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„Mit jedem Patienten wächst das Datenkontinuum“

04.04.2019 14:00
Anlässlich des Roche-Symposiums „Onkologie der Zukunft. Wie verändern Personalisierte Medizin und Big Data die Versorgung?“ auf dem diesjährigen Hauptstadtkongress, sprach „Monitor Versorgungsforschung“ mit Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, und PD Dr. Claus Lattrich, Head of Personalized Healthcare der Roche Pharma AG, Grenzach-Wyhlen. Im Fokus des Gesprächs stand die Frage, wie Daten aus der onkologischen Versorgung standardisiert erfasst, vernetzt, analysiert und dann genutzt werden können, um eine bessere Versorgung zu schaffen. Sowohl Bruns als auch Lattrich waren sich hierbei einig: Die Vernetzung digitaler Patientendaten geht mit einem hohen Benefit für Forschung und Versorgung einher, kann aber nur gelingen, wenn alle Beteiligten im System aufeinanderzugehen.

http://doi.org/10.24945/MVF.04.19.1866-0533.2160

>> Herr Dr. Bruns, woran liegt es denn, dass die inzwischen vorhandene wissenschaftliche Evidenz in der Onkologie in der Versorgung verspätet ankommt?
Bruns: Die komplette gesundheitliche Versorgung – nicht nur in der Onkologie – liegt in den Händen der Selbstverwaltung und ist geprägt durch unterschiedliche Abrechnungssysteme in der stationären und ambulanten Versorgung. Jeder dieser in sich abgeschotteten Bereiche hat sein eigenes inneres Regelwerk.

Wo bleibt die sektorenübergreifende Versorgung?
Bruns: Die existiert bislang nicht regelhaft. Der Nationale Krebsplan und auch die Nationale Dekade gegen Krebs können nur so etwas wie ein Bypass sein. Diese Ansätze können eine Zeitlang parallel funktionieren und peux a peux versuchen, in die versorgenden Systeme einzugreifen und sie zueinander zu führen.

Das funktioniert?
Bruns: Ansätze sind erkennbar: Zum Beispiel durch die Pflicht zur Etablierung der klinischen Krebsregister in allen Bundesländern. Auch bei der Schaffung einer nachhaltigeren Finanzierungsgrundlage der ambulanten Krebsberatung tut sich etwas. Wichtig wäre aus meiner Sicht, anstatt eine neue Forschungs-Dekade gegen Krebs auszurufen, endlich dafür zu sorgen, dass die Translation von der Forschung in die Versorgung im Sozialrecht abgebildet wird, um die Lücke zwischen vorhandener Evidenz und tatsächlicher Versorgung zu schließen.

Wobei ein probater Weg eine Zentrenbildung wäre.
Bruns: Nach heutiger Rechtslage kommen Innovationen immer gleich in die breite Versorgung oder aber gar nicht. Bei neuen Verfahren ist zu überlegen, ob es nicht besser wäre, wenn sie anfänglich nicht gleich von allen Leistungserbringern angewendet werden können, sondern nur von denen, die die entsprechenden Kompetenzen mitbringen und die vor allem dazu bereit sind, parallel zu der von ihnen geleisteten hochqualitativen Versorgung Daten zu erheben. Bei Innovationen, die in der Onkologie meist teuer sind, wäre es darum höchst sinnvoll, eine wissensgenerierende Versorgung zu etablieren, die bereits 2017 durch die parteienübergreifende AG Zukunft Onkologie beschrieben wurde und aktuell von uns und der DGHO gefordert wird. Denn nur aus Daten lernt man.

Studien und Realversorgung sind jedoch höchst unterschiedlich.
Bruns: Die grundlegende Idee jedweder klinischen Studie ist es immer, Daten zu generieren. Es ist eine Idealvorstellung, dass sich auf einmal die gesamte Versorgungslandschaft bei der Einführung von Innovationen der Datenerhebung mit Studiencharakter widmet.  Das wird nicht so einfach funktionieren. Als Interimslösung wäre eine selektive Auswahl der Leistungserbringer erforderlich, die die Behandlung in ausgewählten Strukturen durchführen und dokumentieren. Auf Basis von Selektivverträgen könnte man dann relativ schnell den Übergang in eine nächste Stufe entwickeln.

Wenn die Industrie dabei eine Rolle spielen sollte, steht doch gleich immer die Befürchtung im Raum, dass nur Daten erhoben werden sollen, um Forschung und Entwicklung günstiger zu gestalten oder ein neues Geschäftsmodell zu erschaffen. Was wäre ihr Petitum, Herr Dr. Lattrich?
Lattrich: Wenn wir uns vor Augen halten, dass momentan nur ein Bruchteil der vorhandenen Daten für Forschung und Versorgung genutzt wird, sollte es für alle Beteiligten im System klar sein, dass wir hier im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu einer gemeinsamen Lösung kommen und Partikularinteressen zurückstellen müssen. Und natürlich wollen wir – als forschendes Gesundheitsunternehmen und Anbieter innovativer Therapien – diesen Lösungsprozess mitgestalten und unsere Erfahrungen einbringen. Wenn dies am Ende übrigens dazu führt, dass Forschung und Entwicklung nicht nur präziser und schneller, sondern auch kosteneffizienter werden, ist dies sicherlich ein begrüßenswerter Effekt.

Wie könnte ein transparentes Datensystem ausschauen?
Lattrich: Ich denke, im ersten Schritt müssen wir uns in Deutschland erst einmal darauf einigen, welche Daten erhoben werden sollten und wie wir eine einheitliche Aufbereitung erreichen, die eine sinnvolle Nutzung der Daten überhaupt erst möglich machen würde. Denn zu unserer Realität gehört auch, dass das Management von Gesundheitsdaten in Deutschland noch immer stark fragmentiert ist.

Wie wird das denn beim Krebsregister gemacht, Herr Bruns?
Bruns: Die Krebsregister erheben definierte Datensätze und sind im Grunde genommen schon aufgefordert, diese der Forschung zur Verfügung zu stellen. Die grundsätzliche Idee der im GSAV festgeschriebenen begleitenden Datenerhebungen nach Zulassung ist prinzipiell genau das, was wissensgenerierende Versorgung meint: nämlich mit der Zulassung gewisse Beobachtungspunkte festzulegen und diese dann in einem ausreichenden Zeithorizont zu beobachten.
Doch soll die begleitende Datenerhebung vom G-BA von den Pharmaunternehmen gefordert werden können.
Bruns: Irrsinnigerweise hat man das in die Verantwortung der Unternehmen gegeben, aber das war schon fast erwartbar.

Doch generell …
Bruns: … macht das schon Sinn, wenn denn die neugewonnenen Daten in die vorhandenen klinischen Krebsregister integriert werden. Dann kann man sie gegebenenfalls mit anderen Daten – natürlich anonymisiert – matchen und eventuell dadurch zu neuen Erkenntnissen kommen. Ohne diesen Match wird man nur wieder singuläre Datenfragmente für einzelne Medikamente mit bestimmten, aber unterschiedliche Beobachtungspunkte haben, wobei Anamnese plus die anderen erhobenen Daten eben fehlen.

Wer sollte ein Matching dieser Daten übernehmen?
Bruns: Das sollte auf alle Fälle nicht Aufgabe des IQWiG oder des G-BA sein, sondern besser die der klinischen Krebsregister. Dafür müsste man allerdings eine selbstverwaltungs-neutrale, übergeordnete Einheit schaffen, die aber noch zu gründen wäre.

Wäre das für Roche ein probates Modell?
Lattrich: Ich glaube, dass hier eine rein nationale Perspektive nicht weit genug reicht. Nehmen wir seltene Erkrankungen, beispielsweise auch Krebserkrankungen mit äußerst seltenen Treibermutationen. Hier stoßen wir mit rein nationalen Datenerhebungen schon aufgrund der niedrigen Patientenzahlen an natürliche Grenzen. Umso wichtiger ist es, dass die Standards, die wir für Deutschland definieren, mit internationalen, bereits bestehenden Standards harmonieren.

Roche würde einen Public Use-File generieren, den man offen für die Forschung nutzen kann?
Lattrich: Wir sammeln in diesem Zusammenhang momentan wertvolle Erfahrungen mit unserem strategischen Partner Flatiron Health. Das Unternehmen hat in den USA in Kooperation mit Kliniken und Forschungseinrichtungen innerhalb kürzester Zeit eine Plattform etabliert, die Daten aus der onkologischen Versorgung standardisiert erfasst, miteinander vernetzt und analysiert. Mittlerweile sprechen wir hier von den Daten von mehr als zwei Millionen Krebspatienten. Und diese Daten können sowohl von Zulassungsbehörden, Kliniken, der Wissenschaft als auch anderen forschenden Unternehmen genutzt werden. Natürlich sind die Rahmenbedingungen in den USA – und sicherlich auch der US-amerikanische Mindset – nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar. Das Beispiel zeigt aber: Lösungen sind längst möglich – und die Industrie kann hier einen wertvollen Beitrag leisten.

Bruns: In der Tat, Flatiron macht es im Grunde vor, indem es für die Wissenschaft eine neue Evidenz auf der Patientenebene schafft. Der Nachteil ist, dass dabei ein Datenmonopol und möglicherweise eine Denksperre im Umgang mit den Daten entstehen. Dabei würde die Zusammenführung digitaler Patientendaten mit einer registergestützen Evidenzakte grundsätzlich einen hohen Benefit für den Patienten und für den Entscheider im Behandlungsprozess erzeugen.

Lattrich: Richtig, das Potential für Versorgung und Forschung ist enorm – umso wichtiger ist es, dass Denksperren überwunden werden und das gemeinsame Ziel in den Mittelpunkt rückt. Natürlich gehören Unternehmen wie Flatiron Health oder auch Foundation Medicine heute zur Roche-Gruppe – vor allem haben sie aber Lösungen entwickelt, die heute schon einen Mehrwert für die Behandlung von Krebspatienten bieten können. Und klar ist sicherlich auch, dass die Anzahl von Anbietern digitaler Lösungen in Zukunft weiter steigen wird.

Verschiedene Anbieter entsprechender Lösungen wären möglich?
Bruns: Man wird im Grunde nur über eine große Anzahl an Leistungsanbietern auf eine ausreichende Datenvielfalt kommen. Es muss eben Regeln geben, an die man sich als Grundvoraussetzung für die Teilnahme im System halten muss. Wichtig dabei ist, dass dies gleiche Regeln für alle sind. Denn im Zweifel haben alle Seiten ihre eigene „hidden agenda“.

Was kann man tun, damit eine Leistungsanbietervielfalt unter Einhaltung gleicher Regeln funktioniert?
Bruns: Die Politik wird das Thema der Leistungsanbietervielfalt sicherlich befördern oder zumindest akzeptieren, weil sie keine Monopole generieren will. Darum braucht es klare Regeln, die ohne Eigeninteressen formuliert und möglichst breit konsentiert werden.

Das wird dann aber auch höchste Zeit: Nach aktuellen Zahlen der DGHO wird alleine schon über die demografische Zunahme der Älteren in unserer Gesellschaft die Prävalenz und Inzidenz der onkologischen Fälle in den kommenden Jahren dramatisch zunehmen. Wie könnte denn die Versorgung der Zukunft aussehen?
Lattrich: Für uns steht außer Frage, dass wir das Potenzial, das in der Digitalisierung und dem allgemeinen wissenschaftlichen Fortschritt im Kampf gegen den Krebs steckt, nur ausschöpfen werden, wenn wir eine forschende Versorgung in der Breite etablieren. Wir müssen das Wissen, das heute Tag für Tag in Unmengen in der Routineversorgung generiert wird, erfassen und sowohl für Therapieentscheidungen als auch die Erforschung und Entwicklung künftiger Therapien nutzbar machen.

Bruns: Richtig, und dafür brauchen wir eben zuallererst Daten. Wenn wir nicht dokumentieren, wie die Versorgung aktuell aussieht, wissen wir auch nicht, wie die Versorgung morgen aussehen soll. Das war der treibende Punkt bei der Einführung der klinischen Krebsregister.

Wie wird sich die Zukunft der Krebsversorgung aus Industriesicht denn weiterhin verändern?
Lattrich: Wir sehen schon heute, dass Therapien immer spezifischer für immer kleinere Patientengruppen entwickelt werden. Dieser Trend zur Personalisierung von Krebstherapien wird weiter voranschreiten. Und das geht mit einem grundsätzlichen Umdenken in der Onkologie einher: Wir verstehen Krebs heute nicht mehr nur als Erkrankung von Organen, sondern vor allem als Krankheit der Gene. Entitätsübergreifende Behandlungsstrategien, die sich unabhängig von den betroffenen Organen spezifisch gegen einzelne Treibermutationen richten, werden in Zukunft weiter zunehmen und stellen die Forschung und Entwicklung, aber im zweiten Schritt auch die Versorgung vor ganz neue Herausforderungen.

Zum Beispiel?
Lattrich: Nehmen wir als Beispiel unsere Prüfsubstanz Entrectinib. Diese richtet sich gezielt gegen einzelne Treibermutationen, die einerseits bei verschiedenen Krebserkrankungen eine Rolle spielen, andererseits aber auch äußerst selten sind. Die Herausforderung ist es, überhaupt die Patienten zu finden, die für eine Behandlung mit Entrectinib in Frage kommen. Für die Forschung bedeutet dies beispielsweise, dass wir hier keine umfangreichen Phase-III-Studienprogramme aufsetzen können – wir würden Jahrzehnte brauchen, die entsprechende Fallzahl an Patienten zu rekrutieren. Gleichzeitig wäre es ethisch auch nicht vertretbar, Patienten, die für diese hochspezifische Therapie in Frage kommen, in einem Vergleichsarm mit einer Chemotherapie oder sogar einem Placebo zu behandeln. Auch das erfordert ein Umdenken: Flexiblere und moderne Studiendesigns müssen genauso anerkannt werden, wie beispielsweise auch die Nutzung von Real World-Data zur Generierung virtueller Vergleichsarme.

Die Zulassungsbehörden haben bei Erkrankungen mit einem hohen „medical need” ja bereits mit „conditional approvals“ reagiert. Wie stehen Sie dem gegenüber, Herr Dr. Bruns?
Bruns: Zurzeit lautet das Commitment, dass die Gesundheitssysteme den Marktzugang ohne große weitere Auflagen erlauben. Die Systeme könnten aber auch verlangen, dass Medikamente mit einer „conditional approval“ entweder nur in Zentren eingesetzt werden und/oder entsprechende Daten erhoben werden. Das Thema der Datentransparenz ist dann mit der Entscheidung der Zulassung nach Phase II gegeben, weil durch den entstandenen Deal die eigentlich in Phase III zu erhebenden Daten quasi gemeinsam erzeugt werden. Will heißen: Wer künftig eine Zulassung nach Art der „conditional approval“ bekommen will, muss bereit sein, die danach erhobenen Daten transparent mit der Wissenschaft zu teilen.

Als Akt der gemeinsamen Verantwortung für eine bessere Versorgung?
Lattrich: Richtig, bei der Generierung der Daten geht es natürlich nicht darum, dass einer die Daten hat und darauf sitzen bleibt. Die Daten müssen – damit der Patient einen Nutzen davon hat – den verschiedenen Teilnehmern des Gesundheitssystems zur Verfügung gestellt werden.

Und auf einmal kommt die Forderung nach völliger Transparenz der Daten auf.
Bruns: Die Industrie sieht sich immer relativ schnell dem Vorwurf ausgesetzt, sie wolle Daten intransparent halten. Das stimmt so jedoch nicht. Solange Daten im Rahmen der Entwicklung erhoben werden, bestehen berechtigte Patentinteressen. An dieser Stelle treffen zwei völlig unterschiedliche Systeme aufeinander. Auf der einen Seite steht die Versorgungs- und Selbstverwaltungs-Seite, die gemeinnützig arbeitet und beitragsfinanziert ist. Auf der anderen hingegen die pharmazeutischen Unternehmen, die dem Shareholdervalue und ihrer Unternehmensstrategie verpflichtet sind, indes aufgrund ihrer schwächeren Position als fordernde und anbietende Industrie in der Regel einlenken muss. Für mich ist die Forderung nach totaler Transparenz der Daten schwachsinnig. Wer private Forschung und Entwicklung möchte, muss sich auch an den Prinzipien der Marktwirtschaft orientieren. Sollte die Industrie wirklich eines Tages all ihre Studiendaten nach Phase I, II oder auch III offenlegen müssen, wird es keine Innovationen mehr geben.

Zurück zur beschleunigten Zulassung: Was, wenn sich die damit verbundene Hoffnung auf den Patientennutzen in der Praxis nicht bestätigt?
Bruns: Wenn diese Hoffnung nicht eintritt, muss ebenso schnell die Reißleine gezogen werden, um Schaden vom Patienten abzuhalten. Dafür braucht man aber eine transparente Datenerfassung aus der Realversorgung, weshalb der Bundestag mit dem GSAV richtigerweise die begleitende Information nach Zulassung eingeführt hat.

Lattrich: Unser Ziel ist es, dass jeder Patient genau die Therapie erhält, die ihn optimal im Kampf gegen seine individuelle Erkrankung unterstützt. Im Umkehrschluss bedeutet das natürlich auch: Wir haben kein Interesse daran, dass unsere Arzneimittel bei Patienten eingesetzt werden, die nicht von ihnen profitieren. Wichtig ist in diesem Kontext aber, dass die Evidenz der Daten aus der Praxis dann auch entsprechend anerkannt wird.

Wenn diese Daten nicht mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit unterlegt werden, wird das IQWiG diese Regis-terdaten wohl nicht anerkennen.
Bruns: Das wäre natürlich fatal. Wenn der Gesetzgeber diese Daten als relevant ansieht, müssen sie auch anerkannt werden, ansonsten wäre der Aufwand absoluter Schwachsinn. Doch soweit wird es wohl nicht kommen, denn wenn der G-BA schon die begleitende Datenerhebung vom Pharmaunternehmen fordert, muss er sich gleichzeitig committen, sie auch als relevant einzustufen.

Bricht damit die „brave new world“ der Real World-Evidenz an?
Bruns: Wir werden sicher nur glücklicher damit werden, wenn sie strukturiert erhoben werden.

Lattrich: Wenn es uns gemeinsam gelingt, die Daten strukturiert zu erfassen und sie damit überhaupt erst nutzbar zu machen, dann werden wir den Fortschritt in der Onkologie sicherlich noch einmal beschleunigen können.

Dann lassen Sie uns doch in die Zukunft blicken: Wo stehen wir in zehn Jahren in der Krebsbehandlung? Hat Bundesgesundheitsminister Spahn recht, dass in nur einer Dekade Krebs besiegt werden kann?
Bruns: Ich glaube es nicht. Das ist ambitioniert, das muss man ihm lassen, aber die Zeitachse stimmt nicht. Es sei denn, man geht das Thema weitaus umfassender als bisher an.

Lattrich: Der medizinische Fortschritt in der Onkologie ist enorm – und moderne Therapiekonzepte haben dazu entscheidend beigetragen. Schauen wir doch einmal 25 Jahre zurück: Damals gab es für die überwiegende Mehrzahl der Patienten im Grunde nur die Chemotherapie, die nach dem Gießkannenprinzip eingesetzt wurde. Heute sind hochspezifische Therapien, die den Tumor zielgerichtet angreifen, bei vielen Krebserkrankungen fest etabliert. Klar ist aber auch, dass wir Krebs nur mit einem ganzheitlichen Ansatz besiegen werden – und dazu zählt dann auch die Frage: Wie können wir verhindern, dass Krebs überhaupt entsteht?

Ein relevanter Anteil der Krebserkrankungen, etwa 30 bis 40 Prozent, ist jedoch lebensstilbedingt.
Bruns: Hier geht es um das Zusammenwirken und die Kumulation von Risiken. Auch das ist ein Datenthema. Wenn wir über Zukunft der Onkologie reden, muss man einfach sagen, dass die Zukunft der  Onkologie immer datengetriebener sein wird.  

Doch alles muss nicht nur dokumentiert, sondern obendrein einer wissenschaftlichen Auswertung zugeführt werden können. Aus jedweder Dokumentation, so auch aus der neuen begleitenden Datenerhebung, muss Wissen generiert werden können, auch um die bestehende Wissenslücke zwischen wissenschaftlicher Evidenz und Versorgungsrealität Stück für Stück abzubauen.
Lattrich: Richtig. Wir müssen die Lücke zwischen dem, was heute theoretisch bereits möglich ist, und der breiten Versorgung schließen – und dafür ist eine standardisierte Erfassung von Daten aus der Routinepraxis einfach essenziell.

Bruns: Deshalb brauchen wir standardisierte Evidenz- und Patientenakten. Und deshalb muss man vorher genau definieren, was man wissen will und welchen Nutzen das damit zu aggregierende Wissen für den Patienten und den Arzt und die Gesellschaft haben wird. Dann wird es auch eine ausreichende Compliance nicht nur der Patienten, sondern auch der Ärzte und des medizinischen Fachpersonals geben, die die Dokumentation durchführen müssen.

Das heißt auch ein Stück weit Kulturwechsel, denn zurzeit wird doch eigentlich im Prinzip nur für die Abrechnung oder im Zweifel für die Sicherungsablage dokumentiert.
Bruns: Stimmt, in vielen Kliniken wird heute eigentlich noch immer mit der Idee dokumentiert, die erfassten Daten irgendwo im Keller ablegen zu können, aber nicht, die Daten dem Gesundheitssystem und der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Dabei wäre letzteres das sinnvollere Vorgehen, weil dann mit jedem behandelten Patienten das Datenkontinuum wächst und nicht mit dem Ende der Behandlung, dem Sektorenwechsel oder dem Tod des Patienten das mit ihm erworbene Wissen verloren geht. Dazu gehören nicht nur Behandlungsdaten, sondern auch Daten aus Biobanken lebender oder auch verstorbener Patienten. Wie der Patient heißt, ist dabei völlig unwichtig, um Datenschützern da gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen. Hier geht es um Tumore mit bestimmten Sequenzen, die man zusammen mit Patientenhistorien Metaanalysen zuführen muss.

Das wäre die lernende bzw. forschende Versorgung.
Bruns: Richtig. Wir machen die Welt der Mediziner damit natürlich unbequemer als bisher. Darum muss man sich gleichzeitig Lösungen und Wege überlegen, wie man die Arbeit der Dokumentation erleichtern kann. Dazu gehört auch eine entsprechende Finanzierung, vielleicht sogar die Ausbildung von Assistenzberufen, welche die Datenerfassung wesentlich effizienter erledigen könnten.

Lattrich: Man muss in diesem Zusammenhang sicherlich auch noch stärker vermitteln, dass der Arzt durch die Datenerhebung einen klaren Vorteil hat. Wenn wir von bereits existierenden Assistenzsystemen sprechen, geht es nie darum, den Arzt zu ersetzen – es geht darum, ihn zu entlasten, damit er mehr Zeit für die Behandlung seiner Patienten oder die Forschung gewinnt.

Doch Assistenzsysteme sind das eine…
Lattrich: … und Entscheidungssysteme das andere. Wenn solche Systeme im Hintergrund mitlaufen, können sie in der Dokumentation Plausibilitäten prüfen und Verbesserungen vorschlagen. Aber noch einmal: Entsprechende Systeme können nie den Arzt und die ärztliche Entscheidung ersetzen, aber sie können dabei helfen, die Behandlung und die Dokumentation im Sinne des Patienten zu verbessern.
Der Arzt wird dann vielleicht sogar gerne dokumentieren, wenn er einen direkten Nutzen daraus ziehen kann.
Bruns: In den letzten Jahren war im Endeffekt der wichtigste analoge Fortschritt, Tumorboards einzuführen, die das Wissen von mehreren Köpfen für eine Entscheidung kumulieren. Dieses Wissen nun um Daten aus der Realversorgung zu erweitern, ist eine logische Folgekonsequenz. Doch leider weiß man zu wenig darüber, wie Unternehmen wie Flatiron oder Foundation Medicine funktionieren.

Lattrich: Die Gemeinsamkeit von Flatiron Health und Foundation
Medicine ist, dass sie digitale Technologien nutzen, um Daten zu vernetzen und zu analysieren und sie somit letztlich überhaupt erst für Forschung und die Patientenversorgung nutzbar machen. Natürlich bringen diese Unternehmen Veränderungen in unser System – und es kommt auch für uns nicht überraschend, dass diesen Veränderungen mitunter mit Skepsis begegnet wird. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Services und Lösungen, die Flatiron Health und Foundation Medicine anbieten, schon in wenigen Jahren ein natürlicher Bestandteil der Routineversorgung sein werden, da sie letztlich den Arzt vor allem dabei unterstützen können, die optimale Therapie für seinen Patienten auszuwählen.

Dr. Bruns und Dr. Lattrich, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier, Mitwirkung bei der Fragenvorbereitung: Prof. Dr. Reinhold Roski.

Zitationshinweis:

Bruns, J., Lattrich, C., Stegmaier, P., Roski, R.: „Mit jedem Patienten wächst das Datenkontinuum“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (04/19), S. 28-32; doi: 10.24945/MVF.04.19.1866-0533.2160

Ausgabe 04 / 2019

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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