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„Kostengünstige Diagnosen zu stark gewichtet“

04.04.2019 14:00
Seit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) 2009 berücksichtigt der Risikostrukturausgleich (RSA) auch die Morbidität als Risikofaktor. Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) soll dafür sorgen, dass Unterschiede in der Versichertenstruktur der Krankenkassen keine ungleichen Wettbewerbschancen verursachen. In einem aktuellen Gutachten kommt Prof. Dr. med. Reinhard Busse zu dem Schluss, dass einige Probleme in der Gestaltung des Morbi-RSA zu Fehlentwicklungen führen.

>> Prof. Dr. med. Reinhard Busse, Professor für Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin, bemängelt, dass der Morbi-RSA kostengünstige aber häufige Diagnosen zu stark gewichtet. Die dokumentierten Fallzahlen dieser Erkrankungen seien in den vergangenen Jahren auffällig angestiegen. Die unmittelbar bevorstehende Reform des Finanzausgleichs der Krankenkassen müsse daher die Auswahl der zuweisungsrelevanten Erkrankungen in den Fokus nehmen. Weitere Kritikpunkte:
1. Zentrale gesetzliche Vorgaben sind im Morbi-RSA nicht umgesetzt. Dazu gehören die enge Abgrenzbarkeit der Krankheiten, der Fokus auf kostenintensive, chronische Erkrankungen oder solche mit schwerwiegendem Verlauf und die Berücksichtigung des vorgegebenen Schwellenwerts (mindestens 150 Prozent der durchschnittlichen Leistungsausgaben je Versicherten).
2. Die Methode der Krankheitsauswahl konterkariert den gesetzlichen „Schwellenwert“. Laut Gutachten erfüllen nur 56 von 80 Krankheiten dieses Kriterium (2015). Die derzeitige Berechnung, welche Krankheiten im Morbi-RSA berücksichtigt werden, („Quadratwurzel der Prävalenz“) bevorzugt „Krankheiten“ mit vergleichsweise hoher Prävalenz beziehungsweise Fallzahl aber niedrigen Kosten pro Versicherten. Das Gutachten belegt: Würde zur Auswahl der natürliche Logarithmus der Prävalenz genutzt, würden eher kostenintensive Krankheiten im Morbi-RSA berücksichtigt. Die Folge der aktuellen Auswahl: Sie umfasst zahlreiche Krankheiten, die eigentlich am „Schwellenwert“ (≥ 150% der durchschnittlichen Ausgaben je Versicherten) scheitern müssten.
3. Krankheitsauswahl mit Fokus auf schwere Erkrankungen würde gesetzliche Vorgaben deutlich besser erfüllen. Das Gutachten kalkuliert ein Morbi-RSA-Szenario mit alternativer Krankheitsauswahl auf Basis des natürlichen Logarithmus anstelle der Quadratwurzel. Das Ergebnis: Von den 80 Krankheiten würden im Ausgleichsjahr 2017 (Datenjahr 2014) 17 Krankheiten durch andere ersetzt. Diese „neuen“ Krankheiten sind zwar seltener und ihre Prävalenz steigt wenig bis gar nicht, sie sind aber größtenteils „schwerwiegend“ und „erreichen fast ausnahmslos den gesetzlichen Schwellenwert“. Zudem wurde analysiert, welche Krankheiten die Schnittmenge beider Berechnungsmethoden bilden. Letztere sind sowohl schwerwiegender und chronisch und verursachen – auch ohne Begleiterkrankungen – Mehrkosten von mindestens 150 Prozent der durchschnittlichen Leistungsausgaben. Sie genügen also mit ihren krankheitsspezifischen Kosten dem gesetzlichen Schwellenwert. Die nur über den Quadratwurzel-Algorithmus identifizierten Krankheiten hingegen sind häufig und chronisch, das heißt primär ambulant kodiert.
4. Mängel bei der gesetzlich geforderten engen Abgrenzbarkeit der Krankheiten. Wie sich die 80 ausgewählten Krankheiten nach Diagnosen in verschiedene Diagnosegruppen (DxGroups; 447 im Jahr 2017) unterteilen und diese wiederum nach Mehrkosten zu „Hierarchisierten Morbiditätsgruppen“ (HMGs; 199 im Jahr 2017) mit unterschiedlich hohen Zuschlägen zusammensetzen, ist ein komplexer Mechanismus, der laut Gutachten zwar theoretisch korrekt ist – in der Praxis jedoch zu Unschärfen führt und die geforderte enge Abgrenzbarkeit laut Gutachten verwässert. Eine Unschärfe birgt die Tatsache, dass einige Krankheiten sich sehr breit auf verschiedene Diagnosegruppen (DxGroups) erstrecken. Im Schnitt entfallen 5,6 DxGroups, im Einzelfall aber bis zu 31 DxGroups, auf eine Krankheit. Eine weitere Unschärfe liegt in „krankheitsübergreifenden“ HMGs: Im Ausgleichsjahr 2015 erstreckten sich 35 der damals 192 HMG auf mehrere Krankheiten – und insgesamt 44 Krankheiten waren von diesen „krankheitsübergreifenden HMGs“ betroffen.
5. Dokumentierte Morbidität hält wissenschaftlichem Vergleich nicht stand. Derzeit werden bestimmte Diagnosen, die primär durch ihre Häufigkeit ausgewählt werden, von Jahr zu Jahr deutlich häufiger kodiert als internationale Vergleichsdaten zur Krankheitslast in Deutschland aussagen: Auf dem Papier sind die Menschen in Deutschland also „kränker“ als wissenschaftlich ermittelte Vergleichsdaten nahelegen. Vor allem leichte Diagnosen steigen deutlich an, also solche mit deutlich größeren Spielräumen beim Kodieren. Das Gutachten zeigt einen deutlichen Anstieg der Diagnosen sowie der Anzahl ausgelöster Morbi-Zuschläge, und zwar um 15 Prozent (Zuschläge) von 2011 bis 2016. Dieser dokumentierte Morbiditätsanstieg in der Bevölkerung spiegelt sich in internationalen Vergleichsdaten zu Deutschland („Global Burden of Disease“-Studie) nicht wider. <<
Autorin:
Olga Gilbers

Ausgabe 02 / 2019

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