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Health Literacy „Schlüssel für ein gesundes Leben“

31.07.2022 05:00
Bei den letzten beiden MVF-Fachkongressen „Impfstatus 2021“ und „Impfstatus 2022“ wurde immer wieder ein SGB-V-Paragraf genannt, der geeignet sein könnte, die Impfquoten generell zu erhöhen. Doch gibt es derzeit bundesweit keinen einzigen Vertrag dieser Art zwischen Kassen und Ärzteschaft. Warum das so ist und was man tun kann, dies zu ändern, dem ging der MVF-Fachkongress „Quo vadis Impfquote?“ nach, der am 30. Juni 2022 online stattfand.

http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2421

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Ruppel: Anspruch auf Impfung heißt nicht Anspruch auf Vertrag

>> Haben Patient:innen und Gesundheitseinrichtungen einen Anspruch auf Abschluss von Verträgen zur Impfstoffversorgung nach § 132e SGB V? Und was passiert, wenn derartige Versorgungsverträge nicht zur Verfügung stehen? Diese beiden Fragen stellte Dr. jur. Dr. rer. med. Thomas Ruppel von der Lübecker Kanzlei für Medizinrecht und Gesundheitsrecht an den Anfang seines Vortrags, der auf ein kleines Proseminar Jura hinauslief.
Dazu verortete Ruppel den § 132e SGB V im Regelungsgefüge des Krankenversicherungsrechts: Im 3. Kapitel des SGB V sei das Leistungsrecht, im 4. Kapitel das Leistungserbringungsrecht geregelt. Nun stünde im 3.  Kapitel in § 20i Abs. 1, 2 SGB V, dass Versicherte einen Anspruch auf Leistungen für Schutzimpfungen im Sinne des § 2 Nr. 9 des Infektionsschutzgesetzes haben. Doch dürfe das hier Geschriebene aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur als „Rahmenrecht“ verstanden werden, das durch die wesentlich detaillierteren Regelungen im 4. Kapitel – im § 132e SGB V – näher ausgeführt werde. Maßgeblich für die Reichweite des Anspruches von Patient:innen auf Schutzimpfungen und von Patient:innen und Gesundheitseinrichtungen auf Abschluss von Verträgen zur Impfstoffversorgung sei daher das, „was hinten stehe“. Dies gelte übrigens für alle Leistungsarten, ob Krankenhausleistungen, Care- und Casemanagement, Heilmittel oder Schwangerschaftsleistungen und eben auch Schutzimpfungen.
Der Anspruch der Patient:innen auf Schutzimpfungen würde durch die Schutzimpfungsrichtlinie (SI-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) weiter konkretisiert. Nach dieser hätten „Versicherte Anspruch auf Leistungen für Schutzimpfungen, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss auf der Grundlage der Empfehlungen der STIKO in Anlage 1 zu dieser Richtlinie aufgenommen wurden.“ Damit sei der Anspruch der Versicherten auf Schutzimpfungen bestimmt.
Nun dürfe man laut Ruppel leider den hier manifestierten Anspruch auf Impfungen als solche und deren Erstattung durch die GKV, nicht mit einem Anspruch auf den Abschluss von Versorgungsverträgen nach § 132e SGB V
verwechseln. Ruppel: „Was hilft einem Versicherten denn ein Anspruch auf Impfung, wenn er vielleicht niemanden hat, der ihn impft, oder die Einrichtung, die impfen will, keinen Vertragspartner findet?
Denn die Krankenkassen dürften nun einmal nicht selbst impfen, sondern müssen diesen Anspruch der Patient:innen durch Verträge mit Gesundheitseinrichtungen einlösen. Zu untersuchen sei daher, ob Patient:innen und/oder Gesundheitseinrichtungen einen Anspruch auf Abschluss dieser Versorgungsverträge hätten.
Ruppel verwandte dafür die juristische Methodik der Auslegung, um die Aussagekraft des § 132e SGB V als maßgebliche Vorschrift zu untersuchen. Der Wortlaut helfe hier schon weiter, so Ruppel. Dieser regele in Abs. 1, Satz 1, dass Krankenkassen oder ihre Verbände mit Kassenärztlichen Vereinigungen, Ärzten, Einrichtungen mit ärztlichem Personal, deren Gemeinschaften, den obersten Landesgesundheitsbehörden oder den von ihnen bestimmten Stellen, Verträge über die Durchführung von Schutzimpfungen nach § 20i SGB V schließen. Ruppel: „Das Verb ,schließen‘ ist für den Juristen eine ganz klare Ansage. Da steht nicht, ,Kassen können schließen, wenn sie Lust haben oder wenn Geld übrig ist.‘“ Auch die teleologische Auslegung – die nach dem Sinn und Zweck der Norm – zeige eindeutig in diese Richtung. Denn im vierten Absatz von § 132e SGB V stehe kurz und bündig: „eine Erhöhung der Impfquoten ist anzustreben“. Was der Jurist als „einen ganz seltenen Fall“ bezeichnet, dass das, was der Gesetzgeber wollte, in einer Norm so ausdrücklich geschrieben steht, denn, so Ruppel: „Viel eindeutiger kann der Gesetzgeber gar nicht mehr schreiben, was er will.“
Die in § 132e Abs. 1, Satz 2 SGB V genannten Leistungserbringer hätten einen durchsetzbaren Anspruch auf Abschluss eines Vertrages, nicht jedoch die in Abs. 1, Satz 1 weiteren genannten Einrichtungen mit ärztlichem Personal.
Aus der historischen Auslegung der Norm – das heißt aus den Gesetzgebungsmateria-lien – ergäbe sich zudem auch, dass der Gesetzgeber keinen Anspruch von Patient:innen auf Abschluss von Versorgungsverträgen schaffen wollte. Ruppel: „Ich habe alles durchwühlt und nach allen Arten ausgelegt, doch an keiner Stelle hat der Gesetzgeber darüber nachgedacht, dass ein Versicherter beispielsweise das Sozialgericht anrufen und Krankenkassen zwingen könnte, einen Versorgungsvertrag mit einem bestimmten ärztlichen Leistungserbringer abzuschließen.“
Demnach haben Versicherte zwar einen Anspruch auf Impfung an sich, jedoch keinen Anspruch darauf, dass Krankenkassen oder deren Verbände mit Gesundheitseinrichtungen Verträge abschließen mit dem Ziel, die Impfquote zu erhöhen; oder auch nur, dass es überhaupt genug impfbereite Ärzte gibt, die den per Gesetz formulierten Anspruch auf Impfung erfüllen könnten.
Soweit die Krankenkassen nicht genügend Verträge mit Gesundheitseinrichtungen schließen, komme  jedoch ein Anspruch auf Kostenerstattung bei sogenanntem Systemversagen in Betracht. Die Patient:in beschafft sich die Leistung selbst und erhält dann ihren Aufwand von der Krankenkasse erstattet (§ 13 Abs. 3 SGB V). Klassisches Beispiel dafür ist nach Ruppel die Psychotherapie, bei der es – anders als derzeit bei Impfungen – formal genügend zugelassene Psychotherapeuten gäbe, in der Versorgungsrealität aber lange Wartezeiten bestünden. Voraussetzung ist hierfür immer, dass die Patient:in nachweist, eine gewisse Anzahl von Gesundheitseinrichtungen angefragt und von diesen abgewiesen worden zu sein. Außerdem müsse die Impfung „unaufschiebbar“ sein, so dass etwa bei Auffrischungsimpfungen mit einem Zeitfenster von mehreren Monaten ein Systemversagen kaum eintreten werde, bei engeren Zeitfenstern (etwa Hepatitis B für Säuglinge) dies aber durchaus in Betracht käme.

Zeljar: Aktuell beginnt in Brandenburg der Dialog

„In meinen 20 Berufsjahren habe ich es kein einziges Mal erlebt, dass Versicherte keinen Impfstoff erhalten haben“, gab Rebecca Zeljar, Stellvertretende Leiterin der Landesvertretung Berlin/Brandenburg des Verbands der Ersatzkassen e. V. (vdek), zu Beginn ihres Vortrags zu Protokoll. Zwar hätte es ab und an einmal bei Grippeimpfstoffen Chargenausfälle gegeben, doch sei immer auch Ersatz gefunden worden, der dann für die erstattenden Kassen meist teurer gewesen sei. Doch wolle sie in ihrem Vortrag eher auf die gesamtgesellschaftliche Perspektive eingehen und die Frage, warum es ihres Wissens nach bisher keine Verträge nach § 132e Absatz 4 zur Steigerung der Impfquoten gebe.
Doch hatte Zeljar auch eine gute Nachricht zu vermelden. Im Nachgang des MVF-Online-Kongresses „Impfstatus 2022“ (4), auf dem unter anderen MUDr./CS Peter Noack, der Vorsitzende des Vorstandes der KV Brandenburg, und sie sprachen, sei nun aktuell in Brandenburg der Dialog zu einem derartigen Vertrag begonnen worden. Ebenso bestehe bereits seit 01. Juli 2020 eine Vereinbarung mit der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V., DGAUM, über die Versorgung mit Impfleistungen durch Betriebsärzte für zunächst mindestens 3 Jahre. Umfasst würden Impfungen gegen: Diphtherie, Herpes zoster, Influenza, Masern, Mumps, Pertussis, Pneumokokken-Infektionen, Poliomyelitis, Röteln, Tetanus, Varizellen (Windpocken) sowie zwischenzeitlich auch  Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME).
Dies sei auch dringend geboten, denn die Impfquoten insbesondere im Erwachsenenalter seien – vorsichtig formuliert – „wirklich verbesserungswürdig“ oder auch je nach Impfart relativ niedrig. Eine Ausnahme bildeten Kinder, die durch die Früherkennungsuntersuchungen (U1 bis U9) durch die Pädiater sehr gut betreut würden. Zeljar: „Corona hat uns einerseits gezeigt, dass wir an das Thema Impfquoten definitiv gemeinsam herangehen müssen, doch andererseits hat die Frage der Impfpflicht auch zu sehr kontroversen Diskussionen geführt, die wiederum in der Gesellschaft eine generelle Debatte zum Thema Impfen ausgelöst hat.“ Ihr Rat geht dahin, dass alle Beteiligten versuchen sollten, das Thema ein bisschen anders darzustellen und vor allem das negative Narrativ, das sich um das Impfen gebildet hätte, zu relativieren. Denn dem Großteil der Bevölkerung sei bewusst, welche Bedeutung das Impfen hat, „die Menschen gehen zum Impfen, sie lassen sich beraten, nehmen primärpräventive Maßnahmen tatsächlich in Anspruch und lassen sich impfen“.
Jedoch ist nach Zeljars Meinung die Informationsweitergabe bzw. -beschaffung durchaus verbesserungswürdig. Zwar lägen die nötigen Informationen überwiegend an den üblichen Stellen – wie z. B. bei Ärzt:innen, Krankenhäusern oder auch Apotheken – aus, doch müsse man, speziell um jüngere Menschen zu erreichen, „neue Informationswege ansteuern, die die Menschen in der heutigen Zeit nutzen und ansprechen. Hierzu gehöre ganz klar eine digitale Informationsstruktur inklusive der Nutzung der Social-Media-Kanäle.
Wenn man das jedoch tue, ist man den Worten von Rebecca Zeljar zufolge gleich beim Thema niedrigschwelliger Angebote, denn jüngere Menschen hätten eben meist keinen festen Hausarzt. Und ebenso bei der wesentlichen Frage, „wer ist eigentlich für was verantwortlich und wer gibt was von seinem Kuchen“ ab. Diese Frage ist ihrer Ansicht nach aus rein ärztlicher Sicht nicht so schwierig zu beantworten, weil Impfungen generell außerbudgetär stattfinden, es demnach auch keinerlei Budgetproblematik gebe. Ärzte sollten daher niederschwellige Impfangebote nicht als Konkurrenz ansehen, auch seien Impf-Modellversuche in Apothe-ken wie beispielsweise in Berlin Charlottenburg (siehe „Impfstatus 2022“) (4) kein Konkurrenzmodell, sondern „wirklich nur ein ergänzendes Modell“. Nachgedacht werden sollte ihrer Ansicht nach aber auch über eine Wiedereinbindung des Öffentlichen Gesundheitsdiensts (ÖGD), für den in allen Bundesländern zusätzliche Budgets zur Verfügung gestellt werden. Zeljar: „Wenn wir jetzt diese Chance nicht nutzen, den ÖGD ins Impfen mit einzubinden, wäre das eine vertane Chance.“
Doch seien selbst niedrigschwelligste Impfangebote keine erfolgversprechenden Lösungen, wenn es die Gesellschaft nicht gleichzeitig auch schaffe, eine entsprechende Gesundheitskompetenz aufzubauen und zu fördern. Zeljar: „Wenn wir wirklich wollen, dass die Impfquoten in Deutschland auch nur annähernd an die heranreichen, die die WHO und die STIKO fordern, müssen wir das Impfen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstehen und einen ordentlichen Aufbau von Gesundheitskompetenz schaffen, der alle Menschen dazu befähigt, die richtige Entscheidung zu treffen.“ Die Stärkung der Health Literacy bezeichnete Zeljar als den „Schlüssel für ein gesundes Leben“, darum
müsste Gesundheitskompetenz als eigenständiger Themenbereich in Kitas, Schulen und allen anderen wichtigen Bildungsstätten fest installiert, etabliert und nachhaltig verstetigt werden.

Jelinek: Hohe Verunsicherung der Ärzteschaft

„Ich habe in den rund 30 Jahren, in denen ich mich als Arzt mit dem Thema Impfen beschäftigt habe, nicht erlebt, dass sich die Impfquoten im Erwachsenenalter deutlich verbessert hätten“, erklärte Prof. Dr. Tomas Jelinek. Der medizinische Direktor des Berliner Zentrums für Reise- und Tropenmedizin, wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Reise- und Tropenmedizin in Düsseldorf, Lehrbeauftragter am Institut für medizinische Mikrobiologie, Immunologie und Hygiene an der Universität zu Köln und Consulting Expert der WHO weiß genau, wovon er spricht. Ebenso habe er viele Ankündigungen, Versuche und Versprechungen seitens verschiedener Gruppen, Verbände und Kostenträger miterlebt.
In Hinblick auf die von Rebecca Zeljar propagierten niederschwelligen Impfangebote verwies der Impfexperte auf die Bundesärztekammer, die mehrfach betont hätte, dass die Indikationsstellung und Anamneseerhebung um herauszufinden, wann und ob eine Impfung gegeben werden soll, genuin eine nicht delegierbare ärztliche Leistung sei. Das bedeute, dass in Deutschland – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern wie etwa die Niederlande oder Dänemark, wo eingewiesenes Assistenzpersonal wie Vaccination Nurses impfen könne – ganz überwiegend von ärztlicher Seite geimpft werden müsse.
Die zweite Frage sei die nach der Verfügbarkeit von Impfstoffen. Hier gebe es ein Missverständnis, denn die STIKO habe weder den Auftrag, Impfstoffe zuzulassen, noch deren Qualität zu beurteilen, sondern nur den Job, die Erstattung in Deutschland zu empfehlen. Jeder Impfstoff, der aufgrund dieser Empfehlung vom G-BA in die Erstattung käme, sei ein verpflichtendes Angebot für die gesetzlichen Kassen – aber eben nur diese. Jelinek: „Wenn ich den Impfstoff zum Beispiel für den privaten oder beruflichen Einsatz verabreiche, ist die STIKO-Empfehlung für mich überhaupt nicht relevant.“ Es reiche vollauf, wenn ein Impfstoff zugelassen sei, dann könne er den verwenden, wie jedes andere Medikament auch.
Als dritten Fakt verwies Jelinek auf einen bereits seit 2019 existierenden „Shortcut“. Da bekanntermaßen die STIKO in vielen Fällen oft sehr lange brauche, bis sie eine Entscheidung fälle, habe sich das Bundesministerium für Gesundheit die Möglichkeit eingeräumt, direkt über die Kostenübernahme entscheiden zu können. Dieser „Shortcut“ werde beispielsweise derzeit bei der Empfehlung zu der Erstattung der Grippeimpfstoffe für die nächste Saison exekutiert.
Am Beispiel der Pneumokokkenimpfung, die in Deutschland eigentlich für alle, speziell aber für jeden chronisch Kranken von der STIKO empfohlen sei, ging der Impfprofi auf weitere Gründe ein, die dazu führen, dass Impfquoten eben nicht erreicht würden. Dabei böten sich gerade Chroniker und die Über-60-Jährigen, für welche die STIKO-Empfehlung sehr eindeutig sei, für die ärztliche Praxis an, weil Ärzt:innen diese Zielgruppen viel häufiger sehen als andere. Doch sähe die Realität leider anders aus, wie Jelinek anhand einer Kohortenstudie auf der Grundlage von Abrechnungsdaten von mehr als 200.000 deutschen Patient:innen5 aus dem Jahr 2019 zeigte. Hier sei analysiert worden, wie hoch der Anteil der Geimpften in verschiedenen Indikationsgruppen gewesen sei. Das traurige Gesamtergebnis: Über 95 Prozent der Indikationsgruppen hätten die Impfung nicht bekommen. Was aber nun nicht daran läge, dass die Impfung nicht verfügbar gewesen wäre, sondern einfach daran, „dass es nicht gemacht wird“.
Dies wiederum habe mehrere Ursachen. Da sei zum einen ein Kommunikations- und Empfehlungsproblem, das zu einer Verunsicherung der Ärzt:innen führt. Diese müssten zwar ihren Patient:innen diese Impfung empfehlen, weichen dann aber dahingehend aus, dass sie gar nichts machen.
Dabei gebe es gleich vier verschiedene Impfstoffe, von denen dieses Jahr zwei neu zugelassen worden seien. Bei dreien handele es sich um moderne, technisch überlegene Konjugatimpfstoffe. Doch sei die einzige von der STIKO empfohlene Impfung die mit „alten“ Polysacchariden, weil sie es bis heute nicht geschafft habe, die entsprechende Empfehlung für alle zu modifizieren. Einzige Ausnahme sei die für Schwerkranke, für die eine Kombination aus zwei Impfungen empfohlen werde, darunter aber immer noch die mit Polysacchariden. Diese hätten zwar eine breite Abdeckung über viele Serotypen hinweg, würden aber viel schlechter funktionieren, weil diese Alt-Impfstoffe kein gutes Ansprechen des Immunsystems hervorrufen würden und so eine Pneumonie durch Pneumokokken eben oft nicht verhindert werden könne.
Obwohl es entsprechende Stellungnahmen verschiedener Fachgesellschaften und zwei Leitlinien gebe, die Konjugatimpfstoffe empfehlen würden, sei es in Deutschland so gut wie unmöglich, STIKO-Empfehlungen in der gebotenen Schnelle zu modifizieren. Dies führe im Endeffekt zu einer massiven Verunsicherung der Ärzteschaft und letztlich „offensichtlich dazu, dass gar nicht geimpft wird“.

 

Frühwein: „Weg mit der durch Corona verstärkten Impf-Mystifizierung“

„Was muss in den Köpfen der Patient:innen, der Ärzt:innen, der Praxismitarbeiter:innen und allen anderen, an der Versorgung Beteiligten passieren, um tatsächlich die Impfquote nach oben zu bringen?“ Dieser Frage ging Dr. Markus Frühwein, niedergelassener Arzt in München, nach. Auch er ist wie Jelinek absoluter Impfspezialist, da er nicht nur in München Humanmedizin studiert und in Infektions- und Tropenmedizin promoviert, sondern außerdem einen Master in Health Management abgeschlossen hat, wobei das Thema seiner Masterarbeit lautete: „Die Entwicklung eines Moduls Impfen als Teil des Qualitätsmanagements in Arztpraxen“. Er sagte klipp und klar: „Im Gegensatz zu vielen anderen Hausärzt:innen bin ich der Meinung, dass wir einen niederschwelligen Zugang brauchen.“ Er könne sich sogar eine Art Impfkiosk in Einkaufszentren oder auf Hochschul- und Universitätsgeländen vorstellen, wenn diese letztlich durch Ärzt:innen geleitet würden. Der Grund dafür ist für ihn weniger die Standespolitik, sondern der positive Empfehlungscharakter. Frühwein: „Für mich stellt sich aus ärztlicher Sicht die entscheidende Frage, wie man die breite Ärzteschaft motiviert, jede Patient:in, die in die Praxis kommt, auf den individuellen Impfstatus anzusprechen, aufzuklären und dann den Kühlschrank aufzumachen und eine Impfung herauszunehmen und diesen zu verimpfen?“ Ebenso müsse jede Ärzt:in die Impfempfehlung aussprechen, unabhängig davon, was sie selbst davon hält. Das sei die rechtliche Pflicht zur Aufklärung, die auch im Infektionsschutzgesetz des BGB niedergeschrieben sei, welches die Notwendigkeit betone, über Impfungen aufzuklären. All das zusammen führt für ihn in seiner Conclusio dahin, dass eigentlich jede Ärzt:in gleich welcher Fachrichtung jede Patient:in bei jeden Besuch über die notwendigen Impfungen aufklären müsste. Wenn das nur halbwegs funktionieren würde, müsste man sich bei der großen Anzahl der in Deutschland praktizierenden Ärzt:innen über Durchimpfungsraten überhaupt keine Gedanken machen.
Wer sich die tatsächlichen Durchimpfungsraten ansehe, erkenne schnell, dass es in realiter nach Frühweins Worten „leider zappenduster“ aussehe. Eigentlich seien alle Impfraten bei den meisten impfpräventablen Krankheiten „gruselig“, auch wenn einige Regionen vor allem in den östlichen Bundesländern etwas besser dastünden, aber auch noch weit weg von den eigentlich erforderlichen Durchimpfungsraten seien.
Aktuell liegt nach Frühwein beispielsweise die Impfrate bei Herpes zoster bei rund 10 Prozent. Dabei seien die Zoster-Patient:innen meist die Über-60-Jährigen, die eigentlich dauernd in der ärztlichen Praxis vorstellig wären. Frühwein: „Da muss man sich doch die Frage stellen, wer hier ein Problem mit der Impfmotivation hat?“ Bis zu einem gewissen Grad läge die seiner Ansicht nicht bei den Patient:innen, denn wenn eine Ärzt:in eine Impfung empfehle, werde ein sehr hoher Anteil der Patient:innen in der Praxis diese Impfung wahrnehmen. Doch,
so Frühwein: „Wenn eine Ärzt:in eine Impfung nicht aktiv empfiehlt, werden Patient:innen diese zum großen Teil auch nicht einfordern.“ Hier dominiere eindeutig die Arztempfehlung die jedes anderen an der Versorgung Beteiligten, seien das MFAs, nichtärztliche Praxisassistent:innen oder auch Apotheker:innen. Sein Rat, um aus dem Dilemma viel zu niedriger Impfquoten zu kommen: mehr extrinsische, positive Motivation. Denn die intrinsische sei bei den meisten Ärzt:innen vorhanden und intakt, denn alle hätten Medizin studiert und seien am Ende auch noch Hausärzt:in geworden, weil man irgendwie helfen und die Patient:innen gut versorgen möchte.“ Hier spricht Frühwein weniger die monetäre Motivation an, auch wenn diese nötig sei, sondern zu verbessernde strukturelle Probleme. Diese beginnen seiner Ansicht nach bei der Impfbeschaffung  und reichen bis hin zur vollen, aber derzeit noch nicht möglichen Digitalisierung der Abläufe und der Impf-Dokumentation.
Die größten Defizite in der Impfprävention, die aus seiner Sicht aber auch eine Chance wären, wenn man daran arbeiten und Lösungen anbieten würde:
• Unzureichendes Wissen über imfpräventable Krankheiten und moderne Vakzine
• kein standardisiertes Erinnerungssystem
• Impfpassverlust bei circa 25% der Bevölkerung
• fehlende Vernetzung zwischen Praxis und Patient:in
• fehlerhaftes Impfmanagement in der Arztpraxis
• fehlendes Impfregister
• unzureichende Vergütung
• kein niederschwelliger Zugang

Es gebe aber auch andere Beispiele, so Frühwein, und wirft dabei einen Blick auf seine eigene Praxis: „Bei mir kann jede Patient:in jeden Tag in die Praxis kommen und bekommt eine Impfung.“ Das liege, setzt er hinzu, jedoch auch daran, dass er wie Jelinek einen Impf-Schwerpunkt beim Thema Reise habe. Doch sei dieser Bereich, bei dem Impfung hervorragend funktioniere, auch ein Stück Vorbild. Sein Petitum: „Wir müssen aufräumen mit der durch Corona verstärkten Mystifizierung des Impfens. Seien wir froh, das wir diese tollen Präventionsmöglichkeiten haben.“ <<

von:
MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier

 

Zitationshinweis
Stegmaier, P.: „Health Literacy ,Schlüssel für ein gesundes Leben‘“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/22), S. 24-28. http://doi.org/10.24945/MVF.04.22.1866-0533.2421

 

Literatur

1: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__20i.html
2: Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477)
3: https://www.g-ba.de/downloads/62-492-2822/SI-RL_2022-03-18_iK-2022-05-23.pdf (In Kraft getreten am 23.05.2022, geändert am 18.03.2022 BAnz AT 20.05.2022 B2
4: https://www.monitor-versorgungsforschung.de/kongresse/Impfstatus_2022
5: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0220848

 

Paragrafen

§ 20i Abs. 1, 2 SGB V (3. Kapitel) im Auszug (1)
(1) Versicherte haben Anspruch auf Leistungen für Schutzimpfungen im Sinne des § 2 Nr. 9 des Infektionsschutzgesetzes, dies gilt unabhängig davon, ob sie auch entsprechende Ansprüche gegen andere Kostenträger haben. ...

§ 132e SGB V (4. Kapitel) im Wortlaut (2)
(1) Die Krankenkassen oder ihre Verbände schließen mit Kassenärztlichen Vereinigungen, Ärzten, Einrichtungen mit ärztlichem Personal, deren Gemeinschaften, den obersten Landesgesundheitsbehörden oder den von ihnen bestimmten Stellen, Verträge über die Durchführung von Schutzimpfungen nach § 20i. Als Gemeinschaften im Sinne des Satzes 1 gelten auch Vereinigungen zur Unterstützung von Mitgliedern, die Schutzimpfungen nach § 20i durchführen. Es sind insbesondere Verträge abzuschließen mit
1. den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten oder deren Gemeinschaften,
2. den Fachärzten für Arbeitsmedizin und Ärzten mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“, die nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, oder deren Gemeinschaften und
3. den obersten Landesgesundheitsbehörden oder den von ihnen bestimmten Stellen.

In Verträgen mit den Fachärzten für Arbeitsmedizin, Ärzten mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ und sonstigen Ärzten, die nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, oder deren Gemeinschaften sind insbesondere Regelungen zur vereinfachten Umsetzung der Durchführung von Schutzimpfungen, insbesondere durch die pauschale Bereitstellung von Impfstoffen, sowie Regelungen zur vereinfachten Abrechnung, insbesondere durch die Erstattung von Pauschalbeträgen oder anteilig nach den Versichertenzahlen (Umlageverfahren) vorzusehen. In Verträgen mit den obersten Landesgesundheitsbehörden oder den von ihnen bestimmten Stellen sind insbesondere folgende Regelungen vorzusehen:
1. Regelungen zur Förderung von Schutzimpfungen durch den öffentlichen Gesundheitsdienst,
2. Regelungen zur vereinfachten Umsetzung der Durchführung von Schutzimpfungen nach
§ 20 Absatz 5 Satz 1 und 2 des Infektionsschutzgesetzes, insbesondere durch die pauschale Bereitstellung von Impfstoffen, soweit die Krankenkassen zur Tragung der Kosten nach
§ 20 Absatz 5 Satz 3 des Infektionsschutzgesetzes verpflichtet sind,
3. Regelungen zur vereinfachten Erstattung der Kosten nach § 69 Absatz 1 Satz 3 des Infektionsschutzgesetzes, soweit die Krankenkassen zur Tragung der Kosten nach § 20 Absatz 5 Satz 3 und 4 des Infektionsschutzgesetzes verpflichtet sind und die Länder die Kosten vorläufig aus öffentlichen Mitteln bestreiten, insbesondere durch die Erstattung von Pauschalbeträgen oder anteilig nach den Versichertenzahlen (Umlageverfahren) und
4. Regelungen zur Übernahme der für die Beschaffung von Impfstoffen anfallenden Kosten des öffentlichen Gesundheitsdienstes durch die Krankenkassen für Personen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union, deren Versicherteneigenschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung zum Zeitpunkt der Durchführung der Schutzimpfung noch nicht festgestellt ist und die nicht privat krankenversichert sind.

Einigen sich die Vertragsparteien nach Satz 1 nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten nach einer Entscheidung gemäß § 20i Absatz 1 Satz 3 oder nach Erlass oder Änderung der Rechtsverordnung nach § 20i Absatz 3 Satz 1, legt eine von den Vertragsparteien zu bestimmende unabhängige Schiedsperson den jeweiligen Vertragsinhalt fest. Einigen sich die Vertragsparteien nicht auf eine Schiedsperson, so wird diese von der für die vertragsschließende Krankenkasse oder für den vertragsschließenden Verband zuständigen Aufsichtsbehörde bestimmt. Die Kosten des Schiedsverfahrens tragen die Vertragspartner zu gleichen Teilen. Endet ein Vertrag nach Satz 1 oder endet eine Rahmenvereinbarung nach § 20i Absatz 3 Satz 3 in der bis zum 10. Mai 2019 geltenden Fassung, so gelten seine oder ihre Bestimmungen bis zum Abschluss eines neuen Vertrages oder bis zur Entscheidung der Schiedsperson vorläufig weiter.

(2) Die Kassenärztliche Bundesvereinigung meldet bis zum 15. Januar eines Kalenderjahres den Bedarf an saisonalen Grippeimpfstoffen auf Grundlage der durch die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte geplanten Bestellungen an das Paul-Ehrlich-Institut. Das Paul-Ehrlich-Institut prüft den nach Satz 1 übermittelten Bedarf unter Berücksichtigung einer zusätzlichen Reserve von 10 Prozent, in den Jahren 2020 und 2021 von 30 Prozent, durch Vergleich mit den nach § 29 Absatz 1d des Arzneimittelgesetzes mitgeteilten Daten von Inhabern der Zulassungen von saisonalen Grippeimpfstoffen bis zum 15. März eines Kalenderjahres. Die Prüfung nach Satz 2 erfolgt im Benehmen mit dem Robert Koch-Institut. Das Ergebnis der Prüfung teilt das Paul-Ehrlich-Institut unverzüglich der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Inhabern der Zulassungen von saisonalen Grippeimpfstoffen mit.
(3) Die Inhaber von Zulassungen von saisonalen Grippeimpfstoffen melden die voraussichtlichen Preise für Grippeimpfstoffe für die kommende Impfsaison bis spätestens zum 1. März eines Jahres an die Kassenärztliche Bundesvereinigung.
(4) In den Verträgen nach Absatz 1 ist eine Erhöhung der Impfquoten für die von der Ständigen Impfkommission beim Robert Koch-Institut gemäß § 20 Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes empfohlenen Schutzimpfungen anzustreben.

Ausgabe 04 / 2022

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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