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Habitus-Theorie

23.03.2022 08:00
Die Habitus-Theorie geht neben der „Theorie der Praxis“ auf Pierre Bourdieu (1974) zurück, der untersucht hat wie Subjekt- und Struktur-Ebene wechselseitig entstehen und in sozialen Interaktionen reproduziert werden. Der Habitus ist ein zentrales, alle Theoriekomponenten verbindendes Konzept in Bourdieus „Theorie der Praxis“, dessen zentrales Anliegen die Überwindung des Gegensatzes von Subjektivismus und Objektivismus ist. Der Habitus steht nach Bourdieu (1987) für die „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ eines Menschen, in dem sämtliche inkorporierten, früheren sozialen Erfahrungen zum Ausdruck kommen. Dabei ist der Habitus vor allem durch die spezifische gesellschaftliche Position geprägt, die Angehörige einer sozialen Gruppe innerhalb einer Sozialstruktur einnehmen. Genereller gefasst dient das Konzept der Vermittlung individueller Dispositionen (Subjekt-Ebene) und gesellschaftlicher Möglichkeiten (Struktur-Ebene). Dabei wird nach Bourdieu der Agierende (z. B. das Gesundheitspersonal) als Träger eines Habitus verstanden (Reckwitz 2008).

http://doi.org/10.24945/MVF.02.22.1866-0533.2390

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Das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu

>> Der Begriff des Habitus wird verstanden als mit einer Form des Wissens verbunden, welche sich Individuen im Verlauf ihrer Sozialisation und in Abhängigkeit ihrer Umgebung (z.B. Gruppen-, Kontext-, oder Milieu-spezifisches Wissen) angeeignet haben und die sich charakteristisch auf die ausgeführten Handlungspraktiken auswirken. Der Habitus entwickelt sich im Verlauf der Sozialisation jedoch größtenteils unbewusst. In der Analyse des Habitus werden drei Arten von Schemata unterschieden, welche auf die Handlungsebene wirken:
(1) Wahrnehmungsschemata, welche die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit strukturieren,
(2) Denkschemata, mit Hilfe derer diese Wahrnehmungen geordnet und interpretiert werden (z. B. implizite ethische Normen),
(3) Schemata, die die Hervorbringung von Handlungen anleiten. Diese Einzeldimensionen wirken im sozialen Handeln miteinander verbunden (Fuchs-Heinritz und König 2014).

Das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu stellt damit die Erkenntnis ins Zentrum, dass die individuellen Anpassungen an das soziale Umfeld zu spezifischen Verhaltens- und Einstellungsmustern führen, und der Habitus somit gesellschaftlich prädeterminiert ist. Bedingt durch den Habitus werden Agierenden gewisse Grenzen gesetzt, die ihnen bestimmte Handlungen unmöglich machen. Innerhalb der Grenzen sind Agierende jedoch durchaus innovativ und Reaktionen nicht zwingend vorhersehbar (Habitus als generierendes Prinzip).
Um den Habitus als strukturierte und strukturierende Struktur erschließen zu können und zu rekonstruieren, kann in der Versorgungsforschung auf Ansätze wie die dokumentarische Methode zurückgegriffen werden. Diese entstand auf Basis zentraler habitustheoretischer und wissenssoziologischer Annahmen der modernen empirischen Sozialforschung (z. B. Mannheim, Bourdieu, Bohnsack, Kleemann). Einen Unterschied zur Konzeption des Habitus bei Bourdieu ist in der dokumentarischen Methode jedoch dahingehend zu finden, dass im Gegensatz zu Bourdieu die dokumentarische Methode gerade die verbindenden Elemente zwischen den Agierenden einer Gruppe in den Fokus der Analyse setzt (konjunktiver oder gemeinsamer Erfahrungsraum), wohingegen Bourdieu die distinkten Elemente des Habitus zwischen verschiedenen Gruppen fokussiert.
Die Anwendung der dokumentarischen Methode in der Versorgungsforschung ermöglicht insbesondere ein Verständnis dazu, wie sich ein spezifischer Habitus entwickeln kann (z. B. von unterschiedlichen Gesundheitsprofessionen), welche Auswirkungen dieser auf das praktische Handeln und sozialen Interaktionen der Akteure haben kann, und wie dieser die Implementierung von Innovationen im Gesundheitswesen beeinflusst (siehe Abb. 1).
Der folgende Abschnitt beschreibt die wissenssoziologische Einbettung der dokumentarischen Methode.
Die dokumentarische Methode als Ansatz zur Erschließung des Habitus
Die Grundannahmen der dokumentarischen Methode basieren auf den Theorien der Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1928), ethnomethodologischen Annahmen von Harold Garfinkel (1968) und sozialphänomenologischen Annahmen von Alfred Schütz (1971). Die qualitativen Analyseverfahren dieser Methode eröffnen einen Zugang nicht nur zum reflexiven, sondern auch zum handlungsleitenden Wissen der Akteure und damit zur Handlungspraxis. Basierend auf diesen Ansätzen entwickelte die dokumentarische Methode eine praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack et al. 2013).
Die Praxis des Handelns sowie des Sprechens, Darstellens und Argumentierens sind hier zentrale Forschungsgegenstände. Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt auf das dieser Praxis zugrunde liegende habitualisierte und zum Teil inkorporierte Orientierungswissen, die „praktische Logik“, welche dieses Handeln strukturiert und unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn einer Handlung ist. Im wissenssoziologischen Ansatz von Mannheim ist eine zentrale Prämisse, die empirische Basis des Akteurswissens nicht zu verlassen, jedoch einen methodisch kontrollierten Zugang zur für den Forschenden „unbekannten Welt“ des Wissens der zu erforschenden Gruppe zu erreichen. Diese besondere Beobachterperspektive unterscheidet die dokumentarische Methode von objektivistischen Zugängen, die nach übergeordneten Handlungsstrukturen der Akteure suchen.
Die Analyse ermöglicht in methodisch kontrollierten Schritten das den Akteuren selbst implizit vorliegende Wissen zu rekonstruieren und den gemeinsamen Erfahrungsraum des konjunktiven, atheoretischen Wissens zu beschreiben. In Mannheims Wissenssoziologie werden zwei verschiedene Wissensformen oder Wissensschichten unterschieden, die kommunikative oder konjunktive Form des Wissens und der Erfahrung (siehe Abb. 1).
Das kommunikative Wissen beinhaltet institutionalisierte Konzepte als common-sense-Theorien bzw. das Wissen über (gesellschaftlich) institutionalisierte Konzepte (z. B. organisationale Regeln und Strukturen im Krankenhaus). Das konjunktive Wissen beinhaltet Wissen über die Einbindung der Akteure in konkrete Praxisformen und innerhalb bestimmter konjunktiver Erfahrungsräume (z. B. wie spezifische Handlungspraktiken entstehen, indem die organisationalen Regeln in die Handlungspraxis übersetzt werden).
Diese konjunktiven Erfahrungsräume verbinden die Akteure (z. B. Ärzte, Pflegepersonal) aufgrund ihrer „strukturidentischen“ Erfahrungen und führt zur Bildung eines kollektiven oder organisationsbezogenen Habitus, der sich auch unabhängig oder jenseits der organisationalen Regeln oder „Strukturen“ bilden kann.
Anwendung in der Versorgungsforschung
Vogd (2004) hat im deutschen Kontext die dokumentarische Methode im Setting Krankenhaus angewendet. Im Rahmen einer neu aufkommenden Debatte über eine dokumentarische Organisationsforschung wird darüber diskutiert, wie sich die Praxis von Akteuren in Organisationen ausgestaltet, wie sie beispielsweise mit Rahmungskonflikten umgehen oder wie sich bestimmte Weisen der Konfliktlösungen habitualisieren (Amling und Vogd 2017). In der Studie von Söling et al. (2020) wurde die dokumentarische Methode verwendet, um den hausärztlichen Habitus zu untersuchen. Auf Basis der Theorie kamen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die verschiedenen Dimensionen des Habitus (Wissen, Ethik, Erfahrung) hemmend oder förderlich auf den Implementierungsprozess einer neuen Versorgungsform wirken. <<

 

Zitationshinweis: Söling, S., Köberlein-Neu, J.: „Habitus-Theorie“, in „Monitor Versor-
gungsforschung“ (02/22), S. 44-46. aSöling, S.: ORCID: 0000-0002-0752-358X
Köberlein-Neu, J.: ORCID: 0000-0002-3451-7847

 

Literatur

Amling, Steffen; Vogd, Werner (2017): Dokumentarische Organisationsforschung. Perspektiven der praxeologischen Wissenssoziologie. Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Bohnsack, Ralf; Nentwig-Gesemann, Iris; Nohl, Arnd-Michael (Hg.) (2013): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bourdieu, Pierre (1974): Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis. In: Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 125–158.
Bourdieu, P., & Seib, G. (1987): Sozialer sinn: kritik der theoretischen vernunft: Suhrkamp Verlag. Online verfügbar unter https://ixtheo.de/record/027377423.
Fuchs-Heinritz, Werner; König, Alexandra (2014): Pierre Bourdieu. Eine Einführung. 3., überarbeitete Auflage. Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft (UTB, 2649).
Garfinkel, H. (1968): Aspects of the problem of common-sense knowledge of social structures. In: Gordon, Ch., Gergen, KJ (Hg.): The Self in Social Interaction. Vol. I: Classic and Contemporary Perspectives: John Wiley & Sons, S. 71–74. Online verfügbar unter https://opus4.kobv.de/opus4-fromm/frontdoor/index/index/docid/10331.
Kleemann, Frank, Uwe Krähnke, and Ingo Matuschek (Hg.) (2009): Interpretative Sozialforschung. Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
Mannheim, Karl (1928): Das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (2), S. 157–185.
Reckwitz, Andreas (2008): Subjekt. Bielefeld: Transcript.
Schütz, Alfred (1971): Das Problem der sozialen Wirklichkeit. In: Martinus Nijhoff (Hg.): Gesammelte Aufsätze 1. Das Problem der Wirklichkeit.
Söling, Sara; Köberlein-Neu, Juliane; Müller, Beate Sigrid; Dinh, Truc Sophia; Muth, Christiane; Pfaff, Holger; Karbach, Ute (2020): From sensitization to adoption? A qualitative study of the implementation of a digitally supported intervention for clinical decision making in polypharmacy. In: Implementation science : IS 15 (1), S. 82. DOI: 10.1186/s13012-020-01043-6.
Vogd, Werner (2004): Ärztliche Entscheidungsfindung im Krankenhaus. Komplexe Fallproblematiken im Spannungsfeld von Patienteninteressen und administrativ-organisatorischen Bedingungen. In: Zeitschrift für Soziologie Jg. 33 (1), S. 26–47.

Ausgabe 02 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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