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Die Luhmann’sche Systemtheorie

23.03.2022 08:00
Obgleich die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung als „extrem komplex, kontraintuitiv, schwer verständlich, wenn nicht gar pervers“ (Hörisch, 2010, S. 343) gilt, so hat sie doch auch Eigenschaften, die sie im Hinblick auf wissenschaftliche Problemlösungen im Allgemeinen und in Bezug auf Fragestellungen der Versorgungsforschung besonders reizvoll machen. Zum einen ist sie als eine sogenannte „Super-Theorie“ (Berghaus, 2011, S. 24) universell einsetzbar, das heißt, sie ist im Grunde auf alle sozialen Sachverhalte anwendbar, in der konkrete Frage- oder Problemstellungen betrachtet werden. Die Ursache für ihre vielfältigen Einsatzmöglichkeiten liegt in der Grundannahme, dass sich in der modernen Welt sogenannte Funktionssysteme entwickelt haben (und noch entwickeln). Diese Systeme können sich auf der Makroebene (z. B. Wissenschaft, Politik, Wirtschaft), auf der Meso-Ebene (z.B. Institutionen oder Organisationen) oder auf der Mikroebene (z.B. Familie oder Schulklassen) herausdifferenzieren. Die (soziale) Umwelt des Menschen zeichnet sich vor allen Dingen durch zunehmende Komplexität aus.

http://doi.org/10.24945/MVF.02.22.1866-0533.2391

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>> Für ein sinnvolles Leben, Handeln und Kommunizieren, ist die Reduktion von Komplexität unabdingbar. Und hier kommen soziale Systeme ins Spiel, besteht doch deren Kernfunktion darin, eben diese Komplexität zu reduzieren, in dem gewisse Aspekte in ein System ein- und andere ausgeschlossen werden. Systeme legen Grenzen fest, was zu ihnen dazu gehört und was nicht. Mit Blick auf das Funktionssystem Wissenschaft bedeutet das zum Beispiel, dass z. B. wissenschaftliche Fachartikel zum Klimawandel zur internen Kommunikation dazugehören, ein Zeitungsartikel zum Thema aber nicht. Der Kauf eines neuen Fernsehers im Fachgeschäft gehört zum System Wirtschaft: Ein Austausch von Waren wird demnach dann wahrscheinlicher, wenn Geld verwendet wird, d. h. einfach formuliert: wenn man ein Konsumgut erwerben will, steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass man dieses auch erhält, wenn man Geld dafür bezahlt.
Das Gesetz, welches dessen Rücknahme durch den Fachhändler festlegt, gehört jedoch nicht dazu. Denn jedes System hat eine eigene, binäre Leitunterscheidung: die Leitunterscheidung der Wirtschaft ist Zahlung oder Nicht-Zahlung, die Leitunterscheidung der Politik ist Macht oder Nicht-Macht und die der Wissenschaft ist wahr oder falsch. Aus der Perspektive der Systemtheorie lässt sich die Welt also vereinfacht gesagt immer in zwei Begriffe teilen, auf Basis eben dieser Unterscheidung lässt sich Komplexität reduzieren und die Umwelt beobachten. Systemtheoretiker analysieren also sogenannte „Beobachter zweiten Grades“ ihre Umwelt, indem sie den Blick auf diese binären Codes des jeweiligen Beobachtungsgegenstandes lenken. Systemtheoretisches Denken hängt also immer von der Perspektive des entsprechenden Beobachters ab: Wer hat betrachtet aus welcher Perspektive welche Probleme, welche Leitunterscheidungen, Begriffe oder Lösungen kommen zum Tragen?
Zentrale Begriffe
Kommunikation
Kommunikation ist die zentrale, konstituierende und erhaltende Operation sozialer Systeme. Systeme bestehen nicht aus Menschen oder Institutionen, sondern aus Kommunikationen.

Bedeutet: Der Mensch ist keine Analyseeinheit der Systemtheorie, sondern die Kommunikation und diese besteht entgegen geläufiger Modelle nicht aus einem Sender, einer Botschaft und einem Empfänger, sondern aus der Einheit der Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen (Luhmann, 1990, S. 4)
Beispiel: Das Sozialsystem Wissenschaft wird durch die autopoietische Operation des Publizierens aufrechterhalten. Eine Wissenschaftlerin selektiert (1) ein bestimmtes Ergebnis als relevante Information, entschließt sich (2) dieses in Form eines Fachartikels mitzuteilen so, sodass eine andere Wissenschaftlerin diese Information in Form dieser Mitteilung verstehen (3) kann (Verstehen bedeutet in diesem Zusammenhang nicht inhaltliches Verstehen, sondern das Verstehen, dass es sich bei dem Artikel um eine Mitteilung handelt). Erst wenn alle drei Schritte zusammenkommen, ist die Kommunikation abgeschlossen.

Autopoiesis
„Autopiesis ist die Selbstreproduktion des Systems auf Basis der eigenen Elemente“ (Luhmann, 1993, S. 189)

Bedeutet: Das System kann sich nur mittels selbst festgelegter Operationen erhalten, Ereignisse in der Umwelt können erst verarbeitet werden, wenn sie in den Code des Systems übersetzt worden sind.

Beispiel: Verstößt ein Forscher gegen gute wissenschaftliche Praxis, indem er bspw. Daten fälscht, dann kann eine Publikation, die auf diesen Daten basiert, kaum qua Gesetz aus dem wissenschaftlichen Kommunikationsraum entfernt werden. Sie kann jedoch von der Fachgemeinschaft zukünftig ignoriert, d.h. nicht mehr zitiert werden. Es finden keine autopoietischen Anschlusskommunikationen mehr statt, die Publikation verliert als Teil des Systems Wissenschaft an Bedeutung.
Operationale Geschlossenheit
Operationale Geschlossenheit beschreibt das Verhältnis zwischen dem System und dessen Umwelt sowie den Prozess der Grenzziehung dazwischen, welche wiederum nur aus dem System selber heraus möglich ist (Luhmann, 1990, S. 276) und bezieht sich auf die Art und Weise, in der sich das System autopoietisch reproduziert (Mayr, 2012, S. 85).

Bedeutet: Dinge, die in der Umwelt eines Systems passieren, werden vom System zunächst nicht verstanden oder verarbeitet, sie tauchen nur als Rauschen auf. Ein System kann nur dann Ereignisse verarbeiten, wenn sie in die Operationsweise des Systems übersetzt werden.

Beispiel: Wenn ein Journalist durch Recherchen herausfindet, dass zwanzig Prozent der Krebstherapien nicht leitlinienkonform ablaufen, dann kann diese Erkenntnis zwar in die Wissenschaft einfließen, indem bspw. ein Versorgungswissenschaftler den entsprechenden Zeitungsartikel zitiert. Es kann aber das System Wissenschaft, also die gesammelten Erkenntnisse zum Thema, nur dann strukturell determinieren, wenn sie in die Operationsweise der Wissenschaft übersetzt wird, wenn also bspw. der entsprechende Versorgungswissenschaftler diese Erkenntnis z. B. empirisch belegt und darüber publiziert. Einflüsse aus der Umwelt des Systems werden nur nach systemeigenen Regeln verarbeitet.

Umweltoffenheit
Was ein System verarbeitet, kann sich jedoch sehr wohl aus der Systemumwelt ergeben. Andernfalls würde sich das System irgendwann in „unfruchtbarer Tautologie und unabschließbarer Beliebigkeit“ verlieren (Hornbostel, 1997, S. 137). Ein autopoietisches System operiert nicht in „empirischer Isolation“ (Luhmann, 1991, S. 1420), sondern umweltoffen.

Bedeutet: Systeme können aus der Umwelt beeinflusst werden, aber nur dann, wenn die operative Geschlossenheit als Bedingung eine Verarbeitung dieser Einflüsse überhaupt erst möglich macht. (Luhmann, 1990, S. 276)

Beispiel: siehe Operationale Geschlossenheit
Systemtheorie und Versorgungsforschung
Obwohl die Systemtheorie insbesondere in der organisationsbezogenen Versorgungsforschung bis auf Ausnahme einiger Betrachtungen von stationären Interventionen (Dittmer, Nowak, Karbach, & Pfaff, 2018) bisher nur wenig Anwendung findet (Dittmer, 2019), bietet sie sich sehr gut an, in der komplexen Welt der Gesundheitsversorgung ein theoretische Fundierung für empirische Beobachtung relevanter Fragestellungen zu sein. Im Bereich der Gesundheitsversorgung treffen viele unterschiedliche (Teil-)Systeme aufeinander, deren Untersuchung zentrale Fragen der Versorgungsforschung berührt. Auf der Makroebene ist das das Gesundheitssystem, auf der Meso-Ebene betrifft das institutionelle oder organisationelle Strukturen wie z.B. Krankenhäuser oder auch das Verhältnis von stationären und ambulanten Leistungserbringern und auf der Mikro-Ebene das Verhältnis von Arzt und Patient. Daher schätzt Holger Pfaff die Systemtheorie (neben der Handlungstheorie) gleichwohl als „nützlich [ein], um Dinge zumindest zu verstehen“ (Stegmaier, 2020, S. 33). Dazu gehören insbesondere komplexe Interventionen, die laut Pfaff nicht nur in sozialen, sondern eben auch in technischen (Maschinen) und psychischen (Patienten)-Systemen relevante Implikationen haben (ebd.). Eine systemtheoretische Herangehensweise wird insbesondere bei der Beobachtung von Implementierungsprozessen interessant, also für die Analyse der „letzten Meile“ bei der Erkenntnisse auf der Versorgungsforschung in das Gesundheitssystem disseminiert werden (Borgetto, 2011, S. 296). Damit jedoch die Systemtheorie auf einer breiteren Basis in der Versorgungsforschung Anwendung finden kann, müsse zunächst nicht nur eine einheitliche Terminologie, sondern auch ein entsprechendes Methodeninventar entwickelt werden (Dittmer et al., 2018). <<

 

Zitationshinweis: Hoffmann, J.: Luhmann’sche Systemtheorie“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/22), S. 48-49. http://doi.org/10.24945/MVF.02.22.1866-0533.2391
ORCID:   0000-0002-6852-8616


 

Literatur

Berghaus, M. (2011). Luhmann leicht gemacht (3. Aufl.). Köln, Weimar, Wien: Böhlau.
Borgetto, B. (2011). Soziologische Grundlagen der Versorgungsforschung. In Die Gesellschaft und ihre Gesundheit (S. 293–307). https://doi.org/10.1007/978-3-531-92790-9_15
Dittmer, K. (2019, August 23). Systemtheorie im Kontext der Versorgungsforschung. https://doi.org/10.1055/s-0039-1694375
Dittmer, K., Nowak, M., Karbach, U., & Pfaff, H. (2018). Systemtheorie in der Versorgungsforschung. PPmP - Psychotherapie · Psychosomatik · Medizinische Psychologie, 68(08), e50–e51. https://doi.org/10.1055/s-0038-1668009
Hörisch, J. (2010). Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Luhmann, N. (1990). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Luhmann, N. (1993). Soziologische Aufklärung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Mayr, K. (2012). Geschlossenheit/Offenheit. In O. Jahraus, A. Nassehi, M. Grizelj, I. Saake, C. Kirchmeier, & J. Müller (Hrsg.), Luhmann Handbuch. Leben - Werk - Wirkung (S. 84–87). Stuttgart: J.B. Metzler.
Stegmaier, P. (2020). „Versorgungsforschung braucht Grundlagenwissenschaft“. Monitor Versorgungsforschung, 13(01/2020), 32–33. https://doi.org/10.24945/MVF.01.20.1866-0533.2199

Ausgabe 02 / 2022

Editorial

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Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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