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salu.TOP – Konstruktionsprinzipien für die Neuausrichtung unseres Gesundheitssystems

04.10.2019 14:00
Das deutsche Gesundheitssystem zählt nach den Darstellungen zahlreicher Gesundheitspolitiker und Funktionsträger zu den besseren auf dieser Welt. Stellt man jedoch die hohe Kompetenz der Leistungserbringer und Gesundheitswissenschaftler den eingesetzten Ressourcen zur Gesundheitsversorgung unseres Landes gegenüber, erkennt man zahllose Verbesserungspotenziale. Der Sterntitel vom 05.09.2019 „Ärzte fordern, Mensch vor Profit“ [Albrecht, 2019] und die Debatte um die Krankenhausversorgung, ausgelöst durch die Studie der Bertelsmann Stiftung [Loos et al., 2019] mit der Schließung der Hälfte der bisherigen Krankenhäuser, zeigen klar auf, dass unser Gesundheitssystem dringend eine Neuausrichtung braucht. Die nachfolgend vorgestellten Konstruktionsprinzipien für die Neuausrichtung des Gesundheitssystems trägt den Namen salu.TOP*. Diese Prinzipien schaffen Gesundheits- und Versorgungsziele, ordnen Verantwortung zu und bieten umfassende Transparenz. Das so konstruierte System bildet eine Referenz für die Analyse des aktuellen Systems, für die Identifikation der wichtigsten Optimierungsmöglichkeiten und für die Priorisierung zur konkreten Umgestaltung.

http://doi.org/10.24945/MVF.05.19.1866-0533.2172

>> Nach den OECD-Indikatoren 2017 [OECD, 2017] steht Deutschland mit 11,3 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) hinter USA (17,2%) und der Schweiz (12,4%) auf dem dritten Platz. Betrachtet man nur Beiträge und Steuergelder findet sich Deutschland sogar auf Platz 1. Bei der Zahl der Krankenhausbetten als wesentlichem Kostenfaktor belegt Deutschland mit 8,1 Betten pro 1.000 Einwohner hinter Japan, Korea und Russland Platz 4 (von 43).
Bei den Ergebnissen ändert sich das Bild: Diese Ressourcen bringen Deutschland nicht immer auf vordere Plätze. Auffällig sind im OECD-Bericht u.a. hohe Raten von Thrombosen und Embolien (419 bzw. 340 bei 100.000 Eingriffen) nach Hüft- und Knieeingriffen.
In einer Studie, die von der Gesundheitslast ausgeht und einen Index für Zugang und Versorgungsqualität berechnet, nimmt Deutschland nur Rang 20 von 50 ein [GBD 2015]. Ungünstig fielen auch die Ergebnisse für Deutschland bei Epilepsie, Hodenkrebs, Arzneimittelnebenwirkungen und Magengeschwüren aus. Bei dem von Bürgern wahrgenommenen Gesundheitszustand liegt Deutschland mit 64,5% positiver Antworten „gut oder sehr gut“ deutlich abgeschlagen auf Platz 25 (von 34). Dieser Eindruck variiert mit der Höhe des Einkommens der Bürger zwischen 78% (hohes Einkommen) und 50,5% (niedriges Einkommen) [OECD, 2017].
Im Laufe der Jahre haben Einstellungen (Angebotsausweitung, Ökonomie, Bürokratie) und Vorgehensweisen (Richtlinien, Verordnungen, Gesetzeskonvolute) Raum gewonnen, die eine zukunftsorientierte Entwicklung nicht nur behindern, sondern sogar blockieren. Unser Gesundheitssystem mit einer Bruttowertschöpfung von 370 Mrd. Euro [BMG, 2019] benötigt dringend Versorgungsziele und Werte, an denen sich die Leistungsgestaltung orientieren kann. Da diese noch nicht explizit definiert sind, lässt sich auch nicht bewerten, wie gut das Gesundheitssystem wirklich ist. Leistet es das, was es mit den umfangreichen Ressourcen wirklich leisten könnte? Der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen bemängelt das Verhältnis von Aufwand und Wirkung seit mehr als zehn Jahren in seinen Gutachten [SVR, 2018].
In diesem Sinne hat Bismarcks großer Wurf aus dem Jahre 1883 [Reichstag, 1883] etwas Patina angesetzt und sollte dringend an aktuelle Erfordernisse und verfügbare Möglichkeiten angepasst werden. Dringlich und vom Sachverständigenrat wiederholt empfohlen sind verbindliche Zieldefinitionen. Auf der Grundlage dieser Ziele sollte eine Ergebnisverantwortung eindeutig zugeordnet werden. Zielerreichung und Ressourcenverbrauch sind zeitnah für alle Bürger verständlich und transparent darzustellen.
Zahlreiche aktuelle Initiativen des BMG und anderer Institutionen des Gesundheitssystems zielen in diese Richtung. Das Konzept salu.TOP bietet einen orientierenden Rahmen für eine umfassende Neuausrichtung des Gesundheitssystems.
Neuausrichtung auf der
Grundlage salu.TOP
Neuausrichtung des Gesundheitssystems bedeutet, dass Elemente, für die ein breiter Konsens besteht, über ein Regelwerk funktional und logisch verbunden werden. Die wesentlichen Elemente dieser Neuausrichtung finden sich in Tabelle 1.
Das Konzept für die Neuausrichtung (salu.TOP) ist durch folgende Schlüsselelemente gekennzeichnet:
1. Orientierungen,
2. Ziele und Werte,
3. Verantwortung,
4. Bedarfe,
5. Vergütung und Effizienz
6. Transparenz,
7. Digitalisierung

salu.TOP beinhaltet einige Annahmen, die derzeit (noch) fest im System verankert sind. Manche Partner im System würden es fast als einen Aufruf zu einer sozialistischen Revolution darstellen, stellte man nachfolgende Setzungen in Frage: Sektorale Gliederung, föderale Entscheidungshoheit über Inhalte der Versorgung, duale Finanzierung der Krankenhäuser, gemischte Finanzierung aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung mit Zuschüssen aus Steuergeldern, ein knebelartiges DRG-System, hohe Vergütungen für technische und operativ-kurative Maßnahmen, Intransparenz der verbrauchten Mittel und der erzielten Ergebnisse, Ökonomisierung der Versorgung, um nur einige zu nennen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Dies alles ist nicht neu und wurde schon früher und regelmäßig vom Sachverständigenrat und Gutachten verschiedener Stiftungen immer wieder kritisch dargestellt.
Teile werden hier als feste Annahme weitergeführt, nicht weil dies gut und richtig wäre – ganz im Gegenteil – sondern weil die beharrenden Kräfte so groß sind. Sachlogisch lassen sich die Annahmen nicht wirklich begründen. Allerdings zeigt sich im Regelwerk von salu.TOP, dass diese Annahmen regelhaft zu Widersprüchen in sich führen und eigentlich beseitigt werden sollten.

Orientierungen
Salu.TOP orientiert sich am Versorgungsbedarf der Bevölkerung, an den medizinischen Möglichkeiten, den wissenschaftlich akzeptierten Grundlagen und den verfügbaren Ressourcen. Kennzeichnendes Merkmal ist immer die Patienten- und Nutzenorientierung. Diese Orientierungen werden durch gesellschaftlich gesetzte Normen ergänzt. Technische Entwicklungen, wie die zu erwartende digitale Plattform für das Gesundheitswesen oder die inzwischen sogar verschreibungsfähigen Gesundheits-Apps werden ziel- und evidenzbasiert entwickelt, wissenschaftlich evaluiert und unter Berücksichtigung aller Patientenrechte eingesetzt.
Salu.TOP nutzt Kompetenz, Engagement und Schwarmintelligenz aller Beteiligten zum Wohle der Bürger und Patienten. Zielfreie Bürokratie und korporatistische Bevormundung finden im neuen System keinen Platz. Bürger finanzieren das System. Als Patienten sind sie weder Bittsteller noch Objekte, sie haben vielmehr einen rechtlichen Anspruch auf effiziente und gute Versorgung. Allerdings werden diese Rechte nach §§ 12 und 70 SGB V eher lückenhaft umgesetzt, finanzielle Aspekte stehen zu oft im Vordergrund – Einnahmen bei DKG und KBV sowie Kosten bei GKV-SV (Behandlungsauftrag).

Ziele und Werte
An erster Stelle und mit höchster Priorität werden bundesweit gültige Gesundheits- und Versorgungsziele definiert. Ziele werden immer „smart“ formuliert (spezifisch, messbar, attraktiv, relevant und termingebunden). So lautet die oberste Regel: „Das BMG lässt patienten- und bedarfsorientierte Versorgungsziele für die gesamte Bevölkerung entwickeln. Diese basieren auf einem gesellschaftlichen Konsens-prozess, betreffen mindestens 90% des Versorgungsvolumens und werden noch in dieser Legislaturperiode veröffentlicht.
Für die Umsetzung in salu.TOP sind die Versorgungsziele und Verantwortlichkeiten klar geregelt. Inhalte von Medizin und Pflege basieren auf belastbarer wissenschaftlicher Evidenz.
Die Versorgungsziele werden von Rahmenbedingungen und ethischen Normensetzungen flankiert. Mit welchen Prozessen in der konkreten Umsetzung Ziele erreicht und Werte berücksichtigt werden, regelt die Selbstorganisation im Gesundheitssystem. Ergebnisse müssen zeitnah, umfassend und verständlich transparent dargestellt werden.
Das neue Gesundheitssystem salu.TOP verfolgt den Hauptzweck, Patienten zu versorgen. Bürger, Steuerzahler und Versicherte stellen alle Mittel bereit. In diesem Sinne „gehört“ ihnen das System. Gesundheitssysteme sind auch bedeutende Wirtschaftsfaktoren. Gewinnerzielung ist möglich, sie ordnet sich jedoch immer dem Zweck und dem Patientenwohl unter.

Verantwortung
Verantwortung durch Delegation
Als Grundlage für die Umsetzung werden Regeln vorgeschlagen, auf deren Grundlage salu.TOP entwickelt werden kann. Das angestrebte Gesundheitssystem nutzt die Stärken unseres Landes, eröffnet den Bürgern beste Chancen für ihre Gesundheit und schützt sie vor Fehlentwicklungen. Diese Regeln berücksichtigen einige zunächst als unverrückbar angenommene Vorgaben wie eine vertikale Gliederung in fünf Ebenen, eine föderal ausgerichtete Umsetzung und eine sektorale Gliederung der Selbstverwaltung. Natürlich wären auch weitergehende Optimierungen denkbar. So sollte die Sektorierung unbedingt und zeitnah überwunden werden kann.
Die fünf Ebenen des Gesundheitssystems sind nach ihren Funktionen gegliedert und operativ verbunden (Tab. 2).
Für jede Ebene werden drei Regeln formuliert: Z1 bis Z3, S1 bis S3, … P1 bis P3. Diese hierarchisch gegliederten Funktionsebenen gestalten mit ihren Regeln, Rahmenbedingungen und ethischen Setzungen das Gesundheitssystem salu.TOP.

Verantwortung durch Selbstorganisation
In der Ebene 1 „Ziele setzen“ werden die Grundlagen definiert, nach denen das Gesundheitssystem salu.TOP gestaltet wird. Die Gesundheitspolitik setzt den Prozess zur Definition der Ziele in Gang und stellt die erforderlichen Mittel bereit. Die Ziele selbst werden in breitem gesellschaftlichen Konsens erarbeitet. Politik und Bürger wirken dabei eng zusammen. Dieser Prozess ist von Partikular- oder politischen Interessen frei zu halten.
Die Ebene 2 „Selbstorganisation“ ist funktional ausgerichtet, steht für „Das System selbst organisieren“ und ersetzt die überholte Bezeichnung „Selbstverwaltung“. Gesundheitsversorgung wird in salu.TOP ziel- und patientenorientiert selbst organisiert und nicht verwaltet.
An der Spitze dieser Ebene steht eine Einrichtung, die die komplexen Aufgaben zur Gestaltung und Lenkung des Gesundheitssystems auch bewältigen kann. Dies könnte eine Weiterentwicklung des GB-A sein. Dieser „Neue GB-A“ muss allerdings unabhängig von den Partialinteressen der bisherigen Organe der Selbstverwaltung sein. Diese Organe arbeiten vielmehr unter seiner Federführung konstruktiv und patientenorientiert zusammen. Dabei sind sie den Versorgungszielen und den sie begleitenden Normensetzungen verpflichtet.
Derzeit müssen die bisherigen Organe der Selbstverwaltung satzungsgemäß die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Diese Zwangssituation hindert sie daran, konstruktiv und innovativ ein neues zukunftssicheres und patientenorientiertes Gesundheitssystem zu gestalten. Mit der neuen Ausrichtung können sie mit der hohen Kompetenz in ihrem jeweiligen Gebiet gezielt mitwirken. Es ist offensichtlich, dass man ein so komplexes System wie unser Gesundheitswesen nicht mit Richtlinien und Strukturgesetzen in die Zukunft führen kann.
Die neue Einrichtung an der Spitze der Selbstorganisation bekommt einen niederschwelligen Zugang zu wissenschaftlicher Kompetenz und zu validen Fakten. An vorderer Stelle stehen dabei wissenschaftliche Fachgesellschaften sowie Einrichtungen aus den Gebieten wie Medizin, Epidemiologie, Medizinsoziologie, Gesundheitsmanagement, Versorgungsforschung, Gesundheitsökonomie, Bevölkerungsdemografie, Gesundheitsberichtserstattung und Statistik.
Auf der Ebene 3 „Regionalisieren“ werden die inhaltlichen Vorgaben wie Behandlungspfade aus der Ebene 2 an die unterschiedlichen geopolitischen Bedingungen in den Regionen adaptiert. Die Hauptaufgabe besteht darin, aus den inhaltlich ausgerichteten Behandlungspfaden organisatorische Versorgungsketten so abzuleiten, dass trotz großer regionaler Unterschiede gleichwertige Lebensverhältnisse gesichert werden. In dieser Ebene arbeiten die föderalen und kommunalen Einrichtungen mit den Strukturen von GKV, DKG und KBV zusammen. Die Landesgesundheitsministerien verantworten die Ausrichtung und Umsetzung.
Auch in Ebene 4 „Organisieren“ haben die Leistungsträger in Praxen, MVZs und Kliniken alle Optionen, die Versorgung selbst zu organisieren, solange sie die entsprechenden Vorgaben beachten: Behandlungspfade, Versorgungskette, Evidenzbasis, Patientenorientierung, Rahmenbedingungen und ethische Maßstäbe und Grundsätze. In Ebene 5 „Behandeln“ kommt als Richtschnur für die Behandlung noch das Primat der Patientenmitentscheidung und der Grundsatz hinzu, dass der Nutzen immer größer als der Schaden sein muss.

Bedarfe
Die Notwendigkeit, das Gesundheitssystem am Versorgungsbedarf der Bevölkerung auszurichten, ist unstrittig. Der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen hat in mehreren Gutachten auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Gesundheitssystem am Bedarf auszurichten und nicht am Angebot; zuletzt im Gutachten „Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung“ [SVR, 2018].
Dass die Ermittlung von Bedarfen im Bereich der ambulanten Versorgung möglich ist, belegt ein Gutachten des G-BA 2018 „Gutachten zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanung i.S.d. §§ 99 ff. SGB V zur Sicherung der vertragsärztlichen Versorgung“ [GB-A, 2018]. Für den stationären Bereich zeigt das aktuelle Gutachten der BertelsmannStiftung [Loos et al., 2019] Wege auf, wie Qualität, Effizienz und Bürgernähe entsprechend §70 SGB V „Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit“ verbunden werden können. Methoden und Ergebnisse für die Abschätzung des strukturellen Bedarfs in der stationären Versorgung werden für eine Modellregion vorgestellt.
Vergütung und Effizienz
Kern des Systems salu.TOP ist die nachvollziehbare ziel- und bedarfsorientierte Verbindung von Aufgaben und Ressourcen. Epidemiologisch begründete Versorgungsbedarfe, Ziele und Zwecke werden auf den Ebenen 1 „Ziele setzen“ und Ebene 2 „Selbstorganisation“ verbindlich und transparent definiert. Sie bilden die Grundlage für die Zuweisung der Mittel an die Einrichtungen der Gesundheitsversorgung. Die Mittel werden also nicht mehr pauschal den Sektoren zugewiesen, vielmehr folgen die Vergütungen den Leistungen innerhalb der Versorgungsketten. Da Art und Umfang der Leistungen dem Versorgungsbedarf folgen und über die Behandlungsketten den Einrichtungen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zugewiesen sind, erübrigen sich alle Maßnahmen zur Leistungsbegrenzung nach oben (Fallausweitung) als auch nach unten (Mindestmengen). Der Mittelverbrauch wird nach Gesichtspunkten der Angemessenheit entsprechend Art und Menge der Leistungen sowie deren Qualität regelmäßig im Sinne der allokativen Effizienz evaluiert und transparent dargestellt. Die Qualität orientiert sich an den mit den Behandlungsketten verbundenen planungsrelevanten Qualitätsindikatoren des IQTiG.

Transparenz
Die technische Unterstützung von Dokumentation und Kommunikation durch Mittel und Methoden der modernen Informationstechnik werden durch die gesetzlich geforderte Standardisierung von Dokumentation und Interoperabilität zwischen allen Beteiligten strukturiert und gesichert. Dies bildet die Datengrundlage für eine ebenenspezifische Gesundheitsberichterstattung über Ziele, Aufgaben, Verantwortung, Zielerreichung, Qualität und Mittelverbrauch.
Damit findet die Versorgungsforschung eine wertvolle Basis, um einerseits die Entscheidungsfindung auf den Ebenen 1 und 2 zu unterstützen und andererseits den Handlungsverantwortlichen in den Ebenen 3 und 4 eine Faktengrundlage zu geben, auf der sie ihre Leistungserbringung laufend optimieren können. Auf dieser Datengrundlage können auch weitere wissenschaftliche Auswertungen in den Fachgebieten Epidemiologie, Gesundheitsökonomie, Versorgungs- und Qualitätsmanagement durchgeführt werden.
Die Ergebnisse aller Auswertungen werden zeitnah und verständlich veröffentlicht.

Digitale Transformation
Für eine IT-basierte Kommunikation in integrativen Behandlungsketten und für eine Evaluation im Sinne moderner Gesundheitsberichterstattung muss eine interoperable Technologieplattform mit verbindlichen Spezifikationen geschaffen werden.
Die im Rahmen der digitalen Transformation verfügbaren Optionen müssen entsprechend der Vorgehensweise bei Medikamentenprüfungen vor ihrer Einführung mit Methoden der Versorgungsforschung auf Nutzen, Risiken, Nebenwirkungen und Kontraindikationen geprüft werden. Mit Methoden der Gesundheitsökonomie müssen Aufwand und Nutzen abgewogen werden. Im Bereich der Selbstorganisation wird über die Zulassung entschieden.
Die Regeln und ihre Umsetzung
Die Regeln wurden ausgehend von der Beziehung zwischen Patienten und Behandlern in der Ebene 5 „Behandeln“ von unten nach oben abgeleitet („bottom-up“). Die Herleitung beginnt bei der Regel „Der Patient entscheidet, was geschieht“. Kennzeichnend für die Ebene 4 „Organisieren“ war der organisatorische Kontext, in dem die Einrichtungen im Sinne einer integrativen Versorgung zusammenarbeiten. Regionale Besonderheiten wurden in Ebene 3 „Regionalisieren“ identifiziert und berücksichtigt. Hier wirken die regionalen Organe der Selbstorganisation unter der Aufsicht der Landesgesundheitsministerien zusammen. Entscheidende Grundlagen zu Inhalten und Organisation der Gesundheitsversorgung werden in Ebene 2 „System organisieren“ geschaffen. In dieser Ebene wird ein entscheidendes Hindernis für eine zukunftsorientierte Entwicklung beseitigt: Die Arbeit des bisherigen Gemeinsamen Bundesaus­schusses wird oft durch unauflösbare Zielkonflikte der „Bänke“ behindert („dead-lock“). Diese durch die Satzungen der Organe unauflösbare Verklemmung wird durch einen klaren, ziel­orientierten Arbeitsauftrag an die Ebene „Selbstorganisation“ aufgelöst. In Ebene 1 „Ziele setzen“ werden verbindliche Gesundheits- und Versorgungsziele sowie ergänzende Normensetzungen geschaffen.
Für die Umsetzung wird das Regelwerk mit den Rahmenbedingungen und ethischen Normensetzungen verbunden. Die Umsetzung startet top-down auf der Ebene 1 „Ziele setzen“ mit der Definition der Versorgungsziele (Regel G1). Die Aufgaben der Gesundheitspolitik beschränken sich darauf, die Erarbeitung von Zielen sowie von Rahmenbedingungen und ethischen Normen zu ermöglichen und die Bereitstellung von Ressourcen sicherzustellen. Eine Schlüsselfunktion bei der Umsetzung nimmt ein Delegationsverfahren ein. Damit wird die Verantwortung für die Operationalisierung und Umsetzung der Ziele und Werte formal auf die Ebene 2 „System selbst organisieren“ formal und strukturiert übertragen.
Dabei wird klar, dass die Einrichtung „Ge-meinsamer Bundesausschuss“ in der bisherigen Form für die Bewältigung solcher Aufgaben nicht konstruiert wurde. Der „dead-lock“, in dem sich die Organe der bisherigen Selbstverwaltung gefangen haben, wird durch die Neudefinition einer Einrichtung an der Spitze der Ebene 2 „Selbstorganisation“ aufgehoben. Dieser „Neue G-BA“ erarbeitet mit umfassender wissenschaftlicher Unterstützung Inhalte, Umfang und Art der Versorgung. Dabei orientiert er sich an den Versorgungsbedarfen, an der verfügbaren Evidenz und den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Rahmenbedingungen und ethische Setzungen sind verbindliche Eckpfeiler.
Die bisherigen Organe werden damit von definitorischen Pflichten befreit, bekommen aber umfassende Umsetzungsaufgaben. Zusätzlich wird ihr impliziter Zielkonflikt zwischen den satzungsgemäßen Aufgaben zur Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder und der konstruktiven Mitwirkung an der Gestaltung des Gesundheitssystems als Ganzem aufgelöst. Immer steht das Patientenwohl über den Interessen der Mitglieder von GKV-SV, DKG und KBV. §70 im SGB V zu Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit wird operationalisiert.
In der Ebene 3 „Regionalisieren“ werden die evidenzbasierten Inhalte der Gesundheitsversorgung aus Ebene 2 übernommen. Die Landesministerien sorgen zusammen mit kommunalen Organen für die regionale Ausgestaltung und die Anpassung der Bedarfe an die soziodemografischen und geopolitischen Bedingungen. Hier werden die Behandlungspfade der Ebene 2 in regionale Versorgungsketten übersetzt.
Dabei wirken die länderspezifischen Organe der bisherigen Selbstverwaltung konstruktiv und kooperativ mit. Immer steht das Patientenwohl über den Interessen der Organmitglieder. Für den Ressourceneinsatz gilt immer die Forderung nach allokativer Effizienz: die Mittel folgen immer dem Ziel und Zweck sowie Art, Umfang und Qualität der Leistungen.
In Ebene 4 „Versorgung Organisieren“ wirken die ambulanten, stationären und rehabilitativen Einrichtungen auf der Basis der Behandlungsketten zusammen. Dazu folgen sie den Prinzipien von Donabedian und organisieren a) den Zugang zu ihren Einrichtungen, b) die interne Leistungserbringung und c) die Kontinuität der Versorgung im Zusammenwirken mit anderen Einrichtungen. In dieser Ebene treffen Vorgaben des Gesundheitssystems auf die betriebswirtschaftliche Orientierung der Einrichtungen. Diese sollen ein angemessenes Betriebsergebnis erzielen. In salu.TOP steht das Patientenwohl immer über der Gewinn-optimierung.
Die Einrichtungen schaffen die Arbeitsbedingungen für die Leistungserbringer und damit die Voraussetzungen für eine optimale Versorgung in Ebene 5 „Behandeln“. Über die Behandlung selbst entscheidet der Patient im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten. Auf der Grundlage dieser informierten Entscheidung setzt das Behandlungsteam seine fachlichen Kompetenzen ein.
Als Grenzen für die Versorgung gelten der evidenzbasierte Bedarf und die verfügbaren Ressourcen sowie die Rahmenbedingungen und ethischen Setzungen der übergeordneten Ebenen. Die bewährte Forderung „Nutzen ist größer als der Schaden“ stellt sicher, dass das Patientenwohl immer an erster Stelle steht, dabei spielt die Indikationsqualität eine besondere Rolle.
Die Regeln im Realitäts-Check
Nach Kriterien der Systemtheorie ist unser Gesundheitssystem ein komplexes System. Komplex bedeutet, dass die tatsächliche Wirkung von Eingriffen über Gesetze, Richtlinien oder Verordnungen grundsätzlich nicht vorausgesagt werden kann. Dies liegt an der hochgradigen internen Vernetzung und den zahllosen und intransparenten Spielregeln zwischen den Beteiligten.
Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, wie man Komplexität durch Ziele, Verantwortung und Transparenz reduzieren kann. So korrigiert und optimiert sich das Gesundheitssystem im Sinne eines lernenden Systems in weiten Bereichen selbst.

Aktuelle Gesetzesinitiativen
Die Funktionalität der salu.TOP-Regeln wurde anhand von sechs Gesetzesinitiativen aus dieser und der letzten Legislaturperiode geprüft. Ausgewählt wurden: Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG), Pflegepersonal-Untergrenzen Verordnung (PpUGV) ), planungsrelevante Qualitätsindikatoren (Plan-QI-RL), Implantateregister-Errichtungsgesetz (EIRD), Mindestmengen-Regelung (Mm-R), elektr. Arzneimittelinformations-Verordnung (EAMIV). An ihnen zeigt sich, dass die Anwendung der Regeln die Initiativen überflüssig gemacht oder im Umfang zumindest deutlich reduziert hätte. [Piwernetz und Neugebauer, 2019].
Am Beispiel der Probleme mit Terminen bei Fachärzten zeigt sich die unterschiedliche Problembewältigung deutlich. Unter den aktuellen Bedingungen bedarfsgesetzlicher Regelungen durch den Bundestag, um Terminprobleme zu lösen, mit den Methoden und Regeln von salu.TOP regeln das die Einrichtungen in Ebene 2 „Versorgung organisieren“ selbst. Die Ergebnisse werden in der regionalen Gesundheitsberichterstattung berichtet.
Ähnliche Unterschiede lassen sich auch für die Probleme „Pflegepersonal-Untergrenzen“ und für „Mindestmengen“ darstellen. Das Problem mit Mindestmengen existiert gar nicht, da salu.TOP ein bedarfsorientiertes System ist und der Versorgungsbedarf für diese Behandlungen an spezifischen, akkreditierten Zentren durchgeführt werden.
Die Hauptunterschiede bestehen darin, dass es im aktuellen Gesundheitssystem keine verbindlichen Ziele für die Handelnden gibt, Verantwortung für die Ergebnisse nicht zugeschrieben ist und dass keine Transparenz über die Verwendung der Ressourcen und die damit erreichten Ergebnisse gibt. Unter Ergebnissen ist immer der Gewinn an Gesundheit für Patienten und die Qualität der Organisation der Gesundheitsversorgung zu verstehen.

Zukunftsweisende Projekte
Mehrere aus den Regeln, den Rahmenbedingungen und ethischen Setzungen abgeleitete Forderungen wurden in einigen Ländern und Projekten bereits erfolgreich realisiert.
In Deutschland wurden bereits 2005 Gesundheitsziele beschrieben, aber nicht konsequent im Versorgungsalltag umgesetzt [Kurth, 2006; Hess, 2012; Busse, 2016]. Operationalisierte Versorgungsziele gibt es bisher nicht.
Ein Projekt der Konrad-Adenauer-Stiftung erarbeitete 2007 Grundlagen für ethische Normensetzungen. Die Ergebnisse sind noch immer aktuell. Dabei wurden insbesondere Zielkonflikte zwischen Humanität und Wettbewerb ausgelotet [Spahn, 2007; Hecken, 2007; Schmidt-Jortzig, 2007]. Hacker fasst als Herausgeber Vorschläge zusammen, wie man Medizin und Ökonomie gemeinsam weiter-entwickeln könnte [Hacker, 2016].
Die Konzepte von Evidence-Based-Medicine [Sackett, 1996], Evidence-Based-Healthcare [Gray, 2004] und Value-Based-Heathcare [Porter, 2012] haben nichts an Aktualität eingebüßt. Sie zählen zu den grundlegenden Methoden, die in salu.TOP umgesetzt werden.
Österreich hat 2011 Gesundheitsziele veröffentlicht und Verantwortungen innerhalb des Systems zugeordnet [Bundesministerium für Gesundheit und Frauen, Österreich (BMGF), 2011]. Über die Zielerreichung wird regelmäßig berichtet [BMGF, 2017].
Die Health Maintenance Organisation In-nermountain HealthCare (IMHC) zeigt im Bundesstaat Utah der USA seit Jahren, wie bei einem Umfang von mehr als 900.000 Versicherten ein leistungsfähiges und effizientes Versorgungssystem zu beiderseitigem Nutzen von Patienten und HMO konkret umgesetzt werden kann [Abelson, 2016; James, 2018]. Die bewährten Methoden können adaptiert werden.
Schweden hat Grundlagen für eine bedarfsorientierte Versorgung geschaffen [Broqvist, 2011] und evaluiert die Ergebnisse regelmäßig [Sandman, 2018]. In Dänemark hat die Regierung eine strukturierte Qualitätsinitiative mit konkreten Qualitätszielen auf den Weg gebracht [Nørby, 2018] und verbessert sie laufend [Jylling, 2018].
Die Beteiligung von Patienten an medizinischen Entscheidungen hat in anderen Ländern eine lange Geschichte. Die Forderung „Nothing about me without me“ stammt bereits aus dem Jahr 2001 [DelBanco et al., 2001]. Die Initiative „Open Notes“ hat 2012 Transparenz und Patientenorientierung auf eine neue Stufe gehoben. Sie öffnet den Patienten die Aufzeichnungen ihres behandelnden Arztes in elektronischer Form [DelBanco et al., 2012].
Ausblick
Regeln, Rahmenbedingungen und ethische Setzungen von salu.TOP bieten die grundlegenden Konstruktionsprinzipien für ein Gesundheitssystem, das …
• sich zielorientiert am Patientenwohl ausrichtet,
• sich auf verfügbare Evidenz gründet,
• sich am Versorgungsbedarf orientiert,
• die verfügbaren Ressourcen zielgerichtet und effizient einsetzt,
• die Kompetenz und das Engagement der Leistungserbringer respektiert und nutzt,
• sich selbst organisiert, fortlaufend lernt und zukunftsorientierte Entwicklungen einbindet,
• und transparent in Ergebnissen, Leistungsgeschehen und Ressourcenverbrauch ist.

salu.TOP liefert in diesem Sinne eine Blaupause für ein Gesundheitssystem, wie wir es eigentlich verdienen. Daraus ergeben sich drei Handlungsoptionen:
1. Die Referenz salu.TOP macht deutlich, an welchen Stellen unser Gesundheitssystem optimiert werden kann. Die zu reformierenden Elemente der aktuellen Versorgung werden offensichtlich.
2. Seit langem werden auf den fünf Ebenen Defizitanalysen berichtet. Mit salu.TOP kann man sie strukturieren und nach Folgen und Korrekturmöglichkeiten bewerten.
3. Auf dieser Grundlage können die in den jeweiligen Ebenen Verantwortlichen über Prioritäten und Zeitrahmen für konkrete Verbesserungen entscheiden und der Öffentlichkeit die Fortschritte regelmäßig transparent darstellen.

Zahlreiche bereits vorhandene und bewährte Elemente und Regelungen lassen sich in salu.TOP integrieren sowie Leuchtturmprojekte aus dem Ausland gezielt adaptieren.
In den Wirtschaftswissenschaften wurden zuletzt Nobelpreise dafür vergeben, dass man den „homo oeconomicus“ als Schimäre entlarvt hat. Auch einen „homo sanitarius“ – also das Wesen, das sich im Gesundheitssystem nur rational im Sinne des Gemeinwohls verhält – gibt es aus sich heraus nicht. Wer es sehen will, kann erkennen, dass man unser Gesundheitssystem allein über Eingriffe in Form von Gesetzen, Richtlinien oder Verordnungen weder rational lenken noch nachhaltig verändern kann.
Was wir heute brauchen, sind verbindliche Ziele, klare Verantwortlichkeiten und zeitnahe Transparenz. Der medizinische Fortschritt und die digitale Transformation warten nicht. Es ist höchste Zeit zum Handeln. <<
von:
Dr. Dr. Klaus Piwernetz,  Geschäftsführer medimaxx health management GmbH
und Univ.-Prof. Dr. Prof. h.c. Dr. h.c. Edmund A. M. Neugebauer, Präsident der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane (MHB).

Zitationshinweis:

Piwernetz, K., Neugebauer, E.: „Ein Gesundheits-system, wie wir es verdienen“ (05/19), S. 33-39; doi: 10.24945/MVF.05.19.1866-0533.2172

Ausgabe 05 / 2019

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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