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Organisatorische Spannungen

28.11.2022 11:00
Organisatorische Spannungen („Tensions“) bezeichnen Konflikte, die aus gegensätzlichen, mitunter widersprüchlichen Ansichten und Anforderungen in einer Organisation hervorgehen (Smith/Lewis 2011, 2022; Putnam et al. 2016; Farjoun 2017). In Situationen, in denen unterschiedliche Entwicklungsrichtungen und Perspektiven aufeinandertreffen, werden diese Spannungen wahrnehmbar. Die den Spannungen zugrundeliegenden Gegensätzlichkeiten in einer Organisation können dabei unterschiedlich stark sein und von einfachen Diskrepanzen und differierenden Ansichten, über Dilemmata, also gegensätzlichen Handlungsoptionen, bis hin zu unauflösbaren Widersprüchen bzw. Paradoxien reichen.

http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2462

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>> Spannungen sind zum einen Symptome für Veränderungsprozesse, insbesondere wenn nicht alle Teilveränderungen in gleicher Richtung und/oder in gleicher Geschwindigkeit verlaufen. Spannungen haben zum anderen aber auch das Potenzial, weitere Aktionen und Reaktionen in einer Organisation auszulösen, die verstärkend oder eindämmend auf Veränderungen wirken. Neben der Analyse von Ursachen und Ausprägungen relevanter Spannungen ist daher auch der Umgang mit ihnen von zentraler Bedeutung für ein besseres Verständnis für Art und Verlauf von Veränderungsprozessen. So ist die Anwendung geeigneter Managementstrategien entscheidend um zu beeinflussen, wie gut und reflektiert ein Unternehmen in Veränderungsprozessen mit entstehenden Spannungen umgeht und wie gegebenenfalls zielgerichtet auch deren Aktivierungspotenziale im Hinblick auf erwünschte Veränderungen genutzt werden können (Smith/Lewis 2011) (s. Abb. 1).
Hintergrund
Nach Wendy Smith und Marianne Lewis ist der Ausgangspunkt für die Betrachtung und Bewältigung organisatorischer Spannungen die theoretische Auseinandersetzung mit organisatorischen Paradoxien. Diese haben die Forscherinnen seit Beginn des 21. Jahrhunderts durch ihre Arbeiten maßgeblich vorangetrieben und geprägt (u. a. Lewis 2000; Smith/Lewis 2011, 2022; Lüscher/Lewis 2008; Smith et al. 2017).
Die Betrachtung von Gegensätzen innerhalb von Organisationen reicht weit zurück und erreichte mit der Entwicklung der Kontingenztheorie in den 1960er Jahren einen wichtigen Meilenstein. Aufbauend auf der Erkenntnis, dass innerhalb einer Organisation unterschiedliche Auffassungen über Ziele und Vorgehensweisen sowie daraus entstehende Implikationen für die organisatorische Ausrichtung bestehen, wurde die These abgeleitet, dass ein Ausgleich miteinander in Konflikt stehender Anforderungen die Effektivität einer Organisation erhöht (u. a. Lawrence/Lorsch 1967).
Smith und Lewis setzen hier an und erweiterten die Debatte hinsichtlich gegensätzlicher Anforderungen maßgeblich durch die Fokussierung auf stark widersprüchliche Anforderungen: Ein holistisches, theoretisches Modell organisatorischer Paradoxien. So stellen die widersprüchlichen Anforderungen eines Paradoxes einen besonders starken und beständigen Gegensatz dar. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass diametral widersprüchliche Anforderungen erfüllt werden müssen, damit eine Organisation weiter bestehen kann. Dies ist bei einer weniger stark ausgeprägten Gegensätzlichkeit, wie bspw. einem Dilemma, nicht der Fall, da dieses auch durch die Erfüllung einer Anforderung oder durch sachliche und zeitliche Trennung relevanter Anforderungen aufgelöst werden kann. Aus diesen Überlegungen konzeptualisieren Smith und Lewis ein rekursives, zyklisches Modell, wie Entscheidungsträger als relevant wahrgenommene Spannungen versuchen zu bewältigen und damit selbst wieder Impulse für den weiteren Veränderungsprozess setzen: Notwendige Entscheidungen des Managements begründen immer wieder neue Spannungen, sind aber selbst auch wieder davon geprägt, die Folgen als relevant wahrgenommener Spannungen bewältigen zu wollen (Smith/Lewis 2011).
Diese Betrachtungsweise hat Relevanz: Mit zunehmender Dynamik des relevanten Umfeldes, eines immer kompetitiveren Wettbewerbs sowie sich verändernden rechtlichen und gesellschaftlichen Anforderungen sehen sich Organisationen zunehmender Komplexität ausgesetzt. Diese und weitere Faktoren führen zu gegensätzlichen Anforderungen beim Handeln innerhalb und zwischen Organisationen. Dies löst Spannungen aus: Neu entwickelte Ansätze treffen auf etablierte Praktiken, interne Vorgaben treffen auf externe Bedarfe und das Autonomiestreben der Akteure trifft auf Standardisierung. Die unterschiedlichen Anforderungen stellen dabei gegensätzliche Pole dar, die zu Reibungspunkten und letztendlich zu Spannungen führen. Diese Spannungen sind a) sowohl Symptom für potenziell vermeidbare Schwierigkeiten als auch b) möglicher Treiber für Aktionen und Reaktionen, die die Organisation in ihrer Wettbewerbsfähigkeit und ihrem Erfolg voranbringen. Gelingt es, Ursachen und Lösungsmöglichkeiten von Spannungen besser zu verstehen, stellt dies nach Smith und Lewis einen wichtigen Schritt dar, um durch die auf diese Weise gewonnene, organisatorische Reflexivität Konflikte aufzulösen und die Effektivität der Organisation zu steigern.
Smith & Lewis (2011) haben vier Hauptkategorien organisatorischer Spannungen identifiziert und beschrieben (hier nach Gersch 2022 mit Beispielen aus Haring et al. 2022):
• Organisatorische Spannungen (Organizing tensions) treten auf, wenn typischerweise mehrere, miteinander zu kombinierende Organisationssysteme konkurrierende Designs und Prozesse bedingen (zum Beispiel Differenzierung vs. Standardisierung (Gregory et al. 2015)),
• Ausführungsspannungen (Performing tensions) entstehen unter anderem, wenn mehrere Akteure divergierende Ziele in einer sachlich notwendigen Zusammenarbeit verfolgen (zum Beispiel Qualitätsverbesserung vs. Implementierungskosten (Shaller 2004)),
• Lernspannungen (Learning tensions) beinhalten die Nutzung und oft die Zerstörung vergangener Praktiken, um neue zu schaffen (zum Beispiel Erleichterung für Externe vs. Zufriedenheit der Internen (Rowe/Hogarth 2005)),
• Zugehörigkeitsspannungen (Belonging ten-
sions) ergeben sich aus konkurrierenden Identitäten, mit denen sich Individuen identifizieren. Diese treten unter anderem bei der versuchten Verschiebung, Neuzuteilung oder Veränderung von Aufgaben über etablierte Berufsgrenzen hinweg auf (zum Beispiel Interdisziplinäre Arbeit vs. Berufliche Autonomie (Lehn et al. 2018)).
Darüber hinaus gibt es auch Zwischenkategorien, mit denen Spannungen klassifiziert werden können, die nicht eindeutig in eine Kategorie fallen, sondern zwischen zwei verschiedenen Kategorien liegen. Die nachfolgende Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Kategorien organisatorischer Spannungen.
Umgang mit organisatorischen Spannungen
Ein wirksamer Umgang mit Spannungen und der mit ihnen verbundenen Dynamiken berücksichtigt beide Pole der Gegensätzlichkeit und gibt Antworten zum Umgang mit divergierenden Anforderungen. Auf diese Weise können konstruktive Effekte erzielt werden (virtuous cycles) und zu Synergien führen, die den Austausch und die Entwicklung einer Organisation fördern. Andererseits kann die Nichtbeachtung organisatorischer Spannungen bzw. der gegensätzlichen Pole zu destruktiven Effekten führen (vicious cycles). Unzureichend wäre das Zulassen unreflektierter Reaktionsdynamiken oder ein Fokus auf die Vermeidung und/oder möglichst schnelle Überwindung jeglicher Spannungen. Für eine reflexive und produktive Bewältigung von Spannungen ist es daher erforderlich, geeignete Maßnahmen auszuwählen, um auf die unterschiedlichen Arten und Stärken von Spannungen angemessen zu reagieren (Lüscher/Lewis 2008; Lewis 2000; Huq et al. 2017).
Die folgenden drei Managementstrategien haben sich als Grundtypen bewährt, um je nach Situation virtuous cycles zu fördern und vicious cycles zu vermeiden (Lewis 2000; Smith/Lewis 2011, 2022; Gregory et al. 2015; Putnam et al. 2016):

Ansatz 1: Entweder-oder (Either-or)
Der Ansatz versucht widersprüchliche Anforderungen zu trennen und den Konflikt derart zu lösen, dass ein Element dem anderen vorgezogen wird oder Spannungen räumlich und/oder zeitlich getrennt werden. Dieses Vorgehen kann jedoch auch zu vicious cycles führen, wenn die gegensätzlichen Pole wiederkehrend und systematisch unterschiedliche Berücksichtigung finden. Die Managementstrategie hat grundsätzlich das Potenzial, schwache Konflikte aufzulösen, für stärkere Spannungen und Paradoxien ist jedoch zumeist ein komplexerer Ansatz erforderlich.

Ansatz 2: Sowohl-als-auch (Both-and)
Der Sowohl-als-auch-Ansatz zielt darauf ab, eine Balance zwischen den gegensätzlichen Polen zu erreichen und diese zu integrieren, wobei die gegenseitige Abhängigkeit der widersprüchlichen Elemente berücksichtigt wird. Diese Managementstrategie birgt die Gefahr, das positive Potenzial von Spannungen nicht auszuschöpfen.

Ansatz 3: Mehr-als (More-than)
Der Ansatz verfolgt das Ziel, aus dem Konflikt heraus eine neue Perspektive zu entwickeln oder ein neues Element zu schaffen, das die bestehenden Divergenzen übertrifft. Dieses Vorgehen zeichnet sich durch eine hohe Komplexität aus. Bei wirksamer Umsetzung kann diese Managementstrategie jedoch das positive Potenzial von Spannungen zur Schaffung neuer Antworten nutzen, während synergetische Potenziale im Bestehenden möglicherweise ungenutzt bleiben.
Verwendung und Nutzung
für die Versorgungsforschung
Auch die Versorgungsrealität ist von un-
terschiedlichen Stakeholdern aus diversen Sektoren mit divergierenden Berufs- und Erfahrungshintergründen geprägt. Bei Veränderungsprozessen innerhalb von Organisationen sowie in Kontexten von Projekten, Netzen oder Konsortien treffen diese aufeinander, interagieren und kooperieren. Die beteiligten Akteure können dabei unterschiedliche Auffassungen über Ziele und Vorgehensweisen sowie die Implikationen für die organisatorische und ethische Ausrichtung der Versorgung haben. Dies kommt auch in den unterschiedlichen Werten und Wahrnehmungen zum Ausdruck, die die heterogenen Arbeitskulturen und Stakeholdergruppen im Gesundheitswesen kennzeichnen. So wie unterschiedliche Merkmale von Gemeinschaft, Kontrolle, Heilung und Pflege den Behandlungsprozess selbst prägen, hat die Konfrontation zwischen Arbeitskulturen und -gruppen allgemeine Auswirkungen auf die Entwicklung der Gesundheitsversorgung (Haring et al. 2022; Glouberman/Mintzberg 2001).
Gleichzeitig erhöht diese Vielzahl an gegensätzlichen und wenig aufeinander abgestimmten Elementen auch die Komplexität. Dies führt dazu, dass es immer wieder zu potenziell vermeidbaren Konflikten und daraus resultierenden, destruktiv wirkenden Spannungen in Organisationen der Versorgung kommt. Ein für unterschiedliche Versorgungskonstellationen relevantes Beispiel einer Spannung ist der von Shaller (2004) beschriebene Konflikt zwischen der Integration („Integration“), die eine Zusammenarbeit der an der Versorgung beteiligten Akteure erfordert, und der Unabhängigkeit bzw. Eigenständigkeit („Independence“) nach der diese streben. Eine derartige Widersprüchlichkeit kann massive Auswirkungen auf den Erfolg eines Veränderungsprozesses und somit auch die Wettbewerbsfähigkeit einer Organisation im Gesundheitswesen haben (Haring et al. 2022).
Aufgrund dieser Relevanz ist a) ein besseres Verständnis der vielschichtigen Strukturen und Beziehungen erforderlich, um b) die durch die Spannungen sichtbar werdenden, bestehenden Widersprüchlichkeiten und Paradoxien in der Versorgung zu analysieren und derart c) nicht nur das Auftreten von Konflikten und ihre Ursachen besser bewältigen, sondern auch die durch Spannungen entstehenden Dynamiken zielgerichtet nutzen zu können.
Ein solcher Umgang stellt insbesondere mit Blick auf die sich verschärfende, finanzielle Situation der Krankenkassen ein Potenzial dar, welches gehoben werden sollte, um den Versorgungsalltag positiv zu beeinflussen. Veränderungsprozesse, die sich bereits jetzt Herausforderungen wie fehlenden Anreizstrukturen und der Komplexität des Systems ausgesetzt sehen, erfordern einen kreativen Umgang, um nicht Effizienz- und Kostendämpfungsmaßnahmen zum Opfer zu fallen. Die kontinuierliche Betrachtung und Bewältigung organisatorischer Spannungen sollte daher bei Veränderungsprozessen von der digitalen Transformation (z. B. Einführung der ePA) bis hin zum Vorantreiben integrierter Versorgungsmodellen (z. B. Umsetzung von Lotsenkonzepten) Berücksichtigung finden. <<

 

Zitationshinweis: Haring, M., Gersch, M.: „Organisatorische Spannungen“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/22), S. 45-47. http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2462

Zitat


„Veränderungsprozesse in der Versorgung befinden sich im Spannungsfeld unterschiedlicher Anforderungen und Erwartungen der Akteure. Eine Stärkung der interdisziplinären Kooperation trifft auf das Streben nach professioneller Autonomie der Akteure (Lehn et al. 2018) oder Aktivitäten zur Qualitätssteigerung stehen im Konflikt mit den dafür erforderlichen Kosten (Shaller 2004), um nur zwei Beispiele zu nennen. Wie diese gegensätzlichen, mitunter widersprüchlichen Anforderungen bewältigt und die durch die Spannungen entstehenden Potenziale nutzbar gemacht werden können, ist seit vielen Jahren Gegenstand der Organisations- und Managementforschung (u. a. Smith/Lewis 2011). Auch die Versorgungsforschung kann von diesen Perspektiven profitieren, um für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens relevante Erkenntnisse zu gewinnen und Strategieimpulse zu setzen.“
Malte Haring 1, Prof. Dr. Martin Gersch 2
1: Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover
2: Department Wirtschaftsinformatik, School of Business & Economics, Freie Universität Berlin

Ausgabe 06 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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