Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen_2022 MVF 06/22 Freie Fahrt für die Versorgungsforschung?
x
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Freie Fahrt für die Versorgungsforschung?

28.11.2022 10:10
Zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Nutzung der GKV-Routinedaten für die Versorgungsforschung: Für die Versorgungsforschung, aber auch für viele andere Beteiligte, die im und für das Gesundheitswesen tätig sind, sind Zugang und Verfügbarkeit natürlich in besonderer Weise wichtig. Das noch von der Vorgängerregierung verabschiedete „Datennutzungsgesetz“ (DNG) (Bundesministerium der Justiz 2021) hat hierzu den Stein ins Rollen gebracht, unter anderem den Begriff der „Forschungsdaten“ eingeführt1, aber letztlich mehr Fragen aufgeworfen, als dass brauchbare Regulierungen dabei herausgekommen sind.

http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2458

PDF

>> Eine dieser Lücken ist die Definition, was denn „Forschungsdaten“ seien und insbesondere, ob Routinedaten der GKV solche seien. Dies zu klären, ist nun die Aufgabe anderer Gesetze, wie dem 5. Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V), dem Forschungsdatengesetz, dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz und auf europäischer Ebene dem European Health Data Space.
Für Versorgungsforschung und alle, die im oder für das Gesundheitssystem tätig sind, ist die Frage, ob der Zugang zu Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung vereinfacht und eindeutig geregelt wird, von herausragender Bedeutung. Um es mit Helmut Kohl klar zu sagen: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“. Den langen Weg bis zur Freisetzung des Potenzials dieser Daten, die bisherigen Sackgassen der Politik, die Findigkeit der Gesellschaft, Lösungen zu entwickeln, die ungelösten Probleme und potenziellen Auswege zu skizzieren, das ist Gegenstand dieses Artikels, der nur anreißen kann und Ausgangspunkt für eine Serie von vertiefenden Publikationen sein will.

Der lange Weg der GKV-Routine-daten zur Versorgungsforschung

Die medizinische Versorgung einer Bevölkerung ist viel mehr als die Anwendung von Medizin. Die Medizin kann noch so weit entwickelt sein, ob und wie sie bei einer Bevölkerung ankommt und welchen Nutzen sie stiftet, kann davon stark abweichen. „Viel hilft viel“ gilt hier nicht automatisch. Das haben Lichtner und Pflanz bereits zu Beginn der 70er Jahre im Hinblick auf die Appendektomie gezeigt (Lichtner und Pflanz 1971) und darüber hinaus, dass die häufige Durchführung dieser Operation auch möglicherweise für die erhöhte Sterblichkeit an Appendizitis verantwortlich sein kann. Diese damals bahnbrechende Publikation war der Anstoß, die Versorgungswirklichkeit nach Abweichungen abzusuchen, die nicht mehr epidemiologisch erklärt werden können (Neuhaus et al.
1985), und die Frage nach der (sozial-)medizinischen Rationalität und der ökonomischen Effizienz aufzuwerfen: „Bekommen die Versicherten die Leistungen, die sie brauchen? Und brauchen sie die Leistungen, die sie bekommen?“ (Swart und Ihle 2005).
Die ersten Anläufe zur Nutzung von Routinedaten gehen bereits auf die 1970er Jahre zurück, als die Ortskrankenkassen in Bayern begannen, ihre papierförmigen Abrechnungsbelege auf digitale Datenträger zu übertragen (Debold 1976). Das damals für die Krankenversicherung zuständige Bundesarbeitsministerium förderte in den 80er Jahren dann Modellversuche, an denen mehrere unterschiedliche Krankenkassen an verschiedenen Stellen in Westdeutschland beteiligt waren (Meye und Schwartz 1984). Im Kontext dieser Projekte sind Arbeiten entstanden, die sich zum einen mit der Messung und dem Vergleich von Leistungsmengen beschäftigt haben, aber auch mit Analysen der Versorgung, die sich mit Fragen der Qualität und Evidenzbasierung der Versorgung befassten (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1990). Als Folge der Projekte und Modellversuche der 70er und 80er Jahre entstand eine nachhaltige Verbindung mit dem neuen Begriff „Versorgungsforschung“ (Häussler 1990).
Dass Forschungsaktivitäten mit Routinedaten nach der Wiedervereinigung bis zur Mitte der 2000er Jahre verebbten, hat sicherlich damit zu tun, dass geeignete Datensätze von Krankenkassen bis dahin praktisch nicht zur Verfügung standen und dass auch nur wenige Forscher diese nachfragten. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Wiedervereinigung auch die Diskussion im Gesundheitswesen prägte. Darüber hinaus füllten Themenfelder wie „Qualitätssicherung“, „Disease Management“ und „evidenzbasierte Medizin“ zwischen 1990 und 2005 den intellektuellen Raum der Reformdebatte im Gesundheitswesen.
Eine neue Dynamik für die Nutzung von Routinedaten für die Versorgungsforschung ergab sich erst, als eine kleinere Krankenkasse eine Kooperation mit einer akademischen Einrichtung eingegangen war. Dies erfolgte vor dem Hintergrund des GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetzes, das 2004 in Kraft getreten ist, was mit den neuen Paragrafen 303a bis 303f SGB V zur „Datentransparenz“ zumindest den Willen des Gesetzgebers signalisierte, dass Transparenz durch GKV-Daten gewollt sei. Als weiterer Treiber kam die Entwicklung des „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ (Morbi-RSA) hinzu (Reschke et al. 2005). In dieser Zeit erschien auch die erste Auflage des Handbuchs Sekundärdatenanalyse „Routinedaten im Gesundheitswesen“ (Swart und Ihle 2005), das die erste systematische methodische Darstellung lieferte. Das „Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung“ wurde im Jahr 2006 gegründet und im Jahr 2010 unterstrich auch die Bundesärztekammer ihr Interesse an Routinedaten (Swart et al. 2010).
Es dauerte dann noch bis Mitte der 2010er Jahre, dass – gemessen an einschlägigen Publikationen – die Nutzung von Routinedaten (Englisch: „claims data“) stark zunahm (s. Abb. 1), nachdem ab 2005 und 2010 bereits kleinere Anstiege der einschlägigen Publikationsaktivität zu beobachten waren. Die Häufigkeit von Publikationen zur „Versorgungsforschung“ hatte einen deutlichen zeitlichen Vorlauf gegenüber der Zunahme der Publikationen mit „claims data“, was darauf hinweist, dass das GKV-System den Bedarf an Zugängen zu Routinedaten, der ja seit den 80er Jahren bekannt war, nicht deckte.

50 Jahre Warten auf eine praktikable Regulierung des Zugangs zu Routinedaten

Wie kommt es, dass praktisch erst nach 2015 eine starke Publikationstätigkeit zu Forschungsarbeiten mit GKV-Routinedaten in Gang gekommen ist? Da alles, was die GKV betrifft, bekanntlich durch das SGB V hoch reguliert ist, und weil dies durch den Themenkreis „Datenschutz“ noch viel ernster ist, ist ein Blick auf die Entwicklung der einschlägigen Regulierung erforderlich.
Im „Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz“ wurde 1977 der § 223 in die Reichsversicherungsordnung (RVO) aufgenommen, nach dem eine „Krankenkasse (…) in geeigneten Fällen im Zusammenwirken mit den Kassenärztlichen Vereinigungen, den Krankenhausträgern für den jeweiligen Bereich sowie den Vertrauensärzten die Krankheitsfälle vor allem im Hinblick auf die in Anspruch genommenen Leistungen überprüfen“ und „den Versicherten und den behandelnden Arzt über die in Anspruch genommenen Leistungen und ihre Kosten unterrichten“ kann (Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1988, S. 56). Auf dieser Grundlage wurden die bereits erwähnten Modellversuche durchgeführt, deren Ergebnisse in das Gesundheitsreformgesetz von 1988 einmündeten, in dem die RVO von 1912 in das SGB V überführt wurde. Im Wesentlichen ging es dabei um umfassende Vorschriften zu Abrechnungs- und Wirtschaftlichkeitsprüfungen und den dazu notwendigen Datendokumentationen, nicht aber um Themen, die dem Kontext „Versorgungsforschung“ zuzuordnen sind, die in den Projekten allerdings thematisiert worden waren.
Es dauerte bis 2004, als der Gedanke der Datentransparenz mit dem „Gesundheitsmodernisierungsgesetz“ in den Paragrafen 303a bis 303f SGB V eine gesetzliche Grundlage bekommen hat, die nunmehr unter anderem „Institutionen der Gesundheitsversorgungsforschung“ zum Kreis derjenigen zählt, die GKV-Routinedaten nutzen dürfen, „soweit sie für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind“ (Bundesministerium für Gesundheit 2004). Publikationen auf der Grundlage dieser Daten blieben in den Folgejahren dennoch rar. Zuständig waren die damals noch bestehenden Spitzenverbände der Krankenkassen sowie die Kassenärztliche Bundesvereinigung.
Dies blieb auch dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) nicht verborgen, sodass Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr 2012 die erste „Datentransparenzverordnung“ (DaTraV) erlassen hatte (Bundesministerium für Gesundheit 2012).
Der wesentliche Gedanke dahinter war, mit dem „Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information“ (DIMDI) eine Institution zu benennen, die gegenüber der Aufgabe der Schaffung von Datentransparenz eine neutralere Haltung hat als die Vertretung der niedergelassenen Ärzte, deren Aversionen gegen eine Transparenz des Versorgungsgeschehens diese von Anfang an nicht für eine positive Grundhaltung prädestinierten2. Letztlich hatte auch die Kassenseite kein intrinsisches Interesse, da die Kassen bis heute vielfach die Ansicht vertreten, dass GKV-Routinedaten nur ihnen gehören und nur von ihnen genutzt werden sollen.
In der Praxis hat diese Idee keine Früchte getragen. Eine große Umständlichkeit der praktischen Umsetzung hat dafür gesorgt, dass bisher nur zwei Publikationen nachgewiesen sind, die angeben, dass die Routinedaten nach DaTraV zur Verfügung gestellt worden sind.
Dies hatte vermutlich auch das BMG so gesehen, das DIMDI (aus welchen Gründen auch immer) als eigenständige Behörde aufgelöst und dem BfArM eingegliedert. Außerdem hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn 2020 eine völlig überarbeitete Fassung der DaTraV erstellen lassen, die am 10.7.2020 in Kraft getreten ist. Wesentliche Änderung: „Die Aufgaben der Vertrauensstelle nach § 303c des Fünften Buches Sozialgesetzbuch nimmt das Robert Koch-Institut wahr. (…) Die Aufgaben des Forschungsdatenzentrums nach § 303d des Fünften Buches Sozialgesetzbuch nimmt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte wahr.“ (Bundesministerium für Gesundheit 2020, S. 1). Die Zuständigkeiten sind nun zum dritten Paar von Aufgabenträgern migriert, diesmal zu Behörden, die dem BMG unterstehen. Das BfArM bekommt ein Forschungsdatenzentrum (FDZ), das vermutlich zum Teil aus den Resten des DIMDI errichtet wird, das dem BfArM zugeschlagen wurde.
Ob die neue Konstellation die Verfügbarkeit von Routinedaten besser regelt als die „Lösungen“ der letzten 20 Jahre, ist noch nicht bewiesen. Bisher lässt sich jedenfalls noch nicht erkennen, dass die Prozesse mit der erwünschten Geschwindigkeit ablaufen. Hierzu die Website des FDZ Anfang November 2022, also mehr als zwei Jahre nach seiner rechtlichen Schöpfung: „Das neue Forschungsdatenzentrum Gesundheit befindet sich im Aufbau. (…) Erstmalig zum Kalenderjahr 2024 (sic!) wird, mit dem zu liefernden Berichtsjahr 2023, der gesamte im Gesetz festgelegte Datensatz übermittelt. (…) Zügigere Antragsbearbeitung: Diese wird u. a. durch ein elektronisches Antragsverfahren gewährleistet. Anträge können voraussichtlich (sic!) 2023 online gestellt werden.“ (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 2022). Vom Inkrafttreten der reformierten Datentransparenzverordnung im Jahr 2020 bis zur ersten Nutzung vergehen also mindestens vier Jahre.
Damit sehen wir der Tatsache ins Auge, dass mindestens bis ins Jahr 2024 kein homogenisierter, die gesamte GKV kassenübergreifend abbildender Datensatz verfügbar sein wird. Geht man zu den Anfängen dieser Analysen zurück (siehe oben), werden nahezu 50 Jahre vergangen sein, bis diese zentrale Forschungsinfrastruktur zur Verfügung stehen wird. Seit zwanzig Jahren arbeitet sich die Gesetzgebung an diesem Thema ab, ohne dass bisher ein Erfolg sichtbar ist.

Eine Selbsthilfebewegung mit erstaunlichem Erfolg

Vor diesem Hintergrund ist man erstaunt, die steile Zunahme von einschlägigen Publi-kationen beobachten zu können (s.  Abb. 1).
Diese Entwicklung lässt sich einfach dadurch erklären, dass der Bedarf an der Nutzung von GKV-Routinedaten so hoch war und dass verantwortliche Entscheidungsträger in der GKV ihre Ressourcen nutzen und diese mit anderen Interessierten teilen.
Aus der bereits erwähnten Analyse der Publikationsdaten lassen sich Rückschlüsse auf die beteiligten Datengeber, die an den Analysen beteiligten Forschungsunternehmen sowie auf den Umstand ziehen, ob Studien und Publikationen auch im Auftrag oder unter Beteiligung von Industrieunternehmen erfolgen.
Insgesamt ergibt sich ein differenziertes Bild der unterschiedlichen Konstellationen, in denen Routinedaten-Projekte stattfinden, wobei hier keine Projekte betrachtet werden, die nur mit einer Teilmenge von GKV-Daten durchgeführt werden (z. B. vertragsärztliche Abrechnungsdaten gemäß § 295 SGB V oder Leistungsdaten der Krankenhäuser nach §21 KHEntgG). Qualitative Aspekte der Analyse sind in Tabelle 1 wiedergegeben, quantitative in Abbildung 2. Die Ergebnisse in Kürze:
• In allen betrachteten Konstellationen werden Daten von Krankenkassen genutzt. Die Spannbreite reicht von großen Krankenkassen, die eigene Projekte durchführen oder in Kooperationen zur Verfügung stellen, bis hin zu Anbietern, die auf homogenisierte und anonymisierte Datensätze von verschiedenen Kassen direkt zugreifen können.
• Einzelne große und mittelgroße Krankenkassen verfügen über dezidierte Abteilungen oder gar Institute, die auf solche Analysen spezialisiert sind.
• Oft sind Forschungs-Dienstleister involviert, die meist umfangreiche Erfahrungen vorweisen können.
• Die Möglichkeiten für Industrieunternehmen sind je nach Datenquelle mehr oder weniger begrenzt. Der Bedarf an Daten für Untersuchungen mit „real world evidence“ ist sicherlich größer als das Angebot.
• Teilweise können Analysen vergütet werden, womit häufig eine kalkulierbare und zügige Bearbeitung verbunden ist.

Eine quantitative Darstellung der zeitlichen Entwicklung der unterschiedlichen Konstellationen ist nur für einen Teil der Publikationen möglich und soll lediglich Einblicke in die zeitliche Dynamik ermöglichen. Der projektweise Zugang bei Projekten aus dem Innovationsfonds wird hier ausgeblendet. Erkennbar ist, dass die relative Bedeutung
• der großen und mittelgroßen Krankenkassen als Datenquelle abnimmt (1. und 2.) und
• die Anbieter zunehmen, die einen eher direkten Zugang zu einem Datenpool haben (3. und 4.).

Es ist zu vermuten, dass erst die Vergütungsmöglichkeit für Analysen die Voraussetzungen schafft, entsprechende Kapazitäten aufzubauen und vorzuhalten und damit den steigenden Bedarf bedienen zu können.

Ungelöste Probleme und positive Beispiele aus dem Ausland

Die Selbsthilfe hat offensichtlich ganz gut funktioniert, insbesondere, weil sich viele Fragen auch ohne einen Datensatz beantworten lassen, der alle Versicherten der GKV umfasst. Natürlich wäre dieser aussagekräftiger, weil auch Fragen beantwortet werden können, die sich z. B. aus Kassenwechseln ergeben.
Dennoch gibt es im Status quo zahlreiche Unzulänglichkeiten, für die eine Lösung auf der GKV-Gesamtebene attraktiv wäre:
• Unzureichende Kapazitäten führen zu Wartezeiten.
• Zu wenig preislicher Wettbewerb zwischen Datenpools in den Konstellationen 3. und 4.
• Potenzielle Ungleichbehandlung von Anfragen in Abhängigkeit vom institutionellen Hintergrund oder Forschungsfragen.

Hier lohnt sich ein Blick zu zwei großen europäischen Nachbarländern mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen, aber vergleichbaren Datenstrukturen: Frankreichs nationale Krankenversicherung (Caisse Nationale de l‘Assurance Maladie – CNAM) und der National Health Service (NHS) in England. Sowohl die CNAM als auch der NHS stellen sehr detaillierte Daten3 zur Verfügung, die das stationäre und Teile des ambulanten Versorgungsgeschehens auf einer individuellen, pseudonymisierten Patientenbasis abbilden.4
In beiden Ländern besteht die Möglichkeit für öffentliche und private Organisationen, Lizenzen zu erwerben, die Analysen mit diesen Datensätzen ermöglichen. In England wurden im Jahr 2021 insgesamt 337 auf ein Jahr befristete Lizenzen vergeben, darunter etwa ein Drittel an die Verwaltungen von administrativen regionalen Einheiten und etwa zehn Prozent an Private, darunter etwa fünfzehn Beratungsunternehmen, die damit überwiegend Pharma- und Medizintechnik-Hersteller mit Analysen bedienen.
Der Erwerb der Lizenzen ist an hohe Auflagen gebunden, es werden Vor-Ort-Überprüfungen vorgenommen, und Zwecke definiert, die mit den Analysen verfolgt werden dürfen bzw. ausgeschlossen sind. Die Lizenznehmer müssen externe Gremien unterhalten, die die Nutzungszwecke der Daten überprüfen. Die Lizenznehmer werden publiziert, wobei ihre Maßnahmen und Instrumente zur Datensicherung und Vermeidung des Missbrauchs veröffentlicht werden (NHS Digital 2022).
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass zwischen 2005 und 2021 in England gut 1.900 Publikationen nachgewiesen werden können, die mit Routinedaten (HES) durchgeführt wurden und damit über dreimal mehr als die 596 Studien mit Routinedaten, die aus Deutschland stammen. Das Lizenzmodell, das auch in Frankreich angewendet wird, sollte daher für die Weiterentwicklung in Deutschland als eine ernsthafte Variante in Betracht gezogen werden. Letztlich haben die in Abschnitt 4 dokumentierten Konstellationen (insbesondere der Gruppen 3. und 4.) funktionale Äquivalente bereits in-stalliert, sodass wir auch innerhalb Deutschlands nicht von Null beginnen müssten.

Bringen uns aktuelle Reformversprechen weiter?

Vor diesem Hintergrund fällt der Blick auf die politischen Projekte, die von der gegenwärtigen Regierung angekündigt sind. Deren wichtigste Elemente sind das „Forschungsdatengesetz“ (FDG), der „European Health Data Space“ (EHDS) sowie das „Gesundheitsdatennutzungsgesetz“ (GDNG).
Was sind jeweils Potenzial und Stand dieser Initiativen?
• Das FDG ist in der Zuständigkeit des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und hat seine Bedeutung vor allem für den universitären akademischen Raum. Es soll die unübersehbar vielen Datensätze für weitergehende Nutzungen zugänglich machen, egal, ob es sich um öffentliche oder private Daten handelt. Bislang gibt es aus dem BMBF keine öffentlich verfügbaren Dokumente, die den Stand der Gesetzgebung erahnen lassen. Grundsätzlich muss aber mit einem prinzipiell hohen Konfliktpotenzial gerechnet werden, weil sich das Ziel, mit Daten ökonomischen Wert zu schöpfen, nicht damit verträgt, dass diese Daten gleichzeitig freigegeben werden können.
• Das GDNG ist ebenfalls im Koalitionsvertrag genannt, und wird in der Zuständigkeit des BMG vorbereitet. Es soll die Anschlussfähigkeit an den EHDS leisten und dabei insbesondere die elektronischen Patientenakten (ePA) über europäische Grenzen hinweg als Datenquellen nutzbar machen. Ferner soll es auch die Zusammenführung von Routinedaten mit Registerdaten über einheitliche Identifikationsnummern ermöglichen. Auch hierzu sind noch keine Dokumente verfügbar.
• Der EHDS ist ähnlich der General Data Protection Regulation (Datenschutzgrundverordnung) eine Europäische Rahmeninitiative (European Commission 2022). Diese macht Vorgaben für die Mitgliedstaaten und soll nationale Gesetzgebungen, wie das GDNG oder das FDG, strukturieren. Die Kommission hat schon einen ersten Gesetzentwurf vorgelegt und will diesen bis 2025 auf den Weg bringen.
Realistischerweise muss man derzeit davon ausgehen, dass die Nutzung von Routinedaten für die Gesundheitsforschung in erster Linie von der Umsetzung der 2. Fassung der Datentransparenzverordnung von 2020 abhängt. Die genannten Reforminitiativen können dazu „on top“ beitragen. Dennoch wünscht man sich derzeit vor allem, dass die elementare Datentransparenz im SGB V nach 50 Jahren Realität wird. Die zeitliche Perspektive ist damit das Jahr 2024. Wenn es darüber hinaus gelänge, parallel dazu ein Lizenzmodell nach europäischem Vorbild einzurichten, wäre auf längere Sicht ein großer Schritt erreicht.

Persönliche Nachbemerkung

Wenn man an der jahrzehntelangen Prozession auf dieser Via Dolorosa teilgenommen hat, kann man eine gewisse Bitterkeit nicht unterdrücken. Staat und Gesetzgeber waren sicherlich keine guten Anführer. Sie haben bisher nicht viel mehr als eine Bau-ruine im SGB V vorzuweisen. Wenn diese nicht von vielen einfallsreichen Menschen notdürftig bewohnbar gemacht worden wäre, wären wir vor uns selbst und unseren Nachbarn noch mehr blamiert, wenn es um die Nutzung des Digitalen in der öffentlichen Infrastruktur geht. Der Staat muss jetzt liefern und sich in der Konsequenz dazu durchringen, die Kreativität der Institutionen und Unternehmen zuzulassen. <<

von: Prof. Dr. Bertram Häussler, IGES Institut

 

Zitationshinweis: Häussler, B.: „Freie Fahrt für die Versorgungsforschung?“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (06/22), S. 28-32. http://doi.org/10.24945/MVF.06.22.1866-0533.2458

Daten, Daten, Daten

Daten sind der Rohstoff der Wissenschaft, weil Forscher sie dazu nutzen können, ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit zu überprüfen und weiterzuentwickeln. In einer Gegenwart, wo die Verfügbarkeit von Informationen unvorstellbar gestiegen ist, mutiert der Rohstoff zum Schatz: „Daten sind das neue Gold“ (Lenzen 2018). Im Zeitalter der „Evidenzbasierung“ hängt eben auch der wirtschaftliche Erfolg von Daten ab, weil man nichts mehr verkaufen kann, von dem man nicht nachweisen kann, dass es nützlich ist.
„Das ungenutzte Potenzial, das in zahlreichen Forschungsdaten liegt, wollen wir effektiver für innovative Ideen nutzen. Den Zugang zu Forschungsdaten für öffentliche und private Forschung wollen wir mit einem Forschungsdatengesetz umfassend verbessern sowie vereinfachen und führen Forschungsklauseln ein.“
(SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP 2021)
Die Ampelkoalitionäre haben also aus gutem Grunde Daten zu einem der Gegenstände ihrer Politik gemacht. Sie sollen genutzt werden und dazu soll der Zugang zu ihnen verbessert werden.

Ausgabe 06 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

Gemeinsamer Priorisierungskatalog

« Dezember 2022 »
Dezember
MoDiMiDoFrSaSo
1234
567891011
12131415161718
19202122232425
262728293031