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Umsatzgewichtung bei der Ermittlung des europäischen Vergleichspreises im Rahmen der Preisverhandlung nach § 130b Abs. 1 SGB V

04.04.2019 10:20
Zur Ermittlung des sogenannten EU-Referenzpreises hat der pharmazeutische Unternehmer „die Höhe des tatsächlichen Abgabepreises in anderen europäischen Ländern (siehe Anlage 2, RV) mitzuteilen (…) soweit das betreffende Arzneimittel dort ausgeboten wird“ (Rahmenvereinbarung nach §130b Abs. 9 SGB, §3 Abs. (2) SGB V). Gemäß Anlage 4 zur RV ist zur „Bestimmung des nach Kaufkraft und nach Umsatz gewichteten tatsächlichen Abgabepreises der tatsächliche länderbezogene Abgabepreis des pU nach Kaufkraft zu korrigieren und mit dem Umsatzanteil dieses Landes an dem Gesamtumsatz der zu berücksichtigenden Länder zu gewichten. Die so gewichteten Preise werden für die Vergleichsländer addiert“ (Rahmenvereinbarung nach §130b SBG V, Anlage 4) und ergeben in Summe den europäischen Referenzpreis. Allerdings wurde durch den Schiedsspruch zur RV vom 21.06.2016 (§6 (3) RV) ausdrücklich auch eine Regelung in die RV aufgenommen, nach der in begründeten Fällen von der Umsatzgewichtung abgewichen und die Umsatzgewichtung stattdessen näherungsweise unter Verwendung der Einwohnerzahl erfolgen kann. Weiter wurde in die RV eine Regelung aufgenommen, nach der die Vertragspartner von der Maßgabe der Anlage 4 Nr. 2 und Nr. 3 der RV abweichen können, sofern beide Vertragspartner zustimmen oder die Besonderheiten der konkreten Erstattungsbetragsvereinbarung oder besondere Probleme der Datenbeschaffung hierzu Anlass geben. Welche Methodik in welchen Fällen geeignet erscheint und welche Limitationen es insbesondere bei der Umsatzgewichtung gibt, soll im Folgenden diskutiert werden.

doi: 10.24945/MVF.06.19.1866-0533.2194

Abstract

Seit der Einführung des Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetzes (AMNOG) sind für alle erstattungsfähigen Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen über die Nutzenbewertung Erstattungsbeträge zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und den pharmazeutischen Unternehmen (pU) im Benehmen mit dem Verband der privaten Krankenversicherung zu vereinbaren. In diesem Zusammenhang dient u.a. die Höhe der vom pharmazeutischen Unternehmer mitzuteilenden tatsächlichen Abgabepreise (umsatzgewichtet) in anderen europäischen Ländern dazu, einen nach den sonstigen obigen Kriterien abgeleiteten Erstattungsbetrag zu ermitteln. Es kann allerdings von der Umsatzgewichtung abgewichen werden und diese stattdessen näherungsweise unter Verwendung der Einwohnerzahl erfolgen. Die vorliegende Veröffentlichung stellt einen aktuellen Stand zur Diskussion der Methodik und Limitationen der Umsatzgewichtung bei der Ermittlung des europäischen Vergleichspreises im Rahmen der Preisverhandlung nach § 130b Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V dar. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Wahl der Gewichtungsmethodik der europäischen Preise im Rahmen der Vertragsverhandlungen kritisch zu diskutieren.

Sales weighting for the determination of the european comparison price within the framework of price negotiation after § 130b 1 Social Book V
Since the introduction of the The German Pharmaceutical Market Reorganization Act (AMNOG), reimbursement amounts for all reimbursable drugs with new active substances have been agreed between the Central Association of Health Insurance Funds, the pharmaceutical companies in consultation with the Association of Private Health Insurance Funds via the benefit assessment for all reimbursable drugs. In this context, the amount of the actual ex factory prices (sales weighted) to be reported by pharmaceutical companies in other European countries serves, among other things, to determine the reimbursement amount derived according to the other above criteria. However, it is possible to deviate from the sales weighting and instead weight the sales approximately using the number of inhabitants. The present publication is intended to provide an overview of the current state of the art for the discussion of the methodology and limitations of the sales weighting in the determination of the European comparative price within the framework of price negotiations in accordance with Section 130b (1) of the German Social Code V. The aim of this paper is to critically discuss the weighting methodology of European prices in the context of contract negotiations.

Keywords
sales weighting, population weighting, EU comparison price, Europe, AMNOG, price negotiation

Prof. Dr. rer. medic. David Matusiewicz - Dipl.-Kffr. Stefanie Wiberny - Dipl.-Kfm. Christian Hilmer MHMM

Literatur:

Literatur
IMS Health (2015): IMS „MIDAS“ - Guide to Pack Prices, 2015.
Mahlich J., Sindern J., Suppliet M. (2019) Cross-national drug price comparisons with economic weights in external reference pricing in Germany, Expert Review of Pharmacoeconomics & Outcomes Re-search 19(1):37-43
Mahlich, J., Sindern, J., & Suppliet, M. (2015): Vergleichbarkeit internationaler Arzneimittelpreise. Per-spektiven der Wirtschaftspolitik, 16(2), 2015, 164-172.
Pfeiffer D, v. Stackelberg JM, Kiefer G (2014): GKV-Lesezeichen 2014. Neues bewerten – Bewährtes er-neuern, GKV-Spitzenverband, 2014.
Spindler, G. I. (2017). Marketing und Vertrieb. In Basiswissen Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (pp. 167-176). Springer Gabler, Wiesbaden.
Wasem J, Engelberth V (2017): Erfahrungen mit der Schiedsstelle nach § 130b Abs. 5 SGB V, in: Wille, Eberhard (Ed.): Neuerungen im Krankenhaus- und Arzneimittelbereich zwischen Bedarf und Finanzierung: 21. Bad Orber Gespräche über kontroverse Themen im Gesundheitswesen, Allokation im marktwirtschaftlichen System, No. 73, ISBN 978-3-631-73833-7, Peter Lang International Academic Publishers, Frankfurt a. M.,http://dx.doi.org/10.3726/b12534.

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Zitationshinweis: Matusiewicz, D., Wiberny, S., Hilmer, C.: „Umsatzgewichtung bei der Ermittlung des europäischen Vergleichspreises im Rahmen der Preisverhandlung nach § 130b Abs. 1 SGB V “,
in: „Monitor Versorgungsforschung“ (06/19), S.65-69, doi: 10.24945/MVF.06.19.1866-0533.2194

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Plain-Text:

Umsatzgewichtung bei der Ermittlung des euro-päischen Vergleichspreises im Rahmen der Preisverhandlung nach § 130b Abs. 1 SGB V

Zur Ermittlung des sogenannten EU-Referenzpreises hat der pharmazeutische Unternehmer „die Höhe des tatsächlichen Abgabepreises in anderen europäischen Ländern (siehe Anlage 2, RV) mitzuteilen (…) soweit das betreffende Arzneimittel dort ausgeboten wird“ (Rahmenvereinbarung nach §130b Abs. 9 SGB, §3 Abs. (2) SGB V). Gemäß Anlage 4 zur RV ist zur „Bestimmung des nach Kaufkraft und nach Umsatz gewichteten tatsächlichen Abgabepreises der tatsächliche länderbezogene Abgabepreis des pU nach Kaufkraft zu korrigieren und mit dem Umsatzanteil dieses Landes an dem Gesamtumsatz der zu berücksichtigenden Länder zu gewichten. Die so gewichteten Preise werden für die Vergleichsländer addiert“ (Rahmenvereinbarung nach §130b SBG V, Anlage 4) und ergeben in Summe den europäischen Referenzpreis. Allerdings wurde durch den Schiedsspruch zur RV vom 21.06.2016 (§6 (3) RV) ausdrücklich auch eine Regelung in die RV aufgenommen, nach der in begründeten Fällen von der Umsatzgewichtung abgewichen und die Umsatzgewichtung stattdessen näherungsweise unter Verwendung der Einwohnerzahl erfolgen kann. Weiter wurde in die RV eine Regelung aufgenommen, nach der die Vertragspartner von der Maßgabe der Anlage 4 Nr. 2 und Nr. 3 der RV abweichen können, sofern beide Vertragspartner zustimmen oder die Besonderheiten der konkreten Erstattungsbetragsvereinbarung oder besondere Probleme der Datenbeschaffung hierzu Anlass geben. Welche Methodik in welchen Fällen geeignet erscheint und welche Limitationen es insbesondere bei der Umsatzgewichtung gibt, soll im Folgenden diskutiert werden..

>> Insgesamt führte die Literaturrecherche zu keinen Treffern, die zur Beantwortung der Fragestellung herangezogen werden können. Es wurden lediglich Studien gefunden, die am Rande auf die Umsatz- bzw. Bevölkerungsgewichtung eingehen.
In den beiden Beiträgen von Mahlich, Sindern und Suppliet aus den Jahren 2015 & 2019 wird dargelegt, dass durch die Umsatz- bzw. Bevölkerungsgewichtung die Preise mit unterschiedlicher Intensität in die deutsche Preisbildung eingehen. In den Studien wurde aufgezeigt, dass die vorgesehene europäische Preisreferenzierung für innovative Arzneimittel in Deutschland durch eine Gewichtung mit dem BIP pro Kopf, ausgedrückt in Kaufkraftstandards (KKS) eine europäische Preisgestaltung möglich macht (Mahlich, Sindern und Suppliet 2015 bzw. 2019). Zudem geht es um die Vergleichbarkeit internationaler Arzneimittelpreise bezüglich internationaler Preisreferenzierung in Deutschland durch das AMNOG wobei letztlich die Systematik der Umsatz-/Bevölkerungsgewichtung nach aktueller Rechtsprechung wiedergegeben wird.
In dem Beitrag von Wasem und Scherenberg wird ebenso kurz auf die Umsatz- (bzw. Bevölkerungsgewichtung) in dem Kontext der Erfahrungen durch nichtsystematische Beobachtungen eingegangen. Die Launch-Sequenz in Europa habe einen nennenswerten Einfluss auf den sich ergebenden europäischen Durchschnittspreis, da sie darüber bestimme, für welche Länder zum Zeitpunkt der Verhandlung der Schiedsstelle bereits Preisinformationen vorliegen. Ebenfalls hat sich hierbei überwiegend gezeigt, dass durch die Bereinigung nach Kaufkraftparitäten der errechnete europäische Durchschnittspreis geringer ist als vor der Bereinigung. Die Autoren kommen zu der Schlussfolgerung, dass sich die Preise eines Arzneimittels zwischen den Ländern mehrheitlich weniger als die Kaufkraftparitäten spreizen (Wasem und Engelberth 2017).


Datenverfügbarkeit im Rahmen der Umsatzgewichtung

Nach dem Wortlaut der Anlage 4 der Rahmenvereinbarung soll die Bestimmung des produkt- und landesspezifischen Umsatzes auf Basis der der „Realität am nächsten kommenden und zugänglichen aktuellsten Marktdaten“ (Rahmenvereinbarung nach §130b SGB V, Anlage 4) erfolgen. Reale unternehmensinterne Umsatzdaten kämen der Realität wohl am Nächsten. Aufgrund ihrer dezentralen Konzernstruktur haben zahlreiche pharmazeutische Unternehmen jedoch weder die tatsächliche noch die rechtliche Möglichkeit, produktbezogene Umsatzzahlen anderer europäischer, rechtlich selbstständiger Konzerngesellschaften zu erhalten. Gesetzliche Auskunftsansprüche und Rechte zur Einsichtnahme in Geschäftsunterlagen hat oftmals nur der direkte Gesellschafter einer Unternehmensgesellschaft. Sind die Einzelunternehmen in den Ländern aber nicht direkt, sondern über weitere Unternehmen, z.B. Holdinggesellschaften, miteinander verflochten, bestehen diese Ansprüche und Rechte im Verhältnis zueinander nicht. Produktbezogene Länderumsatzdaten sind daher im Ergebnis in der Regel weder tatsächlich zugänglich, noch in rechtskonformer Weise zugänglich zu machen.
In diesen Fällen muss daher auf Daten von Drittanbietern, wie bspw. die der IQVIA Commercial GmbH & Co. OHG (kurz: IQVIA) zurückgegriffen werden. Bei Verwendung derartiger „MIDAS“-Daten, die i.d.R. für länderspezifische Analysen herangezogen werden, sind jedoch zahlreiche Aspekte zu berücksichtigen, auf die IQVIA selbst wie folgt hinweist:
Übersetzt aus „MIDAS & National Audit Data Sources“, „Überblick über die im Rahmen von MIDAS verwendeten lokalen Audit-Daten sowie bekannte Unterschiede“, September 2016:
• Die Generierung und Produktion der Audit-Daten erfolgt in einem vollständig lokalen Prozess, der von lokalen Marktbedingungen und Datenverfügbarkeiten abhängt.
• Die Erhebungsmethoden und -ergebnisse variieren von Land zu Land, so dass ein direkter Vergleich in den meisten Fällen schwierig ist.
• IQVIA selbst empfiehlt für Preiserhebungen im Rahmen der Preisverhandlung nach § 130b Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V ein Studiendesign, in dem für den betroffenen Wirkstoff auf
Packungsebene in den einzelnen Ländern nach einer einheitlichen Methodik der tatsächliche Abgabepreis zulasten der Krankenversicherungen durch die lokalen IQVIA-Niederlassung von lokalen Spezialisten erhoben wird. Nur so können beispielsweise indikationsspezifische Erstattungsbesonderheiten näherungsweise abgebildet werden.
Auf diese Aspekte wird im Folgenden näher eingegangen. Vor die Klammer gezogen soll allerdings an dieser Stelle der Hinweis erfolgen, dass die Qualität dieser Drittanbieterdaten an sich nicht in Frage gestellt wird. Es wird jedoch anheimgestellt, zu überlegen, ob sich die Daten im konkreten Fall einer Preisverhandlung, bei der es um die Vergleichbarkeit länderspezifischer Abgabepreise und Umsätze geht, wirklich eignen oder in Bezug auf die Ermittlung eines EU-Referenzpreises eher zu Verzerrungen führen:
• Unterschiedliche länderspezifische Datenerhebung: Die Methodik der Datenerhebung unterscheidet sich in den einzelnen Ländern deutlich voneinander und erfolgt über unterschiedlichste Kanäle. So findet die Erhebung in einigen Ländern direkt beim pharmazeutischen Unternehmer statt, wobei die Abverkäufe eines Produktes als sogenannte „direct sales“ gemessen werden. In anderen Ländern hingegen wird ermittelt, welchen Umsatz die Großhändler bei Belieferung der Apotheken generieren („indirect sales“). Lagerbestände des Großhändlers werden in diesem Fall somit nicht berücksichtigt. Und in wiederum anderen Ländern wird gemessen, welche Arzneimittel tatsächlich beim Apotheker an Patienten ausgegeben werden („sellout/consumption“). Allein diese unterschiedlichen Erhebungsmethoden führen bei gleichen Abverkäufen des pharmazeutischen Unternehmers in unterschiedlichen Ländern zu unterschiedlichen Umsatzdaten.
• Teils unvollständige Darstellung von Vertriebskanälen: Ferner werden in anderen Ländern nicht immer alle Vertriebskanäle erfasst. Die Erhebung von Umsätzen über die Direktbelieferung ans Krankenhaus, die für Produkte, die ausschließlich im Krankenhaus eingesetzt werden besonders relevant ist, wird in einigen Ländern gar nicht berücksichtigt (z.B. Tschechien).
• Teils fehlende Erhebung von Umsätzen in Krankenhäusern: Zudem stehen laut IQVIA in bestimmten Ländern wie z.B. Griechenland, lediglich „Retail-Daten“, d.h. Umsatzdaten aus dem ambulanten Bereich zur Verfügung. Bei einem zu verhandelnden Produkt, das ausschließlich im Krankenhaus eingesetzt wird, sind somit keine Umsatzdaten aus Griechenland verfügbar. Der griechische Preis würde (durch Multiplikation mit einem Umsatz i.H.v. Null) daher komplett aus der Berechnung herausfallen und somit den EU-Referenzpreis verzerren.
• Durchschnittspreise als Basis für die Ermittlung von Umsätzen: Die von IQVIA im Rahmen der „MIDAS“-Daten gelieferten Umsätze basieren auf vereinheitlichten Preis-Annahmen & Standardisierungen (sogen. Standard MIDAS Price Factors) um länderspezifische Besonderheiten „auszugleichen“ und alle Preise auf ein einheitliches Preislevel zu bringen (Hersteller-Abgabepreis). So werden z.B. für alle Länder mit Hilfe sogenannter „conversion factors“ standardisierte, geschätzte Margen (Apothekenmarge, Großhandelsmarge) zugrunde gelegt, um die Abgabepreise zu berechnen – selbst in den Ländern, in denen die Margen öffentlich/gesetzlich geregelt sind (IMS Health, IMS „MIDAS“ – Guide to Pack Prices 2015). Zudem werden die „conversion factors“ selbst dann berücksichtigt, wenn der Arzneimittelvertrieb über eine Direktbelieferung ans Krankenhaus erfolgt und somit keine Groß-handelsmarge anfällt. In Großbritannien entspricht dies immerhin einer pauschalen Reduktion des tatsächlichen Abgabepreises um 12,5%. Auf der anderen Seite werden z.B. Pflichtrabatte gar nicht berücksichtigt.
• Zeitlicher Verzug der Datenverfügbarkeit: Hinzu kommt, dass die Umsatzdaten mit erheblichem Zeitverzug (2-8 Wochen) zur Verfügung stehen.

Darüber hinaus ist in der Rahmenvereinbarung nicht definiert, aus welchem Zeitraum Umsatzdaten für die Gewichtung herangezogen werden sollen. Dem Wortlaut nach sollen die „der Realität am nächsten kommenden und zugänglichen aktuellsten Marktdaten“ (Rahmenvereinbarung nach §130b, Anlage 4) zugrunde gelegt werden. Es kann sich somit z.B. um Daten eines kompletten Kalenderjahres, aber auch um die eines Quartals handeln. Zu berücksichtigen ist allerdings zum Beispiel bei einer kalenderjährlichen Betrachtung, dass in einem Land mit Produkteinführung zum Jahresanfang aufgrund des zeitlichen Vorsprungs deutlich mehr Umsätze erwirtschaftet werden konnten, als in einem Land, in dem das Produkt erst zur Jahresmitte oder gar zum Jahresende gelauncht wurde. Die umsatzbezogene Gewichtung würde in diesem Fall somit deutlich zugunsten des Landes mit frühzeitigem Produktlaunch ausfallen.  Zudem befinden sich die Länder – bedingt durch die zeitlich unterschiedlichen Produkteinführungen – ggf. in verschiedenen Phasen der sogenannten Launchkurve bzw. des Produktlebenszyklus (Einführung – Wachstum – Reife/Sättigung – Degeneration vgl. Spindler 2017). Selbst bei Heranziehung von quartalsweisen Umsatzdaten müsste somit berücksichtigt werden, dass sich einige Länder noch in der „Einführungsphase“ mit eher geringen Umsätzen und andere wiederum in der Wachstums- bzw. Reifephase mit moderaten bzw. hohen Umsätzen befinden. Allein diese zeitliche Komponente führt letztlich zu unterschiedlichen Gewichtungen der tatsächlichen Abgabepreise und zu Verzerrungen des EU-Referenzpreises.
Neben diesen aufgeführten, allgemeinen Aspekten sind in Bezug auf die produktspezifische Situation weitere Punkte zu berücksichtigen, die eine valide Berechnung des geforderten EU-Referenzpreises anhand der Umsatzgewichtung erschweren.


Bewertung der Umsatzgewichtung an einem Beispiel

Neu gelaunchtes Produkt
Eine Verhandlung zum Erstattungsbetrag eines Arzneimittels zwischen pU und GKV-SV findet erstmalig ca. 6 Monate nach seinem erstmaligen Inverkehrbringen statt, so dass nach einem Jahr Marktverfügbarkeit ein Erstattungsbetrag wirksam wird. Da Deutschland – bedingt durch die unterschiedlichen Regularien der Gesundheitssysteme – i.d.R. zu den europäischen Ländern mit den frühesten Markteinführungen nach zentraler Zulassung zählt –, wird das Arzneimittel zum Zeitpunkt der erstmaligen Erstattungsbetragsverhandlung in Deutschland oft erst in wenigen anderen europäischen Ländern ausgeboten. Die Produkt-Einführungen erfolgen dort „nach und nach“ im Laufe der ersten deutschen Verhandlung zum Erstattungsbetrag bzw. zeitlich nachgelagert. Dementsprechend stehen zu diesem Zeitpunkt in der Regel erst wenige europäische Abgabepreise zur Verfügung.  
Folgt man der Intention der Rahmenvereinbarung, so sollen die tatsächlichen Abgabepreise aus den Ländern des EU-Länderkorbes laut Anlage 2 der Rahmenvereinbarung, gewichtet nach Umsatz und bereinigt um Kaufkraftunterschiede in die Ermittlung eines EU-Referenzpreises einfließen. Führt man sich nun jedoch vor Augen, dass Umsatzdaten von Drittanbietern erst mit einem Zeitverzug von bis zu 2 Monaten zur Verfügung stehen, wird deutlich, dass tatsächliche Abgabepreise aus anderen europäischen Ländern, die ein Produkt gerade erst in den Markt eingeführt haben, praktisch aus der Berechnung des EU-Referenzpreises herausfallen. Denn wenn noch keine Umsatzdaten vorliegen, bleibt der Preis – multipliziert mit einem Umsatz i.H.v. Null – unberücksichtigt. Das folgende Beispiel verdeutlicht diese Situation:
Für das vor sechs Monaten in Deutschland gelaunchte Produkt A startet im Mai 2020 die Erstattungsbetragsverhandlung. In folgenden Ländern wird das Produkt während der in Deutschland über die Dauer von sechs Monaten laufenden Erstattungsbetragsverhandlung auf den Markt gebracht:
Zum Zeitpunkt des Starts der Preisverhandlung in 5/2020 stehen somit Abgabepreise aus sechs Ländern zur Verfügung. Umsatzdaten über Drittanbieter existieren allerdings nur für die ersten 5 Länder. Folgende Problematiken werden nun deutlich:
• Dänemark, Finnland, UK und Österreich haben das Produkt zeitgleich gelauncht, so dass man bei ausschließlicher Betrachtung dieser vier Länder die aufsummierten Umsätze für eine Gewichtung verwenden könnte.
• Da der Marktzugang in Italien erst 3 Monate vor der deutschen Verhandlung stattgefunden hat, liegen Umsatzdaten gerade für den 1. Monat vor und werden – entsprechend der Launchkurve – noch relativ niedrig ausfallen. Der Preis in Italien wird somit niedrig gewichtet.
• Da das Produkt in Spanien erst im Mai, d.h. zum Zeitpunkt der 1. Verhandlung in den Markt eingeführt wurde, gibt es ab dann zwar einen Abgabepreis. Allerdings würde Spanien durch die Gewichtung mit einem Umsatz i.H.v. Null aus der Ermittlung des EU-Referenzpreises herausfallen – bedingt durch die Tatsache, dass Umsatzdaten erst mit einem Verzug von 2 bis 8 Wochen zur Verfügung stehen.
• Die Abgabepreise für das Produkt in Irland und den Niederlanden könnten zwar im Rahmen einer der folgenden Verhandlungs-Runden mitgeteilt werden, allerdings werden auch sie durch den zeitlichen Verzug der zur Verfügung stehenden Umsatzdaten keine Relevanz hinsichtlich des zu ermittelnden EU-Referenzpreises entfalten können.

An diesem Beispiel wird nun deutlich, dass in die Ermittlung eines EU-Referenzpreises theoretisch 8 länderspezifische Preise einfließen könnten. Durch den zeitlichen Verzug der Umsatzdatenverfügbarkeit sowie unter Berücksichtigung der durch die Launchkurve bedingten geringen Umsätze kurz nach Einführung des Produktes in den Markt, entfalten jedoch die 4 Länder Italien, Spanien, Irland und Niederlande keine bzw. kaum Relevanz hinsichtlich des EU-Referenzpreises. Und selbst wenn noch Umsätze für diese Länder nachgereicht werden könnten: Aufsummierte Umsätze seit 12/2019 in den 4 o.g. Ländern (Den, Fin, UK, Öst) sind mit Umsätzen aus 1-2 Monaten (z.B. in Spanien) nicht vergleichbar und würden zu einer Untergewichtung der Länder mit späterem Launchdatum führen. Über eine Umsatzgewichtung ist es in diesem Fall somit nicht möglich, die tatsächlichen europäischen Abgabepreise möglichst realitätsnah abzubilden.
(Ultra-) Orphan Drugs: Verzerrung durch Panelerhebung & fehlende Krankenhaus-Umsatzdaten
Die Schwächen der Umsatzgewichtung werden darüber hinaus besonders bei Betrachtung eines sogenannten Orphan Drugs deut-lich. Bei Orphan Drugs, Arzneimitteln zur Behandlung seltener Leiden, ist definitionsgemäß von vergleichsweise kleinen Patientenzahlen auszugehen. Vor dem Hintergrund, dass Drittanbieter zur Erhebung der Umsatzdaten in den EU-15 Ländern mit Panels arbeiten, die hochgerechnet werden, wird schnell deutlich, dass es hierbei zu nicht hinnehmbaren Verzerrungen kommt. Zum einen, da die Marktabdeckung in einigen Panels, wie z.B. dem Retail-Panel in Griechenland, bei nur 20% liegt. Zum anderen, da es sich insbesondere bei Orphan Drugs oftmals um reine Krankenhausprodukte handelt, da es in den meisten anderen europäischen Ländern nicht die in Deutschland vorherrschende „doppelte Facharztschiene“ gibt. Somit erfolgt die Behandlung durch Fachärzte in diesen Ländern ausschließlich im Krankenhaus.
Krankenhausumsätze werden allerdings wie bereits erwähnt z.B. in Griechenland gar nicht erhoben, bzw. bleiben unberücksichtigt, weil die Direktbelieferung ans Krankenhaus in einigen Ländern nicht in die Datenerhebung einfließt (z.B. Tschechien).
Dies führt in Summe zu deutlichen Verzerrungen in Bezug auf die Ermittlung eines EU-Referenzpreise, die sich bei geringen Patientenzahlen noch verstärken.

Etablierte Produkte (seit mehreren Jahren im Markt)
Am ehesten scheint sich die Gewichtung nach länderspezifischen Umsätzen zu eignen, wenn es sich um ein Produkt handelt, dessen Preis zum widerholten Mal verhandelt wird. Denn in diesem Fall ist das Produkt i.d.R. in allen bzw. zumindest einem Großteil der Länder des EU-Referenzkorbes seit längerer Zeit (> 3 Monate) verfügbar, so dass sich ein Umsatzniveau im Land bereits einstellen konnte und zudem der zeitliche Verzug der Umsatzdatenverfügbarkeit nicht mehr zum Wegfall eines Landes (durch Multiplikation des Preises mit einem Umsatz i.H.v. Null) führt.


Gewichtung nach Bevölkerung als Surrogatparameter

Die Problematik der Umsatzgewichtung wurde scheinbar in vielen Preisverhandlungen erkannt, thematisiert und nach einer alternativen Gewichtungsoption gesucht. Jedenfalls geht aus diversen Schiedssprüchen hervor, dass zur entsprechenden Gewichtung die Bevölkerungsstärke eines Landes herangezogen wurde und somit als Surrogat für den länderspezifischen Umsatz geeignet scheint. Zudem ist sie über die öffentlichen Daten von Eurostat (http://ec.europa.eu/eurostat/de) einfach zu erheben.
Dies wurde auch von maßgeblichen Vertretern des GKV-Spitzenverbandes als pragmatische Lösung angesehen, z.B. von Frau Dr. Antje Haas im GKV-Lesezeichen 2014, in dem es heißt: „Zu den tatsächlichen Umsätzen in den anderen europäischen Ländern, die eigentlich nach der 16. AMG-Novelle zur Gewichtung der Einzelpreise zu berücksichtigen wären, haben die Vertragspartner in den Einzelverhandlungen eine pragmatische Lösung gefunden. Es wird ersatzweise auf die Bevölkerungsstärke in den einzelnen Ländern abgestellt. Hierfür bedurfte es nicht einmal einer rahmenvertraglichen Vorschrift.“ (Pfeiffer D, v. Stackelberg JM, Kiefer G 2014).
Diese „pragmatische Lösung“ wurde letztlich durch den Schiedsspruch vom 21.06.2016 in die Rahmenvereinbarung übernommen, in der zuvor keine Regelung zur Umsatzgewichtung enthalten war. Seitdem heißt es in § 6 (3) RV: „in begründeten Fällen kann die Umsatzgewichtung näherungsweise unter Verwendung der Einwohnerzahl erfolgen. Von der Maßgabe der Anlage 4 Nr. 2 und Nr. 3 können die Vertragspartner abweichen, sofern dem beide Vertragspartner zustimmen oder die Besonderheiten der konkreten Erstattungsbetragsvereinbarung oder besondere Probleme der Datenbeschaffung hierzu Anlass geben.“
Eine Abweichung von der Umsatzgewichtung lässt sich durch die oben beschriebenen Aspekte rechtfertigen. Zumal die Bevölkerungsgewichtung mehrere Vorteile mit sich bringt:
• Alle Länder, die zum Zeitpunkt einer Preisverhandlung über tatsächliche Abgabepreise für das entsprechende Produkt verfügen, werden berücksichtigt. Es ist somit nicht möglich, dass ein länderspezifischer Preis entfällt, weil die entsprechenden Umsatzdaten durch den zeitlichen Verzug der Datenverfügbarkeit mit Null bewertet werden. Der Intention der RV – nämlich die tatsächlichen Abgabepreise in anderen europäischen Ländern zu berücksichtigen – kann somit besser entsprochen werden.
• Auch Verzerrungen durch unterschiedliche Launchzeitpunkte in den Ländern und damit einhergehend unterschiedlich hohe Umsatzentwicklungen werden vermieden.
• Die verwendeten Bevölkerungszahlen stammen aus offiziellen Statistiken (Eurostat) und stellen damit eine über alle Länder vergleichbare Datengrundlage dar. Es gibt somit keine Verzerrungen durch unterschiedliche Erhebungsmethoden, hochgerechnete Panels, nicht berücksichtigte Vertriebswege bzw. Sektoren (z.B. Krankenhaus) oder unterschiedlich berechnete Preise (je nach verfügbarer Preisinformation) wie im Fall der länderspezifischen Umsatzerhebung.

Nichtsdestotrotz soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Gewichtung nach Bevölkerung Schwachstellen hat. So stellt die Bevölkerung nicht immer ein geeignetes Surrogat für den Umsatz dar, d.h. das sich nicht immer ein linearer Zusammenhang zwischen Bevölkerungszahl und länderspezifischen Umsätzen herstellen lässt. Je nach Erkrankung kann sich die Prävalenz in den verschiedenen Ländern ggf. unterscheiden, was aber zumindest innerhalb der EU eher der Ausnahmefall sein dürfte.


Diskussion und Fazit

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass keine der beiden Gewichtungsalternativen – Umsatz oder Bevölkerung – uneingeschränkt empfohlen werden kann. In beiden Fällen gibt es Vor- aber auch Nachteile die zu berücksichtigen sind, wobei zusammenfassend die Bevölkerungsgewichtung ein realitätsnäheres Bild zu geben scheint. Die Gewichtung nach Umsatz bringt wie beschrieben ein sehr hohes Verzerrungspotenzial mit sich, umso mehr, wenn – wie im Regelfall – auf Daten von Drittanbietern zu-rückzugreifen ist, die nicht wirkstoffspezifisch mit gleicher Methodik lokal erhoben werden.
Letztendlich kommt es aber entscheidend auf die spezifische Situation (Kontext) an, in der sich das zu verhandelnde Produkt befindet – ob es gerade erst in die Versorgung gebracht wurde oder bereits mehrere Jahre im Markt ist, ob es sich um ein reines Krankenhausprodukt handelt oder eher im ambulanten Markt verordnet wird, ob es sich um ein Orphan Drug handelt oder für eine sehr große Patientenzahl in Frage kommt, ob es direkt ans Kranken haus oder über Großhändler vertrieben wird sowie weitere Aspekte. Dementsprechend sollte im Rahmen der Preisverhandlung die geeignetste Methode ausgewählt werden.


Limitationen und Restriktionen

Zu beachten ist, dass methodische Schwächen einer Gewichtung – sei es die nach Bevölkerung oder die nach Umsatz – nicht dazu führen dürfen, dass die europäischen Abgabepreise bei der Ermittlung eines Erstattungsbetrages komplett unberücksichtigt bleiben. Das würde weder mit dem gesetzlichen Auftrag, noch mit der Rahmenvereinbarung in Einklang stehen. Die Ermittlung eines EU-Referenzpreises ist kein Selbstzweck, sondern muss in einem größeren Kontext gesehen werden. Ein starres Festhalten an einer Methode darf nicht dazu führen, dass die Intention des Gesetzgebers ins Leere läuft. Vielmehr ist die Methode auszuwählen, die im individuellen, produktspezifischen Kontext die bestmögliche, realistische Näherung ermöglicht. Weitere Forschung ist notwendig, um die beiden vorgestellten Methoden auf eine breitere empirische Basis zu stellen. <<

Ausgabe 06 / 2019

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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