichtige Fragen, die strukturelle Problemstellungen behandeln.

Wo ist dann das Problem?
Faktum ist ebenso, dass ich als Vorsitzender des Innovationsausschusses im Part Versorgungsforschung ganz konkret feststellen muss, dass wir teilweise zwar sehr qualifizierte Anträge bekommen, die wir nur deshalb abgelehnt haben, weil sie Probleme adressieren, die man als „Klein-Klein“ bezeichnen kann. Es ist ja ganz nett, wenn ich wissenschaftlich belegt bekomme, dass es hilft, einen möglicherweise psychisch beeinträchtigen Patienten oder Suchtkranken oder demenziell Erkrankten zur Termintreue anzuhalten, indem ich ihn abholen lasse oder ihm ein Taxi schicke. Das mag alles richtig und nötig sein, aber ist doch annähernd selbsterklärend. Muss man so etwas wirklich wissenschaftlich mit Evidenz unterfüttern? Mal Hand aufs Herz: Solche „Klein-Klein“-Forschungsansätze bringen doch unser Gesundheitssystem wirklich nicht nach vorne! Ich wünsche mir von der Versorgungsforschung, jenseits der allenthalben auftauchenden Detailfragestellungen, die ja an und für sich durchaus richtig sein mögen, mehr in Richtung sektorenübergreifende Versorgung zu denken. Oder zumindest zu versuchen, in bestimmten kleineren Versorgungssettings neue sektoren- und professionsübergreifende Lösungen zu pilotieren und zu evaluieren.

Sozusagen mehr Templins?
Das war kein Versorgungsforschungsprojekt, sondern eines aus dem Bereich der „Neuen Versorgungsformen“, doch zumindest eines, das von Versorgungsforschern evaluiert wurde. Auch hier Hand aufs Herz: Das, was da gemacht und herausgefunden wurde, war auch nicht die große Innovation, bei der die Erde gebebt hat. Wenn in einem Krankenhaus bestimmte ambulante Leistungen erbracht werden, ist das gut fürs Krankenhaus und gut für die Patient:innen – und wenn dann noch bestimmte fachärztliche Kapazitäten abgedeckt werden, die im ambulanten Setting nicht mehr vorhanden sind, ist das noch besser. Das ist aber nun keine ganz neue Erkenntnis. Doch wurde immerhin sauber wissenschaftlich belegt, dass solche Settings funktionieren und damit der bauchgesteuerten Phantomdiskussionen ein Ende gemacht. Was ja auch ein Wert an sich ist.

Wo liegt das Problem der Versorgungsforschung?
Die Versorgungsforscher:innen machen es sich zu einfach. Ich vermisse bei den Anträgen bisher den „großen Wurf“. Weil genau diese Ansätze fehlen, die uns wirklich nach vorne katapultieren würden, wurde in mehreren Vergabetranchen das für die Versorgungsforschung zur Verfügung stehende Geld nicht voll ausgeschüttet. Das wurde natürlich von Versorgungsforschern mehrfach kritisiert, aber das ist ihnen selbst zuzuschreiben. Was nützt es, wenn in einem Mini-Detailproblem sozusagen die dritte Nachkommastelle erforscht wird? Nichts, sage ich, weil wir damit wieder bei derselben Baustelle wie in der Qualitätssicherung angelangt sind. Unnütze Projekte zu fördern, die wir von vornherein für nicht zielführend halten, bringt doch zu wenig.

Gab es denn keinerlei größere Projekte im Innovationsfonds-Part Versorgungsforschung?
Doch schon. Leider waren Projektanträge, bei denen es um größere Denkansätze ging, meist so oberflächlich formuliert, dass nicht einmal klar erkennbar war, wie nun die Hypothese lautet, die verfolgt wird. Anscheinend gibt es in der Versorgungsforschung wohl große Defizite.

Woran wiederum die Politik nicht ganz unschuldig ist.
Auch das stimmt. Versorgungsforschung war, bevor es die Fördermillionen des Innovationsfonds gab, durchweg unterfinanziert. Natürlich gab es auch davor schon Fördermöglichkeiten. Insgesamt kann man doch sagen, dass es vor dem Innovationsfonds für die Versorgungsforschung relativ wenig Geld und damit leider auch relativ wenig Kapazitäten gab, um die wirklich strukturellen Fragen überhaupt einmal anzudenken. Darum hoffe ich, dass die Community der Versorgungsforscher:innen die Zeit und die vielen Millionen, die der Innovationsfonds massiv ausschüttet, nutzt, um Kompetenzen, Manpower, Methoden und Theorien auf- und auszubauen, die sie zeitnah in die Lage versetzt, strukturell wichtige Fragen zu formulieren und in Arbeitshypothesen zu kleiden.

Wäre es nicht sinnvoll, einen wohl besetzten Thinktank zu implementieren, der – sagen wir – die fünf wichtigsten strukturellen Fragen definiert, die dann die Versorgungsforschung mit entsprechend ausreichend budgetierten Innovationsfonds-Projekten klären muss, um die Versorgung zu verbessern?
Dann entfiele der Deutschen Gesellschaft für Versorgungsforschung die Möglichkeit, mich regelmäßig in Presseerklärungen zu kritisieren (lacht). Ich habe bisher jedoch keinen aus der Versorgungsforschung kommenden Priorisierungskatalog wahrgenommen, den man dann einem gesellschaftlichen und politischen Diskurs unterziehen könnte. Dass das durchaus funktioniert, sieht man beispielsweise bei den S3-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die seit kurzem gesondert im Innovationsfonds gefördert werden.

MVF wird – gerne mit Partnern – diesen Priorisierungskatalog mit seinem Dezember-Kongress anschieben. Wären Sie dabei?
Ich bin bei solchen grundlegenden Überlegungen immer gerne dabei, denn hier bekommt man ja die Chance daran mitzuwirken, Dinge besser oder plausibler zu machen. Und die Probleme, die uns alle plagen, kritisch zu diskutieren und zu hinterfragen. Doch um auf den Priorisierungskatalog zurückzukommen: Am Beispiel der vom Innovationsfonds geförderten S3-Leitlinienentwicklung sieht man sehr gut, wie man so etwas aufbauen kann. Der Innovationsausschuss ist hier in ein gemeinsames Projekt mit der AWMF eingestiegen, das das alleinige Ziel hat, die Entwicklung von Leitlinien zu fördern. Die relevanten Versorgungsbereiche definiert das Bundesgesundheitsministerium nach Vorabsprache mit der AWMF und uns. Am Ende des Tages entscheidet aber der Innovationsausschuss, was gefördert wird und in eine Art „Masterplan Leitlinien“ passt. Ein derartiges Setting kann man sich auch bei der Versorgungsforschung gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium und dem Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung vorstellen.

Was Sie als Chef des Innovationsausschusses entlasten würde, weil es statt vieler kleiner, zwar weniger, dafür wichtigere Projekte gäbe.
Wenn der Innovationsausschuss im Bereich Versorgungsforschung nur noch 10 statt 186 Anträge bekommt, wird das auch mein Leben erheblich erleichtern. Doch vor allem wäre die Durchschlagskraft der Versorgungsforschung sicherlich wesentlich größer als die vieler „Klein-Klein“-Projekte. Also: Wenn es eine solche Initiative gäbe und wenn man sich seitens der Versorgungsforschung auf wenige, aber drängende Themen verständigen könnte, die jedoch weder der G-BA, noch der Innovationsausschuss vorgeben wird, würde ich mich freuen. Dafür sollte man aber nicht – wie bei der Qualitätssicherung –  eine Dekade ins Land gehen lassen.

Wir sind noch jung, Herr Professor Hecken: Wir schaffen das schon.
Der entscheidende Punkt ist, dass eine solche Initiative kein Rohrkrepierer wird, frei nach dem Motto: Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis. Denn auch hier drängt die Zeit, diesmal aus systemimmanenten Gründen: Der Innovationsfonds wird demnächst durch entsprechende gesetzliche Änderungen verstetigt. Ein neuer Ansatz der Versorgungsforschung muss in diese Gesetzesänderung einfließen, weil dieser in die bestehenden Strukturen nicht so einfach implementiert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist das also kein Zehnjahres-, sondern eher ein Einjahresprojekt. <<

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Zitationshinweis: Hecken, J., Stegmaier, P.: „Wir brauchen einen Priorisierungs-
katalog Versorgungsforschung“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (05/22), S. 6-13. http://doi.org/10.24945/MVF.05.22.1866-0533.2433

 

Vita

Prof. Josef Hecken
ist seit seit Juli 2012 unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses und seit Oktober 2015 Vorsitzender des beim G-BA angesiedelten Innovationsausschusses. Ebenfalls 2015 wurde ihm den Professoren-Titel durch die Regierung des Saarlandes in Würdigung seiner Verdienste in Wissenschaft und Forschung verliehen. Seit 2018 übernimmt er Lehraufträge an der Leibniz Universität Hannover sowie der Medizinischen Fakultät Heidelberg und ist Dozent im Masterstudiengang Pharmarecht an der Juristischen Fakultät der Universität Marburg.
Vor seiner Berufung zum unparteiischen Vorsitzendendes G-BA war Hecken u.a. Präsident des Bundesversicherungsamtes (2008-2009), Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales des Saarlandes (2004-2008) sowie ab 2008 auch für Arbeit und gleichzeitig Vorsitzender des Gesundheitsausschusses und Stv. Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundesrates.

Ausgabe 05 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

Gemeinsamer Priorisierungskatalog

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