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MS: Mehr Therapieoptionen = bessere Versorgung?

04.06.2018 14:00
Die Multiple Sklerose ist die häufigste entzündliche Erkrankung des Nervensystems junger Menschen in Deutschland. Die Krankheit manifestiert sich in der Regel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, wobei Frauen rund drei Mal häufiger betroffen sind (vgl. Weißbuch Multiple Sklerose, 2016). Die Angaben zur Prävalenz sind uneinheitlich; im Jahr 2015 wird von knapp 224 Tsd. GKV-Versicherten mit einer gesicherten Diagnose ausgegangen (vgl. ZI Versorgungsatlas, 2017). Soweit die epidemiologischen Fakten. Doch welche Therapien stehen derzeit zur Verfügung und wie ist die aktuelle Versorgungssituation in Deutschland? Diese Fragen beantwortet auszugsweise der vorliegende Beitrag.

http://doi.org/10.24945/MVF.01.19.1866-0533.2114

>> Die chronische Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) mit unklarer Ätiologie wird in Abhängigkeit der Krankheitsaktivität und Progredienz in verschiedene Verlaufsformen eingeteilt (vgl. Weißbuch MS, 2016). Von der sogenannten schubförmig verlaufenden MS ist die überwiegende Mehrzahl der Patienten betroffen, wohingegen primär progrediente Verläufe mit ca. 10% deutlich seltener sind (vgl. AMSEL e.V., 2018). Die Behandlung der MS basiert maßgeblich auf der Therapie des akuten Schubs und der langfristigen, verlaufsmodifizierenden Therapie, zusammen auch als Stufentherapie bezeichnet, sowie der symptomatischen Therapie (vgl. dmsg e.V., 2018). Zur Stufentherapie stehen Arzneimittel zur Verfügung, die das Immunsystem modulieren oder supprimieren und deren Auswahl u.a. dem Krankheitsstadium und -verlauf angepasst wird.
Orale Arzneimittel mit steigenden Marktanteilen
Werden die im MS-Markt klassifizierten Fertigarzneimittel (ATC4 N07A0 nach EphMRA) nach dem jährlichen Verbrauch definierter Tagesdosen (DDD) in der GKV betrachtet, zeigt sich ein deutlicher Anstieg von knapp 20 Mio. DDD in 2010 auf über 33 Mio. DDD in 2018 (vgl. Abbildung 1). Dabei steigt der DDD-Verbrauch in 2015 um 22% im Vergleich zum Vorjahr besonders stark an. Maßgeblich dazu beigetragen haben die neu in 2014 zugelassene pegylierte Form des Interferon beta-1a sowie über 5 Mio. verordnete DDD des oralen Wirkstoffs Dimethylfumarat. Auch für Teriflunomid als dritte neu seit 2013 verfügbare orale Therapieoption sowie für den seit 2011 zugelassenen oralen Wirkstoff Fingolimod steigen die verordneten DDD kontinuierlich an. Entsprechend kommt es, wie in Abbildung 1 dargestellt, zu deutlichen Verschiebungen der Marktanteile für die verschiedenen Arzneimittelgruppen. So nimmt der DDD-Anteil der ABCRs (Interferone und Glatiramer, Akronym basierend auf Produktnamen) stetig von über 93% in 2010 auf ca. 47% in 2018 ab. Hingegen finden sich stark steigende Marktanteile bei den oral zur Verfügung stehenden MS-Therapeutika, die in 2018 mit nahezu 44% nur noch geringfügig unter den der ABCRs liegen. Damit könnte sich schon im aktuellen Jahr das Verhältnis zugunsten der oralen Arzneimittel verschieben.
Patienten und
Arzneimittelversorgung regional
Wie Daten aus dem ZI Versorgungsatlas Bericht 2017 in Abbildung 2 zeigen, liegt die bundesweite Diagnoseprävalenz für MS im Jahr 2015 bei 0,32%, was in etwa den einleitend erwähnten knapp 224 Tsd. GKV-Versicherten mit einer gesicherten Diagnose entspricht. Regional zeigen sich allerdings deutliche Differenzen zwischen ost- und westdeutschen KV-Regionen. Die fünf Flächenländer im Osten der BRD weisen auch die fünf niedrigsten Diagnoseprävalenzen auf, während in Nordwestdeutschland Höchstwerte zu beobachten sind. Die im MS-Arzneimittelmarkt verordneten DDD je GKV-Versicherten zeigen eine ähnliche, wenn auch nicht gleiche, regionale Heterogenität. Mit Ausnahme von Brandenburg entfallen hier ebenfalls die geringsten DDD-Verbrauchszahlen auf die ostdeutschen Flächenländer. Mögliche Erklärungsansätze, wie räumlich heterogen verteilte MS-Risikofaktoren und die unterschiedlichen Betrachtungszeiträume, außer Acht gelassen, zeigt die Gegenüberstellung der Datensätze, dass in Regionen, in denen vermehrt eine MS-Diagnosestellung erfolgt, auch entsprechend eine spezifische Arzneimitteltherapie eingeleitet wird.
Kein Zusatznutzen für Innovationen – oder doch?
In der letzten Dekade durchliefen in der Gruppe der Immuntherapeutika die Wirkstoffe Cladribin, Dimethylfumarat, Fingolimod, Ocrelizumab und Teriflunomid die frühe Nutzenbewertung nach § 35a SGB V. In Bezug auf die oralen Darreichungsformen attestierte der G-BA lediglich Fingolimod in einer Patientengruppe einen geringen Zusatznutzen. Der monoklonale Antikörper Ocrelizumab, dessen Bewertung im August 2018 abgeschlossen wurde, erhielt einen geringen Zusatznutzen für zwei Patientengruppen und stellt die bisher einzige Therapieoption in der MS für primär progrediente Krankheitsverläufe dar. Wird der Fertigarzneimittelmarkt für die innovativen Arzneimittel betrachtet (ohne Ocrelizumab) zeigt sich, dass das Ergebnis der frühen Nutzenbewertung wohl kaum einen nennenswerten Einfluss auf die Marktdurchdringung hat. Dimethylfumarat erhielt im Oktober 2014 keinen Zusatznutzen und steigt dennoch bereits im Jahr der Zulassung auf über 5,3 Mio. DDD sowie aktuell auf über 6,1 Mio. DDD. Im Vergleich dazu liegt Fingolimod mit einem geringen Zusatznutzen für eine Patientengruppe bei einem deutlich geringeren DDD-Verbrauch von 4,5 Mio. DDD in 2018 (Quelle: regioMA, INSIGHT Health). Ungeachtet des nicht attestierten Zusatznutzens zeigen sich für alle hier betrachteten Arzneimittel über die Jahre steigendende DDD-Verbrauchszahlen, so dass von einer weiter steigenden Marktdurchdringung ausgegangen werden kann. Damit scheinen bei einer komplexen chronischen Erkrankung wie der MS aber nicht gesundheitspolitische Instrumente, sondern vielmehr die Verlaufsform und die Krankheitsaktivität die Therapieentscheidung der Ärzte und damit den Behandlungsverlauf zu determinieren. Dies zeigt auch das Beispiel Cladribin.
Vom G-BA erhielt das innovative, hochpreisige Immuntherapeutikum im Mai 2018 keinen Zusatznutzen. Das orale Medikament mit Langzeitwirkung hinsichtlich der Schubaktivität und Behinderungsprogression wird in zwei kurzen Behandlungsphasen von je maximal zehn Tagen, die in einem Abstand von einem Jahr erfolgen, eingenommen. Die Jahre drei und vier des Behandlungszyklus sind arzneimittelfrei, was den patientenrelevanten Vorteil der geringeren Belastung durch die gepulste Therapie einschließt.
Und die Versorgungsstrukturen?
Trotz der Ausweitung des DDD-Verbrauchs im gesamten MS-Markt sowie die Erweiterung des therapeutischen Spektrums mit innovativen Arzneimitteltherapien in den letzten Jahren, scheint es weiterhin strukturelle Defizite in der Versorgung zu geben, wie Daten zur Inanspruchnahme zeigen. Denn gerade um die Krankheit beherrschbar zu machen, ist eine möglichst früh beginnende und adäquate verlaufsmodifizierende Therapie entscheidend. Allerdings nimmt nur jeder zweite GKV-Patient mit dokumentierter Erstdiagnose MS noch im selben Jahr eine verlaufsmodifizierende Therapie in Anspruch und nur rund 30 bis 40 Prozent der Patienten nehmen die empfohlenen Medikamente zur Immuntherapie kontinuierlich ein (vgl. Weißbuch MS, 2016). Dass diese Patienten aufgrund ihrer komplexen Erkrankung eine koordinierte Unterstützung, nicht nur bei der medikamentösen Therapie, benötigen, ist unumstritten.
Die Region Nordrhein hat daher für Versicherte der AOK Rheinland/Hamburg sowie zweier BKK-
en seit Dezember 2017 ein Netzwerk aus über 390 Fachärzten und Psychotherapeuten an 260 Standorten u.a. für Patienten mit MS initiiert. In der sogenannten NPPV (Neurologisch-Psychiatrische und Psychotherapeutische Versorgung) steht jedem Patienten ein Bezugsarzt zur Seite, der die Behandlungsschritte steuert und dafür aus diversifizierten Therapiemodulen auswählt. Regionale Netzwerkmanager informieren die Ärzte über weitere Behandlungsmöglichkeiten wie Gruppentherapien oder Online-Selbsthilfe, die dann im Bedarfsfall niederschwellig bzw. kurzfristig für den Patienten erreichbar sind (vgl. NPPV, 2019). Zudem läuft bereits seit Mai 2006 die „Integrierte Versorgung von Patienten mit MS im Rheinland“(IGV MS) des Berufsverbandes Deutscher Neurologen und der AOK Rheinland/Hamburg bzw. weiterer Kassen und Leistungserbringer in Kooperation mit der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft. Sowohl die medizinische als auch prozessuale Qualitätssicherung, die Verbesserung der sektorenübergreifenden Versorgung und die verstärkte Einbindung des Patienten sollen u.a. durch standardisierte Dokumentationsverfahren, Fallkonferenzen und Patientenschulungen erreicht werden. Mit der Leistungserbringung in der IGV MS in Form von definierten Behandlungspfaden konnten bereits mehr als 1.400 Patienten direkt erreicht werden. Obschon am Evaluationsbericht derzeit noch gearbeitet wird, wurden als erste Hauptergebnisse des Projekts eine nur halb so häufig vorkommende stationäre Behandlung der Patienten im Vergleich zur Regelversorgung sowie ein konstant bleibendes Niveau der Behinderung als auch der gesundheitsbezogenen Lebensqualität nach vier Jahren publiziert (vgl. Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen, 2019).
Zu einer Verbesserung der Versorgung durch interdisziplinäre Teams und koordinierte Behandlungspfade gehört neben einer adäquaten medikamentösen Therapie auch eine gute Versorgung mit Hilfsmitteln und im Bedarfsfall die qualifizierte Pflege. Bei Letzterem spielen Qualifizierungsmaßnahmen wie bspw. die Fachausbildungen „Physiotherapie bei MS“ und die „MS-Schwester“ sowohl in spezialisierten Zentren als auch im ambulanten Versorgungsalltag eine entscheidende Rolle. Mehr Transparenz für den Patienten soll auf Seiten der Anbieterleistungen für alle Versorgungsebenen das Zertifikat „Anerkanntes bzw. Regionales MS-Zentrum“ schaffen. Dafür werden bspw. Qualitätsstandards wie modernste Diagnose-Verfahren, Behandlung nach DGN-Leitlinien, umfangreiche Erfahrung mit MS-Patienten (Mindestpatientenzahl) sowie regelmäßige Fortbildung/Schulungen abgebildet (vgl. dmsg, 2014). So kann mit den beschriebenen und einer Vielzahl weiterer Maßnahmen durch die Leistungserbringer, der Absicherung des patientenindividuellen, medikamentösen Therapiebedarfs sowie mit der Etablierung patientenorientierter Versorgungsstrukturen die komplexe Versorgung der Multiplen Sklerose in Zukunft weiter verbessert werden. <<
Autorin:
Kathrin Pieloth,

INSIGHT Health ([email protected]); Literatur bei den Verfassern

 

Zitationshinweis: Pieloth, K.: „Multiple Sklerose: Mehr Therapieoptionen = bessere Versorgung?“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (01/19), 10-11.; doi: 10.24945/MVF.01.19.1866-0533.2114

Ausgabe 01 / 2019

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Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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