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Konstruktivismus

21.09.2022 04:00
vorgestellt von: Markus Greß-Heister M.A., LL.M., Akademischer Mitarbeiter BWL-Gesundheitsmanagement an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Lörrach

http://doi.org/10.24945/MVF.05.22.1866-0533.2443

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Den Konstruktivismus-Artikel zusammenfassen zu wollen, heißt konsequenter- oder paradoxerweise ihn nicht letztgültig beschreiben oder einzelnen Autor:innen zuordnen zu können. Den Konstruktivismus gibt es – konstruktivistisch betrachtet – nämlich gar nicht. Es oder er ist vielmehr davon abhängig, wer ihn beschreibt (Beobachter) und wie er beschrieben wird (Sprache als Medium) und wofür er beschrieben wird (Kontextualisierung). Der folgende Beitrag entscheidet sich für die Entscheidung den Versuch einige Grundgedanken „des“ Konstruktivismus durch das Beobachten beim Beobachten (Beschreiben) aufzuzeigen (Kybernetik 2. Ordnung). Konstruktivistisches Denken ist per se nicht originell: man kann es zusammenfassend als eine Art das „Denken zu Be-denken“ begreifen, das seine Wurzel sehr stark in naturwissenschaftlich-biologischen Sichtweisen hat und in seinen Wirkungen die grundlegende Betrachtungsweise für die angewandten systemischen und hypnosystemischen Ansätze in den therapeutischen, psychologischen, wirtschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Wissenschaften ist. Metaperspektivisch formuliert sich eine Meta-Theorie aus den Gebieten der Neurobiologie/ Neurowissenschaften, der Wissenssoziologie, der Kybernetik, der erkenntnistheoretisch ausgerichteten Geschichte der Philosophie und der Psychologie.  Selbst der Begriff Theorie greift, wie im Folgenden noch zu zeigen ist, zu kurz: es handelt sich vielmehr um eine eigene Art des „in und auf die Welt Empfindens, Sehens und Fühlens“: Entsprechend diesen Wurzeln kann man wissenschaftshistorisch mindestens den radikalen, den philosophischen, den (neuro)biologischen, den psychologischen, den kybernetischen, den wissens-soziologischen Konstruktivismus und den sog. Erlanger-Konstruktivismus unterscheiden. Im Folgenden folgen die Grundgedanken, die alle „Spielarten“ des Konstruktivismus miteinander verbinden bzw. teilen.

 

>> George A. Kelly (Mitbegründer des Konstruktivismus) bezeichnet (Kelly, 1986) alle Erkenntnis als Konstrukte, die von uns jeweils individuell angepasst werden. Auf Jean Piaget rückbezogen ist jede Wirklichkeit eine Konstruktion individueller Wirklichkeit(en) als (kognitiver) Akt im Gehirn (Erzeugen der „Welt im Kopf“); die Grundlagen liegen also in unserem Bewusstsein (Piaget, 1975). Alle Persönlichkeitscharakteristika sowie Erkenntnisse, Intelligenz, Denken, Autonomie usw. re-konstruiert das Individuum aktiv in seinem Inneren mit Hilfe von zwei grundlegenden Prozessen:
(1) Assimilation: Informationen werden aus der Umwelt & entsprechend der Vorkenntnisse interpretiert,
(2) Akkommodation: Das bereits vorhandene Wissen kann durch neue Informationen modifiziert werden und ist in sich dadurch auf sich selbst zurückbezogen. Hinzu kommt die Notwendigkeit der Interaktion mit der materiellen und soziokulturellen Umwelt.

Dies führt in der Konsequenz den radikalen Konstruktivismus eines Ernst von Glasersfeld oder einen kybernetischen Konstruktivismus eines Heinz von Foerster zu der Überlegung, dass eine absolute Realität und objektive Erkenntnis außerhalb der individuellen subjektiven Re-Konstruktion in einem Individuum durch Wahrnehmung nicht „denkbar“ ist: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ (Pörksen/v. Foerster, 202213). Die Welt wird nur durch die und in der eigenen Interpretation von Phänomenen erfassbar. Konstruktivistisch denkende Menschen leugnen die Existenz einer Außen-Wirklichkeit (sog. Realität) nicht. Sie bezweifeln aber, dass wir diese voraussetzungsfrei und objektiv erkennen können: die Welt ist also nicht in ihrem unmittelbaren Wesen zu erkennen. Konstruktivistischer denkend fragt der Beobachter nach dem zustandekommen von Realitätskonzepten: Gunther Schmidt nennt dies „Realitätenkellnern“ (Schmidt, 20219). Alle Spielarten des konstruktivistischen Denkens sind (vorläufig) davon überzeugt, dass Erkenntnis und Wissen nicht auf der Korrespondenz mit einer externen Wirklichkeit beruhen (Korrespondenztheorie der Wahrheit), sondern auf viablen (das heißt nützlichen und [vorläufig] brauchbaren) Konstruktionen eines Beobachters, eines Erkennenden beruht (Glasersfeld, 1997). Diese Konstruktion(en) sind sowohl individueller Schöpfungsakt, als auch durch komplexe Entwicklungen in Natur, Kultur, Sprache, Geschichte und Medien bedingt und sie sind keines von beiden. Die Umgebung und Welt, wie wir sie wahrnehmen ist eine Re-Konstruktion (Er-„findung“) von uns in der Interaktion mit der sozialen Umwelt und Umgebung. Individuen reagieren nicht auf Reize aus einer objektiven Welt, sondern erzeugen mit Hilfe von Sinneseindrücken eine subjektive Realität, die von der individuellen Prägung des Individuums abhängig ist.
Der Blick aus dem Gehirn in das Gehirn durch das Gehirn: die Er-Rechnung der Welt
In konstruktivistischer Sicht wird der Mensch als informationell weitgehend geschlossenes System verstanden, welches auf Autopoesis (Hoffmann, 2022), zirkulärer Kausalität und Selbstreferentialität beruht und autonom (struktur)determiniert ist. Die Computermetapher, an die wir uns so gewöhnt haben, mit ihrer Output und Input bzw. Sender/Empfänger-Logik greift hier zu kurz. Will nach Mack (2016) heißen: es unmöglich bei der Interaktion mit der Umwelt Nervenzellen auszutauschen. Die Wahrnehmung ist also individuell auf das gestützt, was alle Sinnesorgane und das Gehirn aus den jeweiligen Reizen machen. Nervenzellen sind rein binär: sie kennen nur (0) oder (1), an/aus, feuern/ nicht feuern: es werden also rein elektrische Impulse von den Sinneszellen und dem Gehirn so verarbeitet, dass nur Unterschiede im Sinne von Kontrast in zeitlicher oder räumlicher Veränderung weitergeleitet werden (Konnektom). Die chemischen Übertragungen durch das Umschalten von elektrischer auf chemische Energie an den Synapsen modifiziert die Veränderungen lediglich. Neuronale Körperfunktionen und Strukturen geben nur das weiter, was für stetiges Werden dienlich ist (Maturana, 1970, 1990; Maturana/Varela, 1987, 2009). Da die wahrgenommene Außenwelt nur eine Re-Konstruktion eines aktiven Gehirns ist, können wir daher nicht wissen, wie die Welt wirklich ist: die Wahrnehmung erzeugt nur nach den biologisch gegebenen Gehirnverknüpfungen in unserer Phantasie eine von vielen möglichen Welten. Der Konstruktivist stützt sich dabei auf neurowissenschaftliche Forschungen, die uns (vorläufig) zeigen, dass das Gehirn bei der Wahrnehmung der Außenwelt diese nicht so erkennt, wie sie wirklich ist, vielmehr konstruiert es gesteuert von Nervenimpulsen in neuronalen Netzwerken in einer Zeit- und Raumdimension (Pöppel, 2006) selbst diese Wahrnehmung und versieht sie auch mit der entsprechenden individuellen Bedeutung (Wahrgebung). Das gilt natürlich nicht nur für scheinbar real wahrgenommene Dinge der Außenwelt wie Häuser, Menschen, Steine, Bäume oder Autos, sondern auch für die Betrachtung der Mechanismen der Kognition und des Gehirns selbst. Konsequenterweise sind auch die neurowissenschaftlich erhobenen und beobachteten Eigenschaften des menschlichen Gehirns selbst auch nur menschliche Konstrukte. Jeder Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Denkprozess beruht auf den Konstruktionen eines Beobachters. Es interessiert den Konstruktivisten daher, was sich als nützlich bzw. viabel erweist. Für den Konstruktivismus ist der menschliche Organismus ein System, das zwar energetisch offen und mit der Umwelt strukturell gekoppelt ist und gleichzeitig informationell geschlossen agiert, sodass das Gehirn nur auf die bereits verarbeitete und interpretierte Information von außen reagiert (Autopoiesis). (Stangl, 2022). Folge dieser Sichtweise ist die konsequente Trennung von Beobachtung und Beobachter und die Beobachtung des Beobachters (Simon, 2018): „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“ (Maturana 1998, S. 25) Es dürfen die Wahrnehmungen bzw. die Re-Konstruktionen unserer Welt freilich nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden. Die Metapher, die hierfür häufig gewählt wird, ist der Unterschied zwischen Landschaft und Landkarte: „The map is not the territory“. Im kommunikativen Austausch und in der Betrachtung des Beobachtens/Beobachters können wir uns über Landkarten austauschen, wir sehen aber nicht die Landschaft, die der Betreffende in sich selbst re-konstruiert.
Wider die Trivialität der Welt –Komplexität und nicht-lineare Kausalität(en)
Abstraktion der Wahrnehmung vom Beobachter und eine „Verdinglichung“ der Objektivität von Naturwissenschaften gehen davon aus, dass untersuchte Gegenstände charakteristische objektive Eigenschaften aufweisen: Input-Output-Relationen, Regeln, Vorhersagen. Dies zeigt sich im linear-kausalen Interpretieren von trivialen Maschinen (v. Foerster, in: Simon, 20178), wobei der Maschinenbegriff hier sehr weit zu fassen ist. Von Foerster unterscheidet diese trivialen Maschinen in ihrer A-B-C-D-Logik von komplexen (menschlichen) Systemen, die grundsätzlich nicht-trivial, also nicht kausal-linear-logisch zu verstehen sind (v. Foerster, 1988 in: Simon, 20178). Ursache und Wirkung hängen nicht kausal-logisch zusammen und (Verhaltens)Vorhersagen sind daher auch nicht in einer kausalen linearen Ursache-Wirkungslogik zu treffen, sondern bestenfalls in einer (vorläufig)  viablen Plausibilitätsheuristik. Die menschliche Umwelt – das System und die Gegenübersysteme des Menschlichen – sind nicht-trivial und damit auch nicht in trivialer „naiver“ Kausallogik zu beschreiben: Komplexität ist das Stichwort, das an dieser Stelle eingeführt wird. Komplexität ist ein opaker, ambiger bzw. ein paradoxer Begriff: er beschreibt als Ganzheit, was eigentlich vielfältig ist. Das Wahrnehmen von Komplexität wird in Systemen reduziert – eine andere Komplexität wird re-konstruiert.  Das Phänomen der Komplexität, der Komplexitätsreduktion und der Komplexitätsvergessenheit wird von Nassehi (2018) ausführlich in seiner Bedeutung für unsere Gesellschaft und die Wissenschaft beleuchtet.
Beobachten, Beobachter,
Bezeichnen – Unterschiede, die Unterschiede machen
Bateson (1972, 1982, 1985) gibt einen weiteren zentralen Hinweis auf die Kopplung von Wahrnehmung und Lebenswelt(ein)sicht: „(…) Wahrnehmung arbeitet nur mit Unterschieden. Jede Informationsaufnahme ist notwendig die Aufnahme einer Nachricht von einem Unterschied, und alle Wahrnehmung von Unterschieden ist durch Schwellen begrenzt. Unterschiede, die zu klein oder zu langsam dargestellt sind, können nicht wahrgenommen werden.“ (Bateson, 1982, S. 39f) Er definiert also Information(en) als Unterschiede, die den Unterschied machen, die hinwiederum von der jeweiligen Aufmerksamkeitslenkung abhängig ist. Botschaften, Beobachtungen, kommunizierte Inhalte aller Art hängen also nicht mehr von der Bedeutungsgebung (Bezeichnung) eines vermeintlichen Senders und dem möglichst. „richtigen/korrekten“ Empfang eines vermeintlichen Empfängers ab. Vielmehr sind diese maßgeblich von den Interpretationsschemata des vermeintlichen Empfängers: von den Unterschieden, die für den „Empfänger“ einen zentralen Unterschied machen, geprägt und abhängig. Jeder Zustand, den wir durch Unterschiede kennzeichnen können, die für uns einen Unterschied machen, sind sog. „markierte Zustände“ (Spencer-Brown, 1969, in: Simon 20178); diese Unterschiede zwischen markierten und nicht-markierten Zuständen sind vom jeweiligen Beobachter und deren Kontexten bestimmt. Beobachten besteht aus der Einheit von Unterscheiden und Bezeichnen: wir „benennen“ Unterscheidungen, indem wir Unterscheidungen miteinander korrelieren. „Man vollzieht eine Handlung (man macht einen Unterschied = markiert einen Raum) und gibt ihr (ihm) einen Namen (bezeichnet ihn durch ein Signal).“ (Simon, 20178). Voraussetzung für diese Sichtweise ist eine allparteiliche epistemologische Metaperspektive, ohne ontologische Festlegungen.
Denken ohne Sprache ist
unmöglich: Kommunikation und Sprache als Medium der Reflexion und des Denkens
In der Konsequenz des konstruktivistischen Denkens das Denken zu be-denken sieht Watzlawick die Wirklichkeit als Ergebnis von Kommunikation und nicht von objektiven Wahrheiten (Watzlawick, 1992). Aus der Metaperspektive betrachtet existiert also nicht eine Wirklichkeit, sondern plurale Wirklichkeiten, die alle nebeneinander existieren (können) und so auch kommunikabel sind. Watzlawick warnt immer wieder davor, die eigene Wirklichkeit als die allgemein gültige anzusehen und zu „verkaufen“: absichtliche Verweigerung von Kommunikation und erhebliche Kommunikationsstörungen sind nach Watzlawick die häufige Folge.
Für die Theda Rehbock (2009) war es ein zentraler Argumentationspunkt, die Sprache als mehr „als bloßes Element der Mitteilung“ zu betrachten. Im Sinne Wittgensteins, dass „alle Philosophie Sprachkritik darstellt“ (Wittgenstein, 1960) ist der Ausgangspunkt des Denkens Sprache als Lebenselement des Denkens, der menschlichen Erkenntnis und Selbsterkenntnis, aber auch als Sprache selbst Instrument menschlichen Lebens und Handelns zu betrachten. Es bestand für Rehbock immer ein deutlicher und enger Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Sprache und Alltagssprache, der sich auch in der Bedeutung literarischer Sprachmittel in der Sprache der Wissenschaften niederschlägt. Mit Merleau-Ponty (2013) kritisiert sie immer wieder die Wissenschaftssprache in ihrer objektivistischen Auffassung und Reduktion auf langue. Sie setzt dagegen die Sprache als parole, als lebendige Rede, Gegenrede und Sprechen. Auch die immanente leiblich biologische Verankerung der Sprache als „matter-involving“ war für Rehbock klar in die theoretischen Überlegungen einzubeziehen. Diese Erkenntnisse sind heute in den polyvagal informierten Theorien (Porges, 20102) (neuro)wissenschaftlich untermauert. Für Rehbock sowie für Porges bedeuten Sprache und die Versprachlichung das viable Erzeugen brauchbarer intersubjektiver Vorstellungen durch Sprache als Lernprodukt aus (sozialer) Interaktion: Wörter bedeuten Begriffe, Begriffe deuten auf Vorstellungen und Konzepte. Wortbedeutungen sind (inter)subjektive Konstrukte, die eben nur relative (Wert)urteile zulassen. Rehbock geht in ihren sprachphilosophischen Aussagen immer von Sprachlichkeit als Grunddimensionen personalen Sinnhorizonts im Verhältnis zum anderen als personalem Gegenüber in einem gemeinsamen Weltbezug aus. Normengebend war für sie hier das Verstehen in Beziehung zur Beobachtung der Beziehung zueinander. Sprache ist das Medium und die Handlung: Hard- und Software zugleich, mit dem wir uns nicht nur über Wirklichkeit(en) austauschen, sondern diese auch konstitutiv mitgestalten: Es kann also im Austausch der möglichen Wirklichkeiten eigentlich kein „Verstehen“ des Anderen geben, sondern im besten Falle ein „glückliches Miss-Verstehen“ oder das Konsensieren über das, was wir als Deutung gemeinsam für Wirklich halten wollen und das Aushalten von Ambiguitäten und Dilemmata, was diese Bedeutungsgebungen für das Individuum be-deuten (können).
Konsequenzen für die Versorgungsforschung, Management und eine „neue“ BWL
Die Versorgungsforschung re-konstruiert Kommunikation(skontexte) für ein reales Gesundheitswesen. Sie entwirft und gestaltet durch ihre Fragestellungen und die Art und Weise zu forschen und ihre Kommunikation Realität mit: nicht nur durch das „Was“, sondern auch durch das „Wie“, das „Wo-Für“ und (häufig unterschätzt) durch das „Wie-Für“ im „Wo-Für“ (Reinhard, 2014). Es sind nicht nur Entscheidungen, die Wirklichkeit(en)/Realität(en) ändern. Auch wie wir vermeintlich wahre Sachverhalte „zur Sprache bringen“, verändert die Wahrnehmung und Re-Konstruktion(en) unserer Wirklichkeit(en). Wir treffen also in unserer Umwelt nicht auf eine „wahre/reale“ Umwelt, sondern auf eine von und durch uns gestaltete und konstruierte und er-rechnete Lebenswelt. Das Umschalten von einer objektiven Realität zu einer konstruierten Realität steigert die Verantwortung, die es wahrzunehmen gilt (Pichler-Training, 2022). Versorgungsforschung – konstruktivistischer gedacht – reagiert nicht auf eine vermeintlich objektive Realität, die zu erfassen wäre, um zweckrational zu handeln. Konstruktivistischere Versorgungsforschung fördert die Abkehr vom (überkommenen) Modell des zweckrational handelnden homo oeconomicus hin zu einer komplexitätsbewussten nicht linear-kausal-logischen Sichtweise: Sie rückt verantwortungsvolles Handeln in einem chaotischen, komplexen Umfeld in den Mittelpunkt. Was Kaspar und Mayrhofer (2015) für das Management konstruktivistischer formuliert haben, gilt in dieser Form auch für die Versorgungsforschung: „(Management) heißt Gestaltung – ja, aber nicht oder allenfalls nur zu einem kleinen Teil im klassischen Sinne des Machertums, sondern vielmehr im Sinne der Gestaltung und Rahmung von Wirklichkeit durch Herbeireden, Handeln, Entscheiden. In diesem Sinne erzeugt Management die Wirklichkeit, die es nachher als die ihre behandelt. Zur Sicherheit: Nicht nur Management generell, sondern auch die als „hart“, „eindeutig“, „quantitativ“ bezeichneten Spielarten der Betriebswirtschaftslehre, wie die eingangs genannten, tun das – über ihre Vorannahmen, ihre Quantifizierungen etc. Mit einem solchen Schwenk von „objektiver Wirklichkeit“ zu „konstruierter Wirklichkeit“ tritt die Gestaltung der Welt im Sinne der Konstruktion von Wirklichkeit in den Vordergrund. Wirklich wird, was einflussreiche Akteurinnen und Akteure – individuelle wie einzelne Personen aus z. B. Wirtschaft, Politik, Religion, Wissenschaft oder Kunst, oder Kollektive wie z. B. Vorstand oder Aufsichtsrat – (als) wirklich sehen. Die Chance, diese Wirklichkeiten mitzugestalten, zu korrigieren und zu ändern, besteht in der Einsicht, dass es keine von uns unabhängige Realität auch in Bezug auf harte Daten, Zahlen und Fakten gibt. Es bedarf „kritischer Beobachter:innen  [der Beobachtung – Anm. des Autors], die nicht alles im Sinn der objektiven Wirklichkeit zu beschreiben und zu interpretieren versuchen, sondern zur Kenntnis nehmen, dass es nicht eine Wirklichkeit gibt, sondern viele. Diese Wirklichkeiten werden von Einzelnen oder Gruppen definiert und sind dann für diese handlungsleitend. Oft geschieht es, dass sogar andere Wirklichkeiten wie z. B. ,die Märkte‘ nicht wahrgenommen werden können oder bewusst ausgeblendet bleiben. Der Ausweg: Kritisch beobachten und beschreiben, kritisch reflektieren und interpretieren und mit anderen einen interaktiven Austausch von Dissens zu pflegen und dabei die unvermeidlichen Konstruktionen von Wirklichkeiten akzeptieren“.
Im Sinne einer Ermöglichungsorientierung nach Arnold (2019, 2017, 2014) führt das zu transformationalem Lernen und Handeln – auch in Systemen. Nassehi (20182) bezeichnet dies als Option zur Optionssteigerung: ein Unterschied, der den Unterschied macht. <<

Zitationshinweis: Greß-Heister, M.: „Konstruktivismus“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (05/22), S. 46-49. http://doi.org/10.24945/MVF.05.22.1866-0533.2443

 

Zitat

Markus Greß-Heister M.A., LL.M. , Akademischer Mitarbeiter BWL-Gesundheitsmanagement an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Lörrach
„Der Konstruktivismus macht das Leben schöner, einfacher und gleichermaßen komplexer, diverser und farbiger, weil man den Drang verliert, recht zu haben.“

Ausgabe 05 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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