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Zur Versorgungslage von Patienten mit spastischer Bewegungsstörung in Deutschland

04.04.2019 10:20
Als spastische Bewegungsstörung (kurz: SB; synonymer Gebrauch: Spastizität, Spastik) bezeichnet man die aus einer Schädigung des zentralen sensomotorischen Systems entstehende vermehrte gesundheitsabhängige Muskelspannung sowie unkontrolliert auftretende Kloni, Spasmen und spastische Dystonien [1]. Häufigste Ursache für eine SB ist der Schlaganfall, aber auch die Multiple Sklerose, das Schädel-Hirn-Trauma, eine Rückenmarksläsion oder die Zerebralparese können eine sogenannte spastische Lähmung verursachen [2]. Es wird davon ausgegangen, dass rund 250.000 Patienten in Deutschland betroffen sind [3]. Je nach Grunderkrankung kann sich die SB zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten im Krankheitsverlauf manifestieren [4, 5]. So entwickeln zwischen 20 und 40% der Patienten innerhalb des ersten Jahres nach dem Schlaganfall eine SB [3, 6-8]. Bei Patienten mit Multipler Sklerose ist etwa die Hälfte der Patienten im Laufe ihrer Erkrankung von einer SB betroffen [9-11]. Nicht selten werden in Folge der SB pflegerische Einschränkungen bzw. Abhängigkeiten bei der Ausführung der Aktivitäten des täglichen Lebens und Schmerzen verursacht, welche mit einer deutlichen Reduktion der Lebensqualität des Patienten einhergehen [12, 13]. Erfolgt eine adäquate Therapie zu spät oder insuffizient, können Komplikationen wie Schmerzen, Kontrakturen, Hautläsionen bis zum Dekubitus sowie erhebliche Beeinträchtigungen der Aktivitäten des täglichen Lebens die Folge sein. Zur Vermeidung empfiehlt es sich daher, das Management bei SB möglichst frühzeitig, bei ersten einschlägigen Symptomen einzuleiten [14].

http://doi: 10.24945/MVF.03.19.1866-0533.2149

Abstract

Hintergrund: Die vorliegende Prozessanalyse von Patienten mit spastischer Bewegungsstörung durch den Allgemeinmediziner, Praktischen Arzt und Internisten beschreibt die medikamentöse und nicht-medikamentöse ambulante Versorgung von Patienten mit behandlungsbedürftiger spastischer Bewegungsstörung (SB) und diskutiert die Ergebnisse vor dem Hintergrund einer leitliniengerechten Behandlung der SB.
Methodik: Von 2.000 kontaktierten, zufällig ausgewählten niedergelassenen Allgemeinmedizinern in Deutschland lag die vollständige Dokumentation von 109 Ärzten vor, die ihrerseits eine Gesamtheit von 2.418 Patienten mit spastischer Bewegungsstörung behandeln. Zur Darstellung der Versorgungsrealität wurde ein nicht-interventionelles, retrospektives Studiendesign gewählt. Der für die Prozessanalyse entwickelte Fragebogen erfragt neben der allgemeinen Patientendemographie und Dokumentation der SB auch nicht-invasive Behandlungsmethoden, medikamentöse Therapien sowie die interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit mit anderen Fachärzten und Therapeuten (Ergo- und Physiotherapeuten) und wurde mittels deskriptiv-statistischer Methoden ausgewertet.
Ergebnisse: Für 73% der Patienten erfolgen jährlich 3-12 Besuche aufgrund der SB beim Allgemeinmediziner. Als häufigste Ursache der SB wurde durch 92,7% der Ärzte ein Schlaganfall genannt. 76,9% der Patienten weisen einen Pflegegrad auf (fast immer zwischen Pflegegrad 2-4), zwei Drittel dieser Patienten besitzen einen aufgrund der SB erhöhten Pflegegrad. 45% der Patienten entwickeln bedingt durch ihre SB eine Depression, die bei 73% aller Patienten durch den Allgemeinmediziner (mit)betreut wird. Alle Allgemeinmediziner gaben an, häufig physiotherapeutische Maßnahmen zur Behandlung der SB zu verordnen. Für mehr als die Hälfte der betroffenen Patienten erfolgen diese einmal wöchentlich. Ein großer Teil der Ärzteschaft betonte, dass aufgrund von ausbleibenden klinischen Erfolgen und unzureichender Kostenübernahme oftmals keine langfristige physiotherapeutische Versorgung sichergestellt werden kann. Knapp die Hälfte der Allgemeinmediziner verordnet regelmäßig antispastisch wirkende Arzneimittel (z.B. orales Baclofen bei 80% aller Patienten). Eine Behandlung der SB mit Botulinum-Neurotoxin Typ A erfolgt für weniger als 10% der Patienten. Stattdessen erhält mehr als die Hälfte der Patienten regelmäßig Schmerzmittel. Die Überweisungsrate zu (überwiegend neurologischen) Fachärzten liegt durchschnittlich bei 62%.  
Konklusion: Die Versorgungsrealität von Patienten mit spastischer Bewegungsstörung nach Schlaganfall in Deutschland entspricht nicht den Empfehlungen in den evidenzbasierten Leitlinien der Fachgesellschaften (DGN und DGNR) und weist Merkmale eine Unter- bzw. Fehlversorgung auf. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behandlung nicht interdisziplinär, sondern lediglich durch Allgemeinmediziner, Praktiker und Internisten erfolgt. Allgemeinärztliche und neurologische Berufsverbände sowie Fachgesellschaften können zukünftig dazu beitragen, die Multiprofessionalität und Interdisziplinarität in der Behandlung der SB zu fördern, den Grad der Versorgung von an fokaler Spastizität betroffenen Patienten mit Botulinum-Neurotoxin Typ A zu erweitern und ein Bewusstsein für eine leitlinienkonforme Behandlung zu schaffen.

On the care situation of patients with spastic movement disorders in Germany
Background: The present process analysis of out-patient healthcare in spastic movement disorder provides the results of a survey on the medical and non-medical treatment of patients with a spastic movement disorder by general practitioners (GPs) and discusses these results in the light of a guideline-oriented and multi- and interdisciplinary treatment of spasticity in Germany.
Methods: From a total of 2,000 randomly selected general practitioners in Germany, complete documentation was provided by 109 physicians covering a total of 2,418 patients with spastic movement disorders. A non-interventional, retrospective study design was chosen to represent real world health care. In addition to general patient demography and the documentation of the spasticity, the questionnaire developed for the survey also asks about non-invasive treatment methods, drug therapy and interdisciplinary collaboration with other medical specialists and therapists and was evaluated using descriptive statistical methods.
Results: For 73% of the patients, 3-12 visits to the GPs are conducted annually due to spasticity treatment. The most frequent etiology was stroke (92.7%). 76.9% of the patients need help with activities of daily living and have a so called “German stage of nursing” (usually between 2-4), and two thirds of these patients reveal an increased need for nursing and therefore an increased “German stage of nursing” due to their spasticity. 45% of the patients develop depressions due to their disease, which in 73% of all cases are (co-)treated by the GP. All GPs stated that they frequently prescribe physiotherapy for spasticity treatment. For more than half of the patients affected, the frequency of physiotherapy is once a week. However, a large part of the GPs has pointed out that due to a lack of clinical success and insufficient reimbursement, it is often not possible to obtain long-term physiotherapeutic care. Almost half of the GPs regularly prescribe antispastic drugs (e.g. oral baclofen in 80% of all cases). Treatment of spasticity with Botulinum neurotoxin type A (BoNT/A) is performed for less than 10% of patients. More than half of the patients receive pain medication on a regular basis. The average referral rate to (predominantly neurological) specialists amounts to 62%.  
Conclusion: More than half of the patients with spasticity receive insufficient management of spasticity. In Germany management of spasticity does not correspond to the guideline-supported regimen and therefore shows characteristics of inadequate or inappropriate care. This applies in particular when the treatment is not interdisciplinary, and only carried out by GPs. In the future, professional associations of GPs, rehab-specialists and neurologists can contribute to encouraging interdisciplinarity in spasticity management, expanding the care to guideline recommended approaches (including indicated use of BoNT/A) and creating an awareness in the GP-community that complies to guidelines.

Keywords
Spasticity, Botulinum neurotoxin A, general medicine, care situation

Christoph Potempa, MA / Helena Thiem, B.Sc / Prof. Dr. Dr. Reinhard Rychlik / Prof. Dr. med. Joerg Wissel, FRCP / Dr. med. Markus Ebke / Prof. Dr. h.c. Herbert Rebscher / Erhard Hackler, RA

doi: 10.24945/MVF.02.19.1866-0533.2092

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Zitationshinweis: Potempa et.al.: „Zur Versorgungslage von Patienten mit spastischer Bewegungsstörung in Deutschland“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (03/19), S. 65-72, doi: 10.24945/MVF.03.19.1866-0533.2149

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Zur Versorgungslage von Patienten mit spastischer Bewegungsstörung in Deutschland

Als spastische Bewegungsstörung (kurz: SB; synonymer Gebrauch: Spastizität, Spastik) bezeichnet man die aus einer Schädigung des zentralen sensomotorischen Systems entstehende vermehrte gesundheitsabhängige Muskelspannung sowie unkontrolliert auftretende Kloni, Spasmen und spastische Dystonien [1]. Häufigste Ursache für eine SB ist der Schlaganfall, aber auch die Multiple Sklerose, das Schädel-Hirn-Trauma, eine Rückenmarksläsion oder die Zerebralparese können eine sogenannte spastische Lähmung verursachen [2]. Es wird davon ausgegangen, dass rund 250.000 Patienten in Deutschland betroffen sind [3]. Je nach Grunderkrankung kann sich die SB zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten im Krankheitsverlauf manifestieren [4, 5]. So entwickeln zwischen 20 und 40% der Patienten innerhalb des ersten Jahres nach dem Schlaganfall eine SB [3, 6-8]. Bei Patienten mit Multipler Sklerose ist etwa die Hälfte der Patienten im Laufe ihrer Erkrankung von einer SB betroffen [9-11]. Nicht selten werden in Folge der SB pflegerische Einschränkungen bzw. Abhängigkeiten bei der Ausführung der Aktivitäten des täglichen Lebens und Schmerzen verursacht, welche mit einer deutlichen Reduktion der Lebensqualität des Patienten einhergehen [12, 13]. Erfolgt eine adäquate Therapie zu spät oder insuffizient, können Komplikationen wie Schmerzen, Kontrakturen, Hautläsionen bis zum Dekubitus sowie erhebliche Beeinträchtigungen der Aktivitäten des täglichen Lebens die Folge sein. Zur Vermeidung empfiehlt es sich daher, das Management bei SB möglichst frühzeitig, bei ersten einschlägigen Symptomen einzuleiten [14].

 

>> Zur Therapie der SB stehen vielfältige Behandlungsoptionen zur Verfügung, welche im besten Falle im Rahmen eines multiprofessionellen und interdisziplinären Versorgungskonzeptes leichtliniengerecht umgesetzt werden sollten. Die entsprechende Diagnostik und die daraus abgeleiteten Therapieempfehlungen liegen heute zumeist weiter in den Händen von Rehabilitationskliniken, niedergelassenen Neurologen aber auch Allgemeinmedizinern. Leitliniengerecht kommen neben der Physiotherapie je nach Art und Ausprägung der SB auch physikalische und redressierende Maßnahmen, wie z.B. Orthesen und Gipsverbände, zum Einsatz. Als medikamentöse Behandlungsansätze stehen orale antispastische Medikation oder Injektionen mit Botulinum-Neurotoxin Typ A (BoNT/A) sowie der Einsatz von intrathekalen Baclofenpumpen zur Verfügung. Plastische oder orthopädische Operationen können bei chronischen Verläufen mit Komplikationen sinnvoll sein [15, 16]. Gemäß deutscher und internationaler Leitlinien [16] und den Erkenntnissen aus evidenzbasierten Reviews [17] wird bei fokaler und multifokaler Ausprägung der SB eine lokale Behandlung in Form von BoNT/A-Injektionen im Abstand von 3 Monaten empfohlen [6, 15, 17-19].
In der tatsächlichen Versorgungsrealität von Betroffenen werden diese evidenzbasierten Behandlungsverfahren wie BoNT/A, ITB und Physio- und Ergotherapie in Deutschland jedoch wenig bzw. nicht regelmäßig und flächendeckend eingesetzt. Die Versorgung weist daher Merkmale einer Fehl- bzw. Unterversorgung auf [5, 15, 16, 20-22]. Die stattdessen zum Einsatz kommende orale medikamentöse Behandlung von Patienten mit SB stellt in der Regel eine Fehlversorgung dar [10, 21-23], da diese oftmals im Zusammenhang mit starken Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen, wie z.B. einer Sedierung der Patienten, steht [15, 16]. Eine Beschränkung auf orale Arzneimittel gilt in verstärktem Maße, wenn die Behandlung nicht leitliniengerecht allein durch Allgemeinmediziner erfolgt. Aus diesen Gründen erscheint eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit entsprechenden neurologischen und rehabilitativ tätigen Fachärzten im Rahmen einer leitliniengerechten Versorgung essenziell.
Eine chronische SB kann bei Komplikationen auch gravierende ökonomische Auswirkungen haben. Neben kontinuierlichen Behandlungs- und Pflegekosten gilt es auch, Einkommensverluste des Patienten und pflegender Angehöriger, die mit Einbußen hinsichtlich der Kranken- und Rentenversicherung einhergehen, zu beachten [3, 22].
Im Folgenden wird die Versorgungsrealität in Bezug auf die Behandlung von Patienten mit SB durch Allgemeinmediziner, Praktiker und Internisten näher beleuchtet. Die dargestellten Ergebnisse einer Auswertung eines Surveys können dabei wertvolle Hinweise auf Versorgungsprobleme bzw. -lücken liefern, die, richtig adressiert, zur künftigen Entwicklung von effektiveren Versorgungskonzepten für Patienten mit SB beitragen können.

Methoden

Es werden die Ergebnisse eines Surveys bei Allgemeinmedizinern, Praktischen Ärzten und Internisten mittels eines zweiseitigen Fragebogens zur Evaluation der Versorgungslage von Patienten mit SB dargestellt. Dieser Fragebogen wurde dezidiert für die Befragung praktizierender Allgemeinmediziner entwickelt. Um die aktuelle Versorgungsrealität in Deutschland möglichst realitätsnah abbilden zu können, fiel die methodische Wahl auf ein nicht-interventionelles, retrospektives Studiendesign. Dies stellt sicher, dass die Therapieentscheidungen im Ermessen der teilnehmenden Ärzte lagen und nicht durch den Survey oder äußere Stimuli beeinflusst werden konnten.
Der Fragebogen setzt sich aus insgesamt 26 Fragen zu allgemeinen Angaben zum Patientenklientel und zur Grunderkrankung, den nicht-invasiven Behandlungsmethoden, der eingesetzten medikamentösen Therapien sowie der Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen zusammen.
Zur Rekrutierung potenzieller Teilnehmer wurde eine postalische Aussendung an 2.000 ad random ausgewählte niedergelassene Allgemeinmediziner in Deutschland durchgeführt. Die Daten wurden in einer Oracle-Datenbank aufbereitet und anschließend mithilfe deskriptiv-statistischer Verfahren ausgewertet.

Ergebnisse

Die Ergebnisdarstellung lässt sich in zwei Teile untergliedern. Erstens in Angaben zur demographischen Struktur und zweitens zum Krankheitsbild des Patientenkollektivs sowie der Versorgungsrealität im Rahmen der allgemeinärztlichen Behandlung. Letztere beinhaltet im Detail neben Angaben zur medikamentösen und nicht-medikamentösen aktuellen Versorgung auch Informationen über die interdisziplinäre Verzahnung der befragten Allgemeinmediziner im Sinne eines sektorenübergreifenden Versorgungskonzeptes. Zunächst sollen die Ergebnisse zu den soziodemographischen und krankheitsspezifischen Angaben vorgestellt werden.

Patientenkollektiv und Dokumentation der spastischen Bewegungsstörung

Insgesamt lagen bei Datenbankschluss vollständig ausgefüllte Fragebögen von 109 Allgemeinmedizinern vor, die in die Auswertung eingeschlossen werden konnten. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 5,5%. Unter Berücksichtigung der Wahrnehmung und Anerkennung der beschriebenen Versorgungsproblematik fällt die Rücklaufquote im Vergleich zu vergleichbaren Befragungen bei Allgemeinmedizinern nicht überzufällig gering aus.
Die 103 befragten (6 machten keine Angabe zur Anzahl) Allgemeinmediziner versorgten zum Zeitpunkt der Datenerhebung insgesamt 2.418 Patienten mit einer SB. Diese Zahl stellt damit gleichsam das zugrunde liegende Patientenkollektiv der vorliegenden Auswertung dar und entspricht durchschnittlich einem Wert von mehr als 24 Patienten pro Allgemeinmediziner. Ein einzelner Arzt berichtete von lediglich einem Patienten mit SB. Das dokumentierte Maximum lag bei 125 von einer SB betroffenen Patienten.
Etwas mehr als 73% dieser Patienten suchen ihren behandelnden Allgemeinmediziner zwischen 3-12 Mal pro Jahr aufgrund der SB auf. Bei knapp 12% der Patienten liegt die Anzahl der Besuche zur Behandlung der SB jährlich lediglich bei 1-3 Besuchen. 13,8% sind mindestens einmal monatlich in allgemeinärztlicher Behandlung.
Zur Beschreibung der Altersstruktur des untersuchten Patientenkollektivs wurden die Allgemeinmediziner darum gebeten, zu dokumentieren, welche Altersgruppe ihrer Erfahrung nach am häufigsten von SB betroffen ist. Die Hälfte der Allgemeinmediziner hat in diesem Zusammenhang die Altersgruppe der Patienten über 65 Jahre hervorgehoben (50%). Nur unwesentlich seltener, von 42% der befragten Allgemeinmediziner, wurde die Altersgruppe der Erwerbstätigen zwischen 30-65 Jahren genannt. Dies ist zur gesundheitsökonomischen Evaluation der Auswirkungen von SB im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Produktivitätsausfällen (indirekte Kosten) eine zentrale Feststellung.
Zu den durchschnittlich 24 behandelten Patienten wurden darüber hinaus insgesamt 390 Patienten mit einer Neudiagnose einer SB dokumentiert. Das entspricht einer jährlichen Rate von durchschnittlich 4-5 neuen Patienten mit behandlungsbedürftiger SB pro Arzt. Vereinzelt lagen bis zu 20 Neudiagnosen für SB pro Arzt vor. Hier zeigt sich deutlich, dass die Versorgung von Patienten mit SB durch Allgemeinmediziner keine Ausnahme darstellt, sondern durchaus flächendeckend zu beobachten ist.
Wie einleitend dargestellt, können die Ursachen für die Entwicklung einer SB vielfältig sein. Die Allgemeinmediziner wurden daher gebeten, anzugeben, welche Ursachen bei den von ihnen behandelten Patienten mit SB zu beobachten waren. Wie aufgrund epidemiologischer Daten zu erwarten [24], wurde der Schlaganfall insgesamt als häufigste Ursache aufgeführt (92,7%). Daneben dokumentierte knapp ein Drittel der befragten Allgemeinmediziner die Multiple Sklerose als ursächlich für die Entwicklung einer SB. Von bis zu 10% aller Ärzte lagen außerdem vereinzelt Nennungen zu Patienten vor, die aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas, einer Rückenmarksläsion oder einer Zerebralparese eine SB hatten. Eine detaillierte Darstellung der Häufigkeitsverteilung der dokumentierten Ursachen findet sich in Abbildung 1 wieder.
Darüber hinaus wurde auch die konkrete Ausprägung der SB erfragt, die den Allgemeinmedizinern zufolge am häufigsten auftritt. Mehr als die Hälfte der Ärzteschaft (53%) dokumentierte als häufigste Form eine halbseitige Spastizität, bei der jeweils ein Arm und Bein der entsprechenden Patienten betroffen sind. Etwas mehr als ein Fünftel der befragten Ärzte berichtete hingegen überwiegend von regionaler SB, welche nur einzelne Gliedmaßen beeinträchtigt. Lediglich 3,7% der Allgemeinmediziner nannten die fokale Spastik, weitere 12,8% die multifokale Spastik als häufigste Ausprägung im eigenen allgemeinmedizinischen Behandlungsalltag. Etwas weniger als 10% der Allgemeinmediziner behandeln überwiegend Patienten mit einer generalisierten Form der Spastik.
Zur Beurteilung der gesellschaftlichen und gesundheitsökonomischen Konsequenzen von SB kann das Vorliegen eines Pflegegrads der entsprechenden Patienten wichtige Hinweise liefern. Insgesamt gaben die Allgemeinmediziner an, dass durchschnittlich 76,9% der Patienten mit SB auch einen Pflegegrad aufweisen. Zusätzlich wurde in diesem Zusammenhang festgehalten, dass knapp zwei Drittel der Patienten aufgrund von Einschränkungen durch die SB einem höheren Pflegegrad zugewiesen worden sind.
Der am häufigsten dokumentierte Pflegegrad für Patienten mit SB ist der Pflegegrad 3 (35%). Auch der 2. (23%) und 4. Pflegegrad (21%) wurden von einem nicht unerheblichen Teil der Allgemeinmediziner als häufigster Pflegegrad von Patienten mit SB dokumentiert. Vergleichsweise selten wurden die Pflegegrade 1 (2,8%) und 5 (7,3%) aufgeführt.
Viele Patienten berichten im Zuge der Entwicklung einer SB auch von psychischen Begleiterscheinungen. Depressionen stellen in diesem Zusammenhang eine häufige Diagnose dar. Der durch die Allgemeinmediziner geschätzte Anteil an Patienten, die bedingt durch ihre SB eine Depression entwickeln, liegt bei durchschnittlich 45% der betroffenen Patienten. Die erhöhte Depressionsinzidenz kann zumindest in Teilen mit der beschrieben Fehl- bzw. Unterversorgung in Verbindung gebracht werden. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die SB nicht nur ein Symptom anderer Grund-erkrankungen darstellt, sondern gleichermaßen in vielen Fällen potenziell weitere gesundheitliche Probleme begünstigen kann. Der Stellenwert der Versorgung von Patienten mit SB sollte sich an diesem Umstand orientieren, anstatt SB als isolierte Symptomatik zu behandeln.

Versorgung durch den Allgemeinmediziner

Die primäre Zielsetzung der vorliegenden Publikation besteht in einer Beschreibung der Regelversorgung der behandlungsbedürftigen SB durch Allgemeinmediziner, Praktiker und Internisten sowie der Beantwortung der Fragestellung, inwieweit diese einer leitliniengerechten, interdisziplinären Behandlung entspricht.
Die nachfolgenden Ergebnisse beleuchten daher die Behandlung dieser Patienten durch Allgemeinmediziner. Neben Angaben zum Arzneimittelverbrauch und der Anzahl an Arztbesuchen zählen dazu auch die Dokumentation der Weiterüberweisungen an Fachärzte (z.B. Neurologen) und Therapeuten (Ergo- und Physiotherapeuten) sowie der weitere Einsatz von Heil- und Hilfsmitteln.
In Anlehnung an die letzte Frage aus dem Abschnitt zum Patientenkollektiv wurde dazu zunächst erfragt, wie die Allgemeinmediziner im Falle einer durch eine SB bedingten Depression vorgehen. Die entstehenden Depressionen werden dabei in 73% aller Fälle durch den Allgemeinmediziner selbst behandelt. Fast die Hälfte der von einer Depression betroffenen Patienten (48%) wird (teilweise zusätzlich) zu einem Facharzt überwiesen.
Der Fokus der nachfolgenden Fragen richtet sich konkret auf die Behandlung der SB durch den Allgemeinmediziner bzw. durch die Weiterüberweisung an andere Fachärzte. Als nicht-invasive Therapieverfahren zur Behandlung der SB gaben alle 109 Allgemeinmediziner an, physiotherapeutische Maßnahmen häufig zu verordnen. Deutlich seltener kamen Orthesen und Redressionsverbände sowie Akupunktur im Rahmen der allgemeinmedizinischen Versorgung zum Einsatz. Lediglich 17,3% der Befragten verordnen demnach Orthesen bzw. Redressionen häufig. Noch geringer fällt dieser Wert für die Akupunktur, als Behandlungsmaßnahme von begleitenden Schmerzen der SB, aus (4,3%).
Für eine leitlinienkonforme Behandlung SB sind regelmäßige ergo- und physiotherapeutische Maßnahmen unabdingbar, weshalb auch erfragt wurde, wie häufig diese Maßnahmen durchgeführt werden.
Mehr als die Hälfte der Allgemeinmediziner gab an, dass die von ihnen behandelten Patienten mit SB durchschnittlich 12 Physiotherapiesitzungen pro Quartal wahrnehmen. Das entspricht weniger als einer Sitzung pro Woche. 38% der Allgemeinmediziner dokumentierten hier die doppelte Anzahl von 24 Sitzungen pro Quartal. Lediglich vier Ärzte (4%) verordnen eine höhere Anzahl an physiotherapeutischen Sitzungen.
Die im Vergleich zu den Leitlinienvorgaben häufig zu geringe Anzahl physiotherapeutischer Maßnahmen wurde von 39% der Ärzte durch ausbleibende klinische Erfolge dieser Maßnahmen begründet. Auch mangelnde oder nur eingeschränkte Kostenübernahmen durch die Krankenkassen wurden von mehr als einem Drittel (36%) der Ärzte als mögliche Ursache dokumentiert. Die weiteren, etwas seltener dokumentierten Gründe für das Ausbleiben ergo- und physio-therapeutischer Maßnahmen, sind versorgungstechnisch ebenfalls relevant. Mehr als ein Fünftel (21%) der Ärzte gab beispielsweise an, dass die betroffenen Patienten Physiotherapie ablehnen. Weitere 10% gaben jeweils an, keine ausreichende Indikation für physiotherapeutische Maßnahmen zu sehen, bzw. dass eine wohnortnahe und damit zumutbare physiotherapeutische Versorgung der Patienten nicht gewährleistet werden kann.
Neben physiotherapeutischen Maßnahmen ist in den entsprechenden Leitlinien der Fachgesellschaften auch eine medikamentöse Behandlung der SB  bei nicht ausreichender Wirkung der Physiotherapie vorgesehen. Daher wurden auch Daten zur medikamentösen Versorgung durch Allgemeinmediziner erhoben. Dabei wurde zunächst die grundsätzliche Verordnung von antispastischen Arzneimitteln erfragt. Knapp die Hälfte der Allgemeinmediziner (49%) verordnet demnach regelmäßig antispastisch wirkende Arzneimittel an Patienten mit SB. Eine detaillierte Aufstellung der genannten oralen antispastischen Arzneimittel findet sich in Abbildung 2.
Mehr als 80% der Allgemeinmediziner setzen demnach orales Baclofen zur Behandlung SB ein. Ebenfalls häufig kommen Gabapentin (65%), Tolperison (38%) und L-DOPA (35%) zum Einsatz. Da lediglich die Hälfte aller Allgemeinmediziner angegeben hat, ihre Patienten mit SB medikamentös zu versorgen, wurde auch die ausbleibende Versorgung mit oralen antispastischen Arzneimitteln hinterfragt. Hauptgrund dafür ist den Ärzten zufolge in knapp 40% aller Fälle eine Ablehnung der Arzneimitteleinnahme durch den Patienten. Auch unzureichende klinische Erfolge durch Verordnung der Arzneimittel (38,5%) und fehlende medizinische Indikationen (21,1%) wurden als Ursachen der medikamentösen Nichtbehandlung aufgeführt.
Neben der Verordnung oraler antispastischer Arzneimittel stellt bei Patienten mit fokaler SB die Behandlung mit BoNT/A-Injektionen eine leitlinienkonforme Behandlungsoption dar. Mithilfe einer visuellen Analogskala gaben weniger als 10% der Allgemeinmediziner an, dass die SB ihrer Patienten mit BoNT/A behandelt wird. 46% der Allgemeinmediziner gaben darüber hinaus sogar an, dass keiner der von ihnen behandelten Patienten diese Behandlungsalternative erhält. Auch die Gründe für die Nichtbehandlung mit BoNT/A wurden erhoben. 43% der Ärzte teilten mit, dass kein Anwender der BoNT/A-Therapie in der räumlichen Nähe verfügbar sei. Darüber hinaus wurde auf unzureichende medizinische Indikationen (19%), eine Ablehnung auf Seiten des Patienten (18%) und unzureichende Kostenübernahmen durch die Krankenkassen (17%) verwiesen. Knapp ein Viertel der Ärzteschaft machte zu dieser Frage sogar keine Angabe, was ebenfalls Rückschlüsse auf die Bedeutung der BoNT/A-Behandlung zulässt.
Die orale Behandlung mit Baclofen ist bei Allgemeinmedizinern die häufigste medizinische Behandlung, hingegen gaben die Allgemeinmediziner durchschnittlich nur für lediglich 2,5% ihrer von einer SB betroffenen Patienten an, dass eine intrathekale Baclofenpumpe zum Einsatz kommt. Diese Behandlungsalternative wird in der allgemeinärztlichen Versorgungsrealität also noch seltener als die Behandlung mit BoNT/A dokumentiert, ist jedoch auch nur bei betroffenen Patienten mit ausgebreiteten SB (z.B. bei Tetraspastik) indiziert.
Stattdessen geben die Allgemeinmediziner an, dass für mehr als die Hälfte der Patienten (54%) die Versorgung bei SB aus der Verabreichung von oralen Schmerzmitteln bestehe. Die relevantesten Schmerzmittel-Gruppen, die zur Behandlung von Schmerzen im Zusammenhang mit SB eingesetzt werden, sind NSAR (70%), Pyrazolone (68%), Co-Analgetika (65%) sowie Opioide (54%).
Eine leitliniengerechte Behandlung von Patienten mit SB sollte einem  multiprofessionellen und interdisziplinären Behandlungsansatz folgen, der neben der allgemeinärztlichen Behandlung auch von Ergo- und Physiotherapeuten und Neurologen sowie bei Bedarf auch durch andere rehabilitativ tätige Facharztgruppen komplementiert werden sollte. Der Anteil an Patienten, die im Rahmen der Behandlung durch die befragten Allgemeinmediziner aufgrund der Spastizität an einen anderen Facharzt überwiesen wird, liegt bei durchschnittlich 62%. Rund ein Viertel der Allgemeinmediziner überweist Patienten mit SB sogar in weniger als 35% aller Fälle. Wenn eine Überweisung zum Facharzt stattfand, so geschah dies in den meisten Fällen halbjährlich (39%) oder jährlich (33%). Lediglich ein Viertel der Allgemeinmediziner überweist die eigenen Patienten mit SB einmal oder mehrmals pro Quartal weiter.
Die Gründe für die Weiterüberweisung an einen Facharzt können dabei vielfältig sein. Für mehr als zwei Drittel (69%) der Allgemeinmediziner stellt die spezialisierte Behandlung der Grunderkrankung den Hauptgrund für die Überweisung dar. 56% überweisen ihre Patienten (zusätzlich) zur spezialisierten Behandlung der SB. Auch der dezidierte Patientenwunsch zur Überweisung (39%) und die Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen durch den Allgemeinmediziner (26%) gehören zu den aufgeführten Überweisungsgründen.
Dabei spielen nicht nur die Überweisungsraten eine Rolle, sondern auch, welche Facharztdisziplinen dabei im Vordergrund stehen. Alle Allgemeinmediziner waren sich einig, dass Neurologen bei SB mit zu Rate gezogen werden sollten. Da das Wissen über die Relevanz der interdisziplinären Behandlungsstrategie und die zentrale Rolle von Neurologen hier bereits vorhanden zu sein scheint, lässt dies weitere Fragen zu den Ursachen der eher geringen Überweisungsraten offen. Neben Überweisungen zu neurologischen Fachärzten erachtet rund ein Viertel der Ärzte auch die Mitbehandlung von Orthopäden sowie Rehabilitationsspezialisten als relevant.

Diskussion

Der Abgleich der tatsächlichen, durch die Allgemeinmediziner dokumentierten Versorgungsrealität von Patienten mit SB mit den Leitlinienempfehlungen [16] liefert deutliche Hinweise auf eine Fehl- bzw. Unterversorgung vieler betroffener Patienten. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behandlung nicht multiprofesionell (ohne Physio- und Ergotherapeuten) und nicht interdisziplinär, sondern ausschließlich durch den Allgemeinmediziner durchgeführt wird. Ursächlich hierfür können Mängel der sektorenübergreifenden Versorgung, eine häufig nicht ausreichende Unterstützung der Patienten sowie ein erschwerter Zugang zu Informationen und/oder Fachärzten sein. Zusätzlich können auch Hürden hinsichtlich der Leistungserstattung auf Seiten der Leistungserbringer angeführt werden. So existieren etwa (mit Ausnahme einer Sonderregelung in Bayern1) keine Abrechnungsziffern (EBM, GOÄ) für die Behandlung mit BoNT/A; und Kostenübernahmen bei Off-Label-Use sind seitens der GKV in den allermeisten Fällen nicht vorgesehen [25].
Darüber hinaus behandeln Allgemeinmediziner in aller Regel wegen einer fehlenden Spezialisierung die SB nicht mit BoNT/A. Vor diesem Hintergrund finden Überweisungen zu Fachärzten (insbesondere Neurologen) nicht häufig genug statt. Dies überrascht insbesondere deshalb, weil die Ärzte durchweg angaben, dass die Neurologie als zentrale Fachrichtung für Überweisungen bei SB angesehen wird. Dies deutet auf eine Diskrepanz zwischen dem Wissen um den Stellenwert einer interdisziplinären Behandlungsstrategie und der eigenen Handlungspraxis hin. Selbst bei vorliegender Überweisung zu einem neurologischen Facharzt muss zunächst die flächendeckende Versorgung mit Anwendern einer BoNT/A- oder intrathekalen Baclofenbehandlung, insbesondere in ländlichen Regionen, erst sichergestellt werden. Verbesserungen der Behandlungsqualität für die Patienten gehen hier Hand in Hand mit dem Ausbau einer effizienten interdisziplinären Versorgungsstruktur.
Die Behandlung SB soll einem multiprofessionellen und interdisziplinären Ansatz folgen, der physiotherapeutische Behandlungen (z.B. Verfahren der passiven Muskelstreckung) sowie, wenn notwendig, auch antispastische Medikation miteinschließt. Zusätzlich sollte ein ganzheitliches Versorgungskonzept auch verbesserte Behandlungsoptionen zur Schmerzreduktion und Optionen zur Erleichterung und Vermeidung der Pflege sowie zur Milderung von Folgeerkrankungen (z.B. Depressionen) bereitstellen. Die in vielen Fällen praktizierte ausschließliche Behandlung mit oralem Baclofen ist zur Erreichung dieser Zielsetzungen als nicht ausreichend einzustufen. Als leitliniengerechte, empfohlene Basistherapie bei fokaler, multifokaler und regionaler SB ist beispielsweise stattdessen eine Kombination aus physiotherapeutischer Behandlung und BoNT/A vorgesehen [15, 16]. Die dargestellten Ergebnisse der durch die Allgemeinmediziner behandelten Patienten mit SB verdeutlichen jedoch, dass die Versorgungsrealität bislang weit von diesen Empfehlungen aus den Leitlinien der Fachgesellschaften entfernt ist. Von der Etablierung einer flächendeckenden und dauerhaften Versorgung mit ausreichenden Kapazitäten einer Physiotherapie in Kombination mit einer neurologischen  und medikamentösen Behandlung in Deutschland kann daher nicht gesprochen werden [21, 25]. Hier darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Allgemeinmediziner als Hauptgrund z.B. für das Ausbleiben einer BoNT/A-Therapie den Mangel an geeigneten Anwendern dieser Therapieoption aufgeführt haben. Daher muss auch im neurologischen Sektor nachgebessert werden, um eine flächendeckende Versorgungsstruktur für die Anwendung von BoNT/A-Injektionen bei SB bereitstellen zu können.
Eine kontrollierte Studie (Evidenzgrad 1a) zur Wirksamkeit der BoNT/A-Behandlung im Vergleich zu oralen antispastischen Arzneimitteln zeigt, dass Patienten, die vom Allgemeinmediziner behandelt werden, funktionellen Beeinträchtigungen deutlich länger und stärker ausgesetzt sind als Patienten, die mit einer lokalen BoNT/A-Behandlung therapiert werden [26]. Dies geht auch aus den Ergebnissen einer nicht-interventionellen Studie in Deutschland hervor [27]. Die vorliegende Auswertung ist demzufolge nicht die erste Arbeit, welche Versorgungsprobleme von Patienten mit SB im Rahmen der allgemeinmedizinischen Behandlungspraxis thematisiert.
Die Ergebnisse verdeutlichen zusätzlich, dass die Versorgung der SB beim Allgemeinmediziner nicht nur kurzfristig, sondern chronisch stattfindet. Da die Versorgung in vielen Fällen ausschließlich durch Allgemeinmediziner erfolgt und nicht lediglich eine Übergangsstation der Patienten auf dem Weg zur fachärztlichen neurologischen und leitliniengerechten Behandlung darstellt, sollte durch diesen auch eine leitliniengemäße Versorgung der Patienten sichergestellt werden können.
Egen-Lappe et al. zeigten in einer Auswertung von Daten der gesetzlichen Krankenversicherung, dass der Anteil der Patienten, die aufgrund einer SB zumindest orale Muskelrelaxantien bekamen, bei lediglich 13% lag. In dieser Auswertung erhielt kein einziger Patient intrathekales Baclofen oder BoNT/A [5]. Nicht ganz so deutlich, aber noch immer weit von den Behandlungsempfehlungen der Leitlinien [15, 16] entfernt, fielen die Ergebnisse aus der aSPEkt-Studie aus. Katzenmeyer [3] berichtet in diesem Zusammenhang, dass nur ein Viertel aller Patienten mit einer antispastischen medikamentösen Therapie bzw. physiotherapeutisch versorgt wird.
Die vorliegende Auswertung knüpft argumentativ an diese Arbeiten an und versucht, die Notwendigkeit einer stärker an den Leitlinien der Fachgesellschaften ausgerichteten Versorgung von Patienten mit SB herauszuarbeiten.
Zwar wird die Physiotherapie von allen befragten Allgemeinmedizinern häufig eingesetzt, jedoch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass diese langfristig nicht von allen Patienten wahrgenommen wird. So nennen die Allgemeinmediziner ausbleibende klinische Erfolge und eingeschränkte Kostenübernahmen durch die Krankenkassen als Hauptursachen für das Ausbleiben physiotherapeutischer Maßnahmen. Neben der korrekten Versorgungpraxis der Allgemeinmediziner ist dementsprechend auch die Compliance der Patienten mit SB äußerst relevant. Lediglich 62% der Patienten werden an einen Facharzt überwiesen. Dies geschieht in den meisten Fällen 1-2 Mal jährlich. Trotz des hohen Stellenwerts, den die Allgemeinmediziner einer neurologischen Mitbehandlung einräumen, sind die Werte von Patienten, die mit BoNT/A oder einer intrathekalen Baclofenpumpe versorgt werden, sehr gering. Gemeinsam mit den zu niedrigen Überweisungsraten und (auch nicht durch den Allgemeinmediziner) bedingten Ausfällen physio-therapeutischer Maßnahmen sind hier deutliche Merkmale einer Unterversorgung zu erkennen. Der verstärkte allgemeinärztliche Einsatz oraler antispastisch wirkender Arzneimittel (der seinerseits oftmals mit Nebenwirkungen verbunden ist [15, 16]) ist in diesem Zusammenhang zumindest teilweise als Fehlversorgung zu werten. In diesem Kontext kann auch die Versorgungsforschungsstudie von Rychlik et al. angeführt werden, die neben höheren Responderraten und einer Steigerung der Lebensqualität auch ein besseres Kosten-Effektivitäts-Verhältnis für Patienten dokumentierte, die bei fokaler und multifokaler SB nach Schlaganfall auch lokal mit BoNT/A-Injektionen behandelt werden [22].
Zur Beurteilung der wirtschaftlichen Auswirkungen einer solchen Fehlversorgung sollen die Ergebnisse der Prozessanalyse in einem nächsten Schritt mit Übergangswahrscheinlichkeiten verknüpft werden, die auch eine wirtschaftliche Evaluation der Versorgungssituation im Zusammenhang mit der allgemeinärztlichen Behandlung von Patienten mit SB ermöglichen soll. Um die Versorgungslage langfristig und nachhaltig verbessern zu können, ist es wichtig, dass sich die (neurologischen und auch allgemeinmedizinischen) Berufsverbände und Fachgesellschaften stärker dem Thema SB zuwenden und darüber hinaus Verbindlichkeiten im Rahmen der Versorgung von SB zwischen beiden Ärztegruppen hergestellt werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit darf nicht nur als zusätzliche Behandlungsoption fungieren, sondern sollte ein verbindlicher, integraler Bestandteil der Patienten mit SB sein.
Auch Aufklärungsarbeit zum Krankheitsverlauf und der Behandlungsempfehlung kann sowohl für die Ärzteschaft als auch die betroffenen Patienten und Angehörigen zu einer verbesserten und effizienteren Versorgungssituation führen.
Die Wirksamkeit der lokalen BoNT/A-Behandlung ist in zahlreichen kontrollierten Studien mit hohem Evidenzgrad nachgewiesen [19, 26, 28, 29] und sollte demzufolge auch in den Versorgungsalltag integriert werden. Dafür ist die Zusammenarbeit von Allgemeinmedizinern und Fachärzten, die BoNT/A anwenden, zwingend erforderlich. Auch die Rahmenbedingungen (z.B. die
außerhalb von Bayern fehlenden Abrechnungsziffern zur Behandlung mit BoNT/A) auf Seiten der Leistungserbringer sollten eine leitliniengerechte Versorgung fördern, anstatt dieser im Weg zu stehen. Zielsetzung ist letztlich nicht nur die effizientere, leitlinienkonforme Versorgung der Patienten, sondern auch die Vermeidung von kostenaufwendigen Rehabilitations- und Pflegefällen. Damit würde im besten Fall eine gesteigerte Lebensqualität auf Seiten der Patienten mit wirtschaftlichen Entlastungen für die Leistungserstatter einhergehen.
Limitierend muss dabei das nicht-interventionelle Studiendesign aufgeführt werden. Dieses wurde gewählt, um die Heterogenität der Behandlung und des Managements der SB und die allgemeinärztliche Versorgungspraxis in Deutschland möglichst realitätsnah abzubilden. Die Auswertung von durchschnittlichen Angaben eines Allgemeinmediziners kann nie so detailliert ausfallen wie eine dezidierte Dokumentation für einzelne Patienten. Dies entspräche jedoch auch nicht der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit, die darin bestand, grundlegende Tendenzen und Probleme im Rahmen der allgemeinärztlichen Versorgungspraxis von Patienten mit SB aufzudecken. Solche Tendenzen kann ein Allgemeinmediziner durch die zusammenfassende Beschreibung seines Patientenkollektivs oftmals sogar besser erkennen als durch eine Einzeldokumentation der entsprechenden Patienten.
Die im Vergleich zu den Auswertungen von prozessproduzierten Routinedaten (z.B. GKV-Daten) eher erhöhten Werte zur Anzahl physiotherapeutischer und medikamentös-antispastischer Behandlungen könnten ebenfalls auf einen Selektionsbias zurückzuführen und Ausdruck einer im Befragungskontext besonders „sorgfältigen“ Dokumentation einer als optimal empfundenen Behandlungspraxis sein. Das teilweise immer noch deutliche Zurückbleiben dieser Werte hinter den Leitlinienvorgaben unterstreicht die Dringlichkeit des Themas. <<

Ausgabe 03 / 2019

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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