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Nutzenbewertung europäisch gestalten?

04.04.2019 14:00
Die Nutzenbewertung braucht neue, europäische Ansätze. Die Prozesse sind zu komplex und intransparent, Patientenpräferenzen werden zu wenig berücksichtigt. In der fünften Plenumsveranstaltung „Nutzenbewertung 2.0 – Europäische Maßstäbe für den Patientennutzen?“ im Juni 2019 diskutierten Experten in Berlin über Entscheidungskriterien und die notwendigen Schritte zur einheitlichen Bewertung innovativer Therapien, Medikamente und Medizinprodukte.

http://doi.org/10.24945/MVF.04.19.1866-0533.2162

>> Die Nutzenbewertung für Arzneimittel mit neuen/zentral zugelassenen Wirkstoffen oder neuer Indikation, Medizinprodukte der Klassen IIb/III sowie in-vitro-Diagnostika ist inzwischen seit einiger Zeit etabliert. Die Diskussionen um die Problematik der Individualisierung und die daraus resultierenden Anforderungen an die Nutzenbewertung
reißen jedoch nicht ab. Kritisch hinterfragt werden die Komplexität des Verfahrens und Anforderungen an die Transparenz. Folglich standen diese Themenkomplexe im Mittelpunkt der gemeinsamen Plenumsveranstaltung der B. Braun Stiftung und der Hochschule Neubrandenburg, bei der rund 70 Experten aus Institutionen, Fachgesellschaften, Gremien der Selbstverwaltung, der Wissenschaft und der Industrie über das Spannungsfeld von Evidenzgenerierung, Patientennutzen und einheitlichen Bewertungsmaßstäben in einem wirtschaftlich tragbaren Gesundheitssystem diskutierten.


Der Patient im Mittelpunkt

Den „Individuums-Gedanken“ thematisierte Dr. Thomas Wilckens vomm Innventis in seiner Key Note. In einer umfassenden Nutzenbewer-tung sollte der einzelne Patient im Mittelpunkt der Bemühungen stehen. Er legte seinen Schwerpunkt auf die „Precision Medicine“, die die Zukunft der Medizin sei, und vertrat den Standpunkt: „We have the technologies in our hands today.“ Die Nutzenbewertung der Digitalisierung im Gesundheitswesen nimmt daher einen immer wichtiger werdenden Bereich ein. In diesem Zusammenhang sind jedoch zentrale Fragen zu klären: Wie wird der Patientennutzen dokumentiert? Wie werden Entscheidungen über knappe Ressourcen der Kassen abgebildet? Und wie entsteht der „Value for Money“, der für den Patienten den größtmöglichen Nutzen birgt. Diese Aspekte beleuchtete Dr. Wulf-Dietrich Leber aus Sicht des GKV Spitzenverbandes. Als Hauptziel sieht er die Integration der digitalen Versorgung in die Regelversorgung. Dazu muss die Nutzenbewertung schneller und transparenter gemacht werden.
Dr. Katrin Sternberg und James Pellissier legten die Perspektive der Pharma- und Medizintechnik-Industrie dar und gingen dabei insbesondere auf den zunehmenden Wettbewerbsdruck ein, sowie auf die Frage, welche Anforderungen an eine Nutzenbewertung vor dem Hintergrund der Besonderheiten der Pharma- und Medizintechnik gestellt sind. Dr. Katrin Sternberg hob die Wichtigkeit von Innovationen hervor, worauf ein Nutzenbewertungsprozess ausgelegt werden sollte. Sie unterstrich die Bedeutung der Nutzenbewertung und betonte, dass „B. Braun Teil davon“ sei. In diesem Zusammenhang stellte sie verschiedene Ziele und Vorschläge für eine transparente Nutzenbewertung vor und schloss mit den Worten: „Wir wollen den medizinischen Fortschritt schneller zum Patienten bringen“.  James Pellissier verdeutlichte die Bedeutung von Multi-Indication Tools, die kontextuelle, wertbasierte Wirtschaftlichkeitsnachweise liefern.


Systematische Bewertungskriterien nötig

Die Experten waren sich einig, dass das Ziel aller Bemühungen ein transparenter und gut strukturierter Bewertungsansatz sein muss, der für alle Beteiligten einen einheitlichen Rahmen bietet. Dieser existiert bisher noch nicht und es bleibt offen, wie die notwendigen Schritte zur Bewertung innovativer Technologien skizziert und international vereinheitlicht werden. Dr. Wulf-Dietrich Leber betonte in der Diskussionsrunde, dass eine Nutzenbewertung dringend notwendig sei, insbesondere bei digitalen Technologien.
Prof. Dr. Axel Mühlbacher eröffnete den Workshop „Patientenzentrierte Bewertungsrahmen“ als Teil der 5. Plenumsveranstaltung, mit der Frage: „Wir wollen die Nutzenbewertung diskutieren, aber wie sieht so ein Evaluationsprozess aus?“ Am Beispiel der Onkologie stellte er Möglichkeiten vor, wie eine Nutzenbewertung in Form von Value Assessment-Frameworks aussehen könnte. Den Fokus legte er auf die Messproblematik bei unterschiedlichen Maßeinheiten, z.B. von klinischen Effekten, die unter anderem durch ein Scoring normalisiert und durch eine Gewichtung gewertet werden müssen.
Auch Prof. Dr. Bernhard Wörmann ging auf die besonderen Herausforderungen der Onkologie ein. Er verdeutlichte, dass individuelle Präferenzen kontext- und kulturabhängig sind: „Man muss ein Framework machen, wo eine Änderung der Datenbasis dazu führt, dass das Medikament flexibel neu bewertet werden kann.“ Die ESMO-MCBS-Skala beschrieb er als ein wertvolles Instrument. Diskutiert wurden Endpunkte und Präferenzen. Welche Endpunkte gibt es? Welche Endpunkte müssen eingebracht werden? Wie wird mit kollektiven und individuellen sowie seltenen und extremen Präferenzen umgegangen? Was ist mit „Changing Values“? Für Axel Mühlbacher ist klar: „Wir brauchen einen strukturierten Rahmen. Wenn wir keine Messtechniken haben, kann keine Entscheidung getroffen werden.“


Europäischer HTA-Prozess auf einem guten Weg

Die systematische Bewertung von Gesundheitstechnologien wird aktuell in Europa durch 90 nationale Organisationen durchgeführt. In Deutschland sind die Prüfung der klinischen Performance (Assessment) und die Beurteilung der Vor- und Nachteile von Therapiealternativen (Appraisal) inhaltlich und organisatorisch getrennt – dies ist beim National Institute of Health and Care Excellence (NICE) in Großbritannien und der Haute Autorité de Santé (HAS) in Frankreich nicht der Fall. Das laufende europäische Gesetzgebungsverfahren soll das Health Technology Assessment vereinheitlichen. Zielsetzung ist ein einheitlicher europäischer Prozess bei der Nutzenbewertung und damit auch die (Weiter-)Entwicklung der Methoden.
Prof. Reinhard Busse ging in seinem Vortrag auf die Entwicklung eines europäischen HTA-Prozesses ein. Dabei verwies er insbesondere auf den gesetzlichen Rahmen und die strukturellen Voraussetzungen. Seiner Meinung nach sei man mit Institutionen wie der EUnetHTA auf einem guten Weg. Offen sei jedoch, was bei einem gemeinsamen europäischen Bewertungsprozess mit den natio-
nalen Institutionen passieren soll. Derzeit scheitern die internationalen Bemühungen an den Einwänden der großen Organisationen, wie dem IQWiG oder der HAS. „Wir müssen uns fragen, wie wir was mit einbringen, ohne zu sagen, wir wollen das allein machen“, beschreibt Busse seine Kritik an der derzeitigen Situation. Er sieht zukünftig nur dann eine umfassende Nutzenbewertung, wenn alle Länder zusammenarbeiten, da nicht jedes Land ausreichende Möglichkeiten habe.
Die praktische Seite eines europäischen Bewertungsansatzes stellte Dr. Katarzyna Kolasa dar. Am Beispiel von Polen verwies sie darauf, dass aktuell vor allem die kleineren nationalen Bewertungsagenturen an ihre Grenzen in der Durchführung eigenständiger Bewertungen gebracht würden. Vor diesem Hintergrund sieht sie den Vorteil einer einheitlichen Bewertung auf europäischer Ebene. Daneben hob sie als weiteres Zukunftsthema die Bedeutung der digitalen Revolution hervor: So lässt sich mit Gesundheitsapps, Social Media-Kampagnen und durch digitalen Datenaustausch der Gesundheitszustand von Patienten kontrollieren und beeinflussen. Das macht andere Arbeitsprozesse möglich.

Preisfestsetzung und Bewertung trennen

Busse und Kolasa waren sich einig, dass die Bewertung (von klinischen Daten/Erkenntnissen) in der EU (nicht in den einzelnen Mitgliedstaaten) erfolgen kann, wenn die Bewertung und Preisfestsetzung innovativer Technologien getrennt würde. Dies würde Geld sparen, eine größere Wirkung auf außereuropäischer Ebene haben und den EU-Mitgliedstaaten helfen, die über keine eigene HTA-Institution verfügen.  Anschließend kann die Preisfestsetzung in jedem Mitgliedstaat individuell durchgeführt werden. Dabei würden die Entscheidungssouveränität und die Preisgestaltung im Zuständigkeitsbereich nationaler Prozesse verbleiben.

Nutzenbewertung in Europa – wer machts?

Könnte das deutsche IQWiG die zukünftige europäische Institution sein, die Bewertungen auf der EU-Ebene vollzieht? Lange vertrat das IQWiG dazu eine ablehnende Haltung mit dem Argument der mangelnden „Qualität des HTA-Frameworks“. Nun scheint das IQWiG dem positiver gegenüberzustehen und sieht den Vorteil der „Qualitätssicherung“, wenn es selbst an der Spitze der europäischen Bewertung steht und die Hauptverantwortung übernimmt. Auch das schürt einige Kritik in den EU-Mitgliedsstaaten.
Fazit
Die Nutzenbewertung braucht neue, europäische Ansätze. Dies sei – nach Meinung zahlreicher Anwesender – die zentrale Aufgabe für die Nutzenbewertung in der Medizintechnik und Pharma in den nächsten fünf bis zehn Jahren. Die aktuellen Prozesse sind zu komplex und intransparent und berücksichtigen den „Value“, den Nutzen und die Patientenpräferenzen in zu geringem Maße. Erste Ansätze eines gemeinsamen Bewertungsrahmens sind vorhanden und werden diskutiert. Offen bleibt jedoch, wie dieser Rahmen strukturell ausgestaltet und vereinheitlicht werden kann.

von: Christin Juhnke, M.A., Fachbereich Gesundheit, Pflege, Management der Hochschule Neubrandenburg

 

Zitation

Juhnke, C.: „Nutzenbewertung europäisch gestalten?“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/19), S. 46-47; doi: 10.24945/MVF.04.19.1866-0533.2162

Ausgabe 04 / 2019

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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