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„Man muss auch selbst etwas machen wollen“

04.04.2019 14:00
Andreas Storm ist ein erfahrener Politiker, der 15 Jahre lang dem Deutschen Bundestag angehörte, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Chef der saarländischen Staatskanzlei und bis 2014 Gesundheitsminister im Saarland war. Seit 2017 verantwortet er als Nachfolger von Prof. Dr. h.c. Herbert Rebscher in der Funktion des Vorsitzenden des Vorstands die Geschicke der DAK-Gesundheit. Er setzt bei seiner Arbeit den Fokus vor allem auf eine hohe evidenzbasierte Qualität in der medizinischen Versorgung sowie eine Pflegeinfrastrukturgarantie, ergänzt durch eine Steuerfinanzierung und einen Sockel-Spitze-Tausch bei der Pflege. Er sagt im Interview mit „Monitor Versorgungsforschung“: „Als Krankenkasse darf man nicht nur fordern, dass der Gesetzgeber aktiv werden muss, sondern muss auch selbst etwas machen wollen.“

http://doi.org/10.24945/MVF.02.19.1866-0533.2082

>> In einer von der Versicherung R&V durchgeführten und im September 2018 veröffentlichen Untersuchung „Die Ängste der Deutschen 2018“ kam heraus, dass politische Probleme eindeutig „The German Angst“ dominieren: Trump auf Platz 1, Asylsuchende auf Platz 2, ganz abgeschlagen die Pflege auf Rang 9: Rund die Hälfte aller Befragten (52 Prozent) äußerten die Angst davor, im Alter zum Pflegefall zu werden. Herr Storm, unterschätzten da die Deutschen das Thema Pflege angesichts von fast 2,9 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland nicht etwas?
Die Studie spiegelt auf jeden Fall nicht die innenpolitische Wahrnehmung des Themas seit der Bundestagswahl im Herbst 2017 wider. Die spannende Entwicklung der letzten Jahre war doch, dass das Thema Pflege lange ein Thema von Sozialpolitikexperten war und heute ganz oben auf der politischen Tagesordnung steht. Nach meinem Eindruck ist Pflege aktuell das gesundheits- und sozialpolitische Thema Nummer 1. Wenn man zurückdenkt, war das zumindest ein Stück weit der Erfolg eines jungen Pflegeschülers, der es unmittelbar vor der damaligen Bundestagswahl geschafft hatte, sowohl der Kanzlerin als auch dem damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Schulz mit seinen Fragen den Handlungsbedarf bei der Pflege deutlich zu machen.

Und nach Gröhe hat auch Gesundheitsminister Jens Spahn reagiert.
Er machte schon kurze Zeit nach seiner Amtsübernahme im Frühjahr 2018 deutlich, dass auch für ihn neben der Digitalisierung das Thema Pflege das wichtigste gesundheitspolitische Thema darstellt. In den letzten Monaten hat es eine ganze Reihe von politischen Aktivitäten gegeben, welche die Defizite, die wir derzeit im Bereich Pflege haben, zumindest mildern sollen. Der Minister hat außerdem dazu aufgerufen, Vorschläge zu einer Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zu machen. Das ist gut so, weil er damit einen gesellschaftlichen Dialog über dieses wichtige Thema zu initiieren versucht und auch das belegt die Relevanz des Themas.

In der Politik sicher, aber auch in der Bevölkerung?
Ich denke doch. Andere Umfragen als die von Ihnen zitierte sehen das Thema Soziales und Gesundheit ganz weit vorne, zumindest in der gleichen Priorisierung wie das Thema Flüchtlinge und Migration. Nach meinem Eindruck ist mittlerweile das Thema Pflege durchaus auch bei der Bevölkerung als zentrales gesellschaftspolitische Thema angekommen.

Was muss denn getan werden, um dieses Thema zukunftsfähig zu gestalten?
Zuallererst muss alles, was mit Gesundheit und Pflege zu tun hat, zusammengedacht und -geführt werden. Es macht keinen Sinn, immer nur einzelne Punkte reformieren zu wollen. Wir müssen dieses Thema ganzheitlich denken, sonst gehen alle Reformbemühungen an der erlebten Realität der Bürger vorbei. Das bedeutet vor allem, dass die Versorgung der pflegebedürftigen Menschen, speziell im Bereich der Altenpflege, im Mittelpunkt stehen muss. Das ist aber nicht so sehr die Frage, ob man dafür die Kranken- und die Pflegeversicherung zu einer einheitlichen Versicherung zusammenlegen müsste, sondern es ist eher die Frage, wie die Schnittstellen der Sektoren kompatibler werden, damit es zwischen den Systemen weniger Verschiebebahnhöfe gibt.

Von diesen Verschiebebahnhöfen gibt es sicher mehr, als man gemeinhin denkt.
Es gibt sie jedoch auch ein Stück weit aus dem Grund, dass die Struktur unseres Sozialversicherungssystems aus historischen Gründen auf dem Kausalprinzip basiert.

Im Gegensatz zu ...?
… zum ganzheitlichen Ansatz, der die aktuelle Versorgungssituation betrachtet, unabhängig von der jeweiligen Ursache. In unserem derzeitigen Kausalsystem gibt es jedoch Brüche – zum Beispiel im Rehabilitationsbereich, in dem die Themen Arbeitsleben, Gesundheit und möglicherweise auch Erwerbsminderung miteinander verbunden sind. Das Problem ist, dass man diese Brüche nie komplett wird vermeiden können, aber man kann durchaus dafür sorgen, dass es für den betroffenen Menschen leichter gemacht wird, indem die beteiligten Institutionen enger miteinander verzahnt werden. An der Stelle könnte die Digitalisierung besonders deutlich zeigen, was mit ihr und durch sie möglich ist.

Mit Sicherheit ist die Telematik irgendwann ein vereinendes System, aber das wird sicher noch dauern. Hoffentlich nicht noch einmal solange, wie es ihre Kasse gibt, die bereits 1774 als Institut zum Besten notleidender Handlungsdiener gegründet worden war.
Immerhin sind wir damit die älteste Krankenkasse Deutschlands, die sich natürlich stark weiterentwickelt hat aus dem, was damals in Breslau entstanden ist.

Zur Gründungszeit – also noch weit vor Bismarck – wurde festgeschrieben: „für das Beste für notleidende Handelsdiener“. Unser aktueller Paragraf 12 des SGB V sagt nur noch, dass die Versorgung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein soll, was sicher nicht immer das Beste sein wird.
Damals war mit „das Beste“ sicher das gemeint, was §12 auch meint – nämlich eine Versorgung gemäß des medizinischen Standards, was in unserem Gesundheitswesen auch sichergestellt ist.

Ist das wirklich so?
Im Normalfall ist das sichergestellt. Die spannende Frage ist jedoch: Wie wird dieser Normalfall ermittelt?

Und von wem!
Es obliegt einzig und alleine dem Gemeinsamen Bundesausschuss zu entscheiden, welche Leistungen und welcher Standard den Versicherten zugutekommen. Das sollte auch so bleiben.

Und nun kommt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der in einem Änderungsantrag in das geplante Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) flugs einen Paragrafen einbaut, der quasi den G-BA in seiner Kompetenz entmachtet, indem dem BMG eine Eingriffsmöglichkeit in Bezug auf Gewährung von Kassenleistungen eingeräumt wird. Was halten Sie denn davon?
Ich kann nur davor warnen, die bisherige Praxis aufs Spiel zu setzen und die auf Evidenznachweisen basierenden Entscheidungen durch politisch motivierte Entscheidungen zu ersetzen. Das wäre der Weg in die Staatsmedizin. Die gemeinsame Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen ist ein hohes Gut und ein wesentlicher Grund dafür, dass wir in Deutschland im internationalen Vergleich mit den höchsten Versorgungsstandard haben.

Im konkreten Präzedenzfall plant Spahn, Fettabsaugungen für schwerkranke Lipödem-Patientinnen von Krankenkassen bezahlen zu lassen, die – so Spahn in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – darunter leiden würden, „dass die Krankenkassen ihre Therapie nach einem Gerichtsurteil nicht bezahlen“. Hier steht doch auch so etwas wie die Würde des Menschen im Hintergrund, von der zwar in der Sozialhilfe die Rede ist, die allen „Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens“ ermöglichen soll, die „der Würde des Menschen entspricht“, was man im SGB V und speziell im Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 so formuliert nicht findet.
Die Würde des Menschen ergibt sich bei der Sozialhilfe aus einer völlig anderen Fragestellung, nämlich jener der Grundsicherung, die natürlich neben dem Anspruch auf Unterkunft und Verpflegung auch einen Anspruch auf medizinische Grundversorgung beinhaltet. Diese Grundsicherung ist eine elementare Voraussetzung dafür, die Würde des Menschen zu schützen und zu gewährleisten.

Immerhin nach dem Stand der Wissenschaft, jedoch eingeschränkt durch das Wirtschaftlichkeitsgebot.
Auch hier warne ich davor, die Debatte um die Wür-
de des Menschen anhand des
Wirtschaftlichkeitsgebotes zu führen. Wir haben in Deutschland ein sehr leistungsfähiges, soziales Gesundheitswesen, um das man
uns in anderen Industriena-tionen beneidet. Wirtschaftlichkeit bedeutet nun einmal, dass nicht sämtliche denkbaren Versorgungsoptionen bereitgestellt und von einer gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden können. Es wird aber die Versorgung bereitgestellt, die dem anerkannten wissenschaftlichen Stand der Medizin entspricht, auf Grundlage von evidenten Wirksamkeitsnachweisen. Wer
mehr haben will, kann das entweder im Einzelfall selbst dazukaufen oder sich mit einer Zusatzversicherung absichern. Genau das ist unser derzeitiges GKV-System, das alle gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten anbieten.

Vor kurzem wies Professor Augustin von der UKE auf eine hohe regionale Unterschiedlichkeit in der Psoriasis-Versorgung hin, nach der beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern für 6,00 Euro Tagesdosis mit innovativen Medikamenten therapiert wird, in Baden-Württemberg und Bayern jedoch nur für 0,60 Cent. Im Endeffekt werden die an Psoriasis-Erkrankten in Bayern und in Baden-Württemberg also nicht mit innovativen Medikamenten behandelt, die in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt und anderen neuen Bundesländern schon. Ist das mit der Würde des Menschen vereinbar, wenn ein Bayer mit Schuppenflechte im Gesicht herumlaufen muss, wenn er in Mecklenburg-Vorpommern wohnen würde, nicht?
Mit der Würde des Menschen muss man vorsichtig sein, weil sie sich nun einmal im Sozialsystem auf die Grundsicherung bezieht. Das GKV-System bietet weit mehr über die damit intendierte Basisab-sicherung hinaus.
Dennoch ...
... ist das zunächst eine Fragestellung der Festlegung des Leistungskatalogs. In dem angesprochenen Fall könnten diverse Gründe für die ungleiche Versorgung eine Rolle spielen. Das wäre genauer zu untersuchen. Bezogen auf den Gemeinsamen Bundesausschuss ist es sicher so, dass es so manche medizinische Innovation gibt, mit der man vielen Menschen helfen könnte, die aber vielleicht nicht schnell genug in den Leistungskatalog aufgenommen wird. Das rührt aber an der Frage, ob die Mechanismen unseres Gemeinsamen Bundesausschuss schnell genug funktionieren.

Was ja durchaus auch Minister Spahn bewegt.
Da hat er wohl auch recht. Doch dann kommt gleich die Frage der Wirtschaftlichkeit dazu. Wenn man die komplett außen vor lassen würde, würde das bedeuten, dass jeder Leistungserbringer im Gesundheitswesen jeden beliebigen Preis nehmen könnte. Schon aus Selbstschutz muss darum der ökonomische Aspekt nicht nur immer mit eine Rolle spielen, sondern ist meiner Ansicht nach eine zwingende Voraussetzung dafür, dass wir in Deutschland einen hohen Stand der medizinischen Versorgung für die gesamte Bevölkerung bereithalten können und dies auch künftig wollen.

Erweitern wir das Thema Menschengrundsicherungswürde um den Gleichstellungsgrundsatz. Wie kann es sein, dass ein beispielsweise an Psoriasis leidender Mensch in Bayern schlechter versorgt wird als ein in Mecklenburg-Vorpommern lebender?
Da bin ich voll bei Ihnen: Das darf es nicht geben!

Scheinbar ist genau so, wie es Prof. Augustin beschrieben hat.
Dann müssen sich die medizinischen Fachgesellschaften und die KVen darum kümmern.

Apropos Gleichstellung: Zu dem Thema fordert doch die DAK eine solidarische Neuausrichtung der Pflege.
Nicht nur das. Wir fordern eine Pflegereform und eine solidarische Neuausrichtung im Bereich der Altenpflege. Eines der Kernelemente ist die Feststellung, dass die Qualität der pflegerischen Versorgung nicht davon abhängen darf, ob ein Pflegebedürftiger auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern, in Bayern oder in einer Großstadt wie Köln in Nordrhein-Westfalen wohnt. Es muss unserer Ansicht nach Mindeststandards für alle geben, die wir mit einer bundesweit geltenden Pflegeinfrastrukturgarantie fordern. Entsprechend dieser Logik muss auch sichergestellt werden, dass innerhalb der Gesundheitsversorgung die Regelungen so gefasst sind und angewandt werden, dass der Standard und die Qualität der Versorgung eben nicht vom Wohnort abhängig sind.

Was kann eine Krankenkasse dafür tun, außer das zu fordern?
Recht wenig, das ist zuallererst eine politische Frage. Doch können wir – und wir tun das auch – den Gesetzgeber auf bestehende Probleme hinweisen. Das haben wir beispielsweise kürzlich auch mit unserem Pflegereport getan. Darin haben wir unter anderem eine Bevölkerungsbefragung durch das Institut für Demoskopie in Allensbach erstellen lassen und hier sehr großen Wert darauf gelegt, dass die Ergebnisse auf alle 16 Bundesländer regionalisierbar sind.

Um besser feinsteuern zu können.
Wir wollen besser aufzeigen können, wo die Probleme liegen. Dazu muss man aber erst einmal in der Lage sein, zu erkennen, wo es überhaupt regionale Defizite gibt. Auf Basis dessen können wir als Krankenkasse dann hingehen und selbst zeigen, wie eine gute, eine bessere Versorgung aussehen kann. Und im Bereich der Pflege machen wir das auch.

Wie und wo zum Beispiel?
Wir haben für ein Pflegekompetenzzentrum ein Innovationsfondsprojekt aufgelegt, das in den nächsten vier Jahren mit rund 10 Millionen Euro gefördert wird. Dabei wird in Niedersachsen, genauer in Nordhorn in der Grafschaft Bentheim, ein ehemaliges Krankenhaus in ein Pflegekompetenzzentrum umgewidmet, das alle Faktoren bereithalten soll, die man braucht, um eine gelingende Pflege vor Ort ermöglichen zu können. Das beginnt bei Plätzen im Bereich der Kurzzeitpflege, aber auch der Tages- und Nacht- sowie Verhinderungspflege und endet bei ärztlicher Versorgung für Pflegebedürftige.

Also nicht nur fordern?
Als Krankenkasse darf man nicht nur fordern, dass der Gesetzgeber aktiv werden muss, sondern muss auch selbst etwas machen wollen. Darum sind wir bei diesem Projekt Konsortialführer.

Werden mit derartigen Projekten nicht auch Standards neu definiert?
Das tun solche Projekte, werden sie denn am Ende positiv evaluiert, durchaus. Doch das ist auch gut so, denn viele Standards sind oft noch gar nicht definiert.

Nun geht die DAK bei der Pflege noch ein Stück weiter und fordert neben einer Steuerfinanzierung einen Sockel-Spitze-Tausch. Wie stellen Sie sich vor, dass die Pflege zukünftig und auch zukunftssicher aufgestellt werden kann?
Wir nennen das solidarische Neuausrichtung der Pflegeversicherung mit drei Elementen. Das erste wäre die bereits angesprochene Pflegeinfrastrukturgarantie, das zweite die Begrenzung des Eigenanteils der Versicherten durch den Sockel-Spitze-Tausch und das dritte Element die Einführung eines Bundeszuschusses für die Pflegeversicherung.

Wenn Sie das ausführen würden.
Die Überlegung ist folgende: Als die Pflegeversicherung Mitte der 90er-Jahre eingeführt worden ist, wollte man nicht die gesamten Kosten der Pflege übernehmen, sondern nur einen bestimmten, relativ hoch formulierten Sockelbetrag. Das heißt jedoch, dass alles, was über diesen Sockel hinausgeht, vom Versicherten getragen werden muss, was in der Folge zum irreführenden Begriff geführt hat, die Pflegeversicherung sei eine Teilkaskoversicherung.

Was nicht ganz stimmt.
Genauer betrachtet, handelt es sich um eine Kombination aus Voll- und Teilkaskoversicherung, um ganz genau zu sein, um ein Teilleistungssystem. Nun gibt es aber regional extreme Unterschiede der Kosten, insbesondere bei Pflegeheimen, was zu sehr unterschiedlichen Belastungen für die Pflegebedürftigen führt. Das hat wiederum zur Folge, dass ein immer größer werdender Teil der Pflegebedürftigen, sobald sie in einem Pflegeheim untergebracht sind, in die Fürsorge fallen. Also Hilfe zur Pflege brauchen.

Mittlerweile ist das gut jeder dritte Pflegebedürftige im Pflegeheim.
Dabei war es bei der Einführung der Pflegeversicherung Mitte der 90er-Jahre das erklärte Ziel, mit der damaligen Reform einen größeren Teil der Menschen aus der Sozialhilfeabhängigkeit herauszubringen. Ein Ziel, das mittlerweile deutlich verfehlt wird. Nun kommt hinzu, dass der Anteil der Menschen, die auf ergänzende Fürsorgeleistungen angewiesen sind, in den nächsten Jahren deutlich weiter steigen wird, wenn wir in der bisherigen Systematik verbleiben würden.

Darum der Sockel-Spitze-Tausch, den sicher ein eher technisch denkender Mensch entwickelt hat.
Es war Professor Rothgang, der den Begriff ins Spiel gebracht hat. Er schlug damit vor, dass nicht mehr ein starker Sockel von der Pflegeversicherung finanziert wird und alles andere vom Pflegebedürftigen selbst, sondern in Zukunft der Sockel auf deutlich niedrigerem Niveau vom Pflegebedürftigen geleistet wird, während alle anderen Leistungen von der Pflegeversicherung übernommen werden. Zum einen kann so der Gesetzgeber den für Pflegeversicherte oder Pflegebedürftige zu tragenden Eigenanteil so festlegen, dass sichergestellt ist, dass ein kleinerer Teil als bisher auf ergänzende Fürsorgeleistungen angewiesen ist. Ein weiterer Vorteil ist, dass man sehr viel leichter als bisher ergänzend vorsorgen kann – zum Beispiel mit einer Abdeckung des Eigenanteils mit einer Pflegezusatzversicherung.

Was es ja heute auch schon gibt.
Sicher. Jedoch mit dem Riesenproblem für private Versicherer, dass niemand weiß, wie hoch das Delta überhaupt ist. So gesehen spricht viel für eine Veränderung der Systematik. Denn wir bekämen damit eine Finanzierungslösung aller Pflegeausgaben im Bereich der Altenpflege im Form einer Teilfinanzierung und klaren Kalkulierbarkeit für den Pflegebedürftigen.

Halten Sie diese Idee für durchsetzbar?
Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass wir eine Reform bekommen werden, die zu einer Deckelung dieses Eigenanteils führen wird, weil wir – auch das ist ein Ergebnis unseres Pflegereports – wissen, dass es die Menschen zunehmend umtreibt, dass sie befürchten, ein Fürsorgefall zu werden, wenn sie einmal pflegebedürftig sind. Das treibt auch Menschen um, die ihr ganzes Leben etwas geleistet haben.

Auch das hat wieder mit der Würde des Menschen zu tun.
Aber sicher. Auf alle Fälle deutet es darauf hin, dass schon jetzt viele Menschen privat gepflegt werden, weil sie denken, sie könnten sich ein Pflegeheim gar nicht leisten. Dabei ist der Wunsch, möglichst lange zu Hause zu bleiben und vielleicht auch von den Angehörigen gepflegt und betreut zu werden, zu verstehen, wenn das ganze freiwillig entschieden und geleistet wird. Das sollte aber nicht aus einem Zwang heraus geschehen, weil man denkt, man könne sich eine Versorgung im Pflegeheim nicht leisten.

Was uns wieder zur Eingangsfrage führt.
Dadurch, dass das Thema Pflege in der öffentlichen Diskussion so weit nach vorne gerückt ist, spielen diese und ähnliche Fragen heute eine wesentlich größere Rolle als noch vor zwei oder drei Jahren. Ich bin davon überzeugt, dass wir noch in dieser Legislaturperiode, spätestens im Vorfeld der nächsten Bundestagswahl auf sehr breiter Front eine Diskussion bekommen werden, wie man die Eigenbeteiligung der Pflegebedürftigen an der Finanzierung der Pflegekosten begrenzen kann. Ebenso wird dann die Frage nicht mehr lauten, ob es zu einer neuen Reform kommt, sondern nur noch, wie sie ausgestaltet wird.

Was ist das Ziel Ihrer Krankenkasse?
Wir wollen diese Reform ein Stück weit mit anstoßen und dazu beitragen, dass ein solches sozialpolitisches, aber auch gesellschaftspolitisches Problem frühzeitig gelöst wird. Es darf doch nicht so kommen, dass es irgendwann zum Regelfall wird, dass man bei Pflegebedürftigkeit in die Fürsorge rutscht. Damit verlöre die Pflegeversicherung als Sozialversicherung ihre Legitimation und Akzeptanz.

Lautet darum der Claim der DAK „Ein Leben lang“? Das heißt doch im Endeffekt, dass die Verantwortung einer großen Krankenkasse auch darin zu sehen ist, das Gesundheitsgeschehen zu begleiten und zu formen, quasi von der Geburt bis zum Grab.
Unser Selbstverständnis ist es durchaus, die Menschen im Sinne einer langfristigen Partnerschaft bei allen Fragen von Gesundheit und Pflege zu begleiten. Darum beginnen wir mit einem Schwerpunkt bei der Prävention, und enden nicht mit der Pflege, sondern kümmern uns um Arbeitnehmer und vor allem auch um Kinder und Jugendliche. Damit möchten wir zeigen, dass wir in wichtigen Lebensphasen als Krankenkasse ein Partner sind, auf den sich die Menschen verlassen können.

Darum auch der Kinder- und Jugendreport, den die DAK letztes Jahr ebenfalls ins Leben gerufen hat?
Exakt. Wir können dabei natürlich nicht sämtliche Lebensphasen abdecken, aber die gesundheitspolitische Diskussion mit Erkenntnissen bereichern und voranbringen, die wir in unseren Reports, auch durch Versorgungsforschung gewonnen haben.

Wozu sie auch Ihre Routinedaten nutzen.
Das soll weiter ausgebaut werden. Wir wollen auch in diesem Jahr im Bereich der Versorgungsforschung wieder sehr aktiv sein. So werden wir uns bei der Frühjahrsrunde mit weiteren Projekten beim Innovationsfonds bewerben, wobei wir in zwei Fällen erneut als Konsortialführer antreten wollen, falls wir die Zuschläge bekommen. Wir hatten im vergangenen Jahr auch schon mit der Konsortialführerschaft beim Pflegekompetenzzentrum gezeigt, dass wir durchaus bereit sind, stark in die Verantwortung zu gehen.

Warum?
Weil uns daran liegt, die Versorgung voranzutreiben. Dazu brauchen wir die Versorgungsforschung, um all jene Fragen zu beantworten, die uns dabei helfen, den Standard in der Versorgung und in der Pflege zu verbessern.

Ist das die originäre Aufgabe einer Krankenkasse oder sollte es gar die Aufgabe einer Krankenkasse sein?
Es ist durchaus Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung Daten zu liefern und auszuwerten. Wir forschen aber nicht nur aus dem puren Erkenntnisinteresse heraus, sondern immer mit der Fragestellung, wie man mit den gewonnenen Ergebnissen die Versorgung für unsere Versicherten verbessern kann. Die umsetzungsorientierte Art von Forschung ist, wenn man so will, die Königsdisziplin für eine gesetzliche Krankenkasse, die damit den Menschen, die bei uns versichert sind, die bestmögliche Versorgung ermöglichen möchte.

Es gibt schon lange die Forderung, dass man für solche Vorhaben eine deutsche Forschungsdatenbank bräuchte. Professor Häussler vom IGES-Institut nennt das Public Use File. Können Sie sich vorstellen, Ihre Daten zur Verfügung zu stellen?
Das ist ein hochspannender Ansatz. Wir können uns das durchaus grundsätzlich vorstellen, natürlich anonymisiert und pseudonomisiert. Ich glaube jedoch, dass das vor dem Hintergrund der aktuellen Datenschutzdebatten, die zu Beginn dieses Jahres noch mal eine ganz neue Dynamik bekommen haben, schwierig wird, dafür im politischen Bereich Mehrheiten zu bekommen. Eine umfassende Datenbank in einem Gesundheitswesen mit über 70 Millionen gesetzlich versicherten Menschen hat eine Größenordnung, bei der sichergestellt werden muss, dass diese Daten nicht nur anonymisiert sind, sondern dass sie wirklich nur zu Forschungszwecken genutzt werden. Dennoch: Die Idee ist sicherlich gut, nur stehen vor der Umsetzbarkeit noch sehr hohe Hürden.

Immerhin gibt es eine erste Datenbank mit dem DMP-Datensatz.
Es wäre die Frage, ob man den Datenschatz, der beim DIMDI angesiedelt ist, nicht als Nukleus für eine größere Forschungsdatenbank nehmen könnte.

Andere Kassenchefs sind da zögerlicher und sehen die Kassendaten als Marketingvorteil.
Das kann ja jeder für sich weiter machen. Doch jeder wird auch erkennen müssen, dass das Pooling von Daten einfach Sinn macht. Denn jede Kasse, egal wie groß sie ist, kann mit ihrem eigenen Datenstamm immer nur einen Ausschnitt betrachten. Wir konnten beispielsweise bei unserem Kinder- und Jugendreport das Versorgungsgeschehen für Kinder und Jugendliche analysieren, indem wir 600.000 Kinder und Jugendliche, die bei uns mitversichert sind, und über 400.000 Elternteile, die zu den Jugendlichen gehören, betrachten können. Von den Strukturdaten spricht vieles dafür, dass unsere 600.000 Kinder und Jugendlichen ziemlich repräsentativ sind für die 13 Millionen, die es bundesweit gibt.

Aber: Es ist immer nur die Betrachtung eines relativ begrenzten Ausschnitts!
Mit jedem Datensatz mehr steigt die Repräsentativität und sinkt die Biasanfälligkeit. Und das wäre ganz massiv so, wenn wir auf den gesamten Datenschatz aller Kassen zurückgreifen könnten. Repräsentativität ist doch das große Problem vieler Reports.

Ausgenommen vielleicht die der AOK und des Wido.
Da können Sie die drei großen Ersatzkassen auch dazu zählen, doch alle anderen Kassen haben ihre Probleme anhand der begrenzten Daten signifikante Effekte zeigen zu können.

Was halten Sie von einem weiteren Ansatz, den Prof. Dr. Michael Hallek, Vorsitzender des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie e.V., kürzlich auf dem Fachsymposium „Endpunkte in der Onkologie (MVF 06/18) eingebracht hat, indem er statt Versorgungsforschung „forschende Versorgung“ oder „versorgende Forschung“ forderte. Das hieße, dass alle in der Normalversorgung anfallende Daten, nicht nur ein paar Studiendaten gesammelt würden müssen. Können Sie dem zustimmen?
Der eine Aspekt ist sicher der Aufwandaspekt, ein zweiter, dass eine solche Megadatenbank angesichts der aktuellen Datenschutzdiskussion enorme Probleme haben wird. So etwas mag vielleicht wünschenswert sein, aber umsetzbar ist es im Moment mit Sicherheit nicht.

Gehen wir einmal zehn Jahre in die Zukunft, die Telematikinfrastruktur hat sich durchgesetzt und alle verfügbaren ePAs und eGAs sind gefüllt mit Daten. Jetzt muss der Nutzer nur noch zustimmen, dass die auch in die Forschung anonymisiert genutzt werden könnten.
Ich bin aus einer persönlichen Erfahrung heraus ein bisschen skeptisch. Ich war ja früher Gesundheitsminister im Saarland und hatte 2012 die Idee, ein Demenzregister einzuführen, aus dem dann später einmal ein bundesweites Demenzregister werden sollte. Das würde heute, im Jahr 2019, noch mindestens genauso viel Sinn machen wie damals. Doch war es – obwohl Ärzteschaft als auch Wissenschaftler dafür waren – politisch nicht näherungsweise durchsetzbar.

Heute gibt es zumindest ein Krebsregister, bei dem viele Daten bundesweit zusammengeführt werden müssen.
Ja, das Krebsregister ist auch ein Thema, über dessen Finanzierung lange diskutiert wurde. Letztlich gab es zwar eine Lösung, aber das Beispiel zeigt auch, dass es nicht immer leicht ist, sinnvolle Dinge auch durch- und umzusetzen.

Die Kosten dafür sind ein Witz angesichts der Ausgaben, die wir im Gesundheitswesen haben.
An sich ein kleiner Betrag, richtig, doch einer, den die Länder von sich aus nicht bereit waren, darauf zu legen. Doch auch danach war es mühsam und hat viel länger gedauert als erwartet. Daran sieht man doch, dass die Notwendigkeit, umfassend Daten zu sammeln, zwar auf der Hand liegt, doch die politische Umsetzungsfähigkeit auf einem ganz anderen Blatt steht.

Noch einmal zurück zu Ihren konkreten Vorhaben. Sie haben beschrieben, dass die DAK Gesundheit mit ihrer Versorgungsforschung wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der Versorgung setzen will. Was war der Grund, warum Sie sich jüngst des Themas Diabetes angenommen haben? Zu diesem Thema gibt es doch unzählige Studien.
Die Deutsche Diabeteshilfe geht davon aus, dass es in Deutschland rund zwei Millionen Menschen gibt, die noch nichts von ihrer Diabetes-Erkrankung wissen. Das alleine ist Grund genug, sich mit dem Thema zu befassen. Wollen wir die Zunahme von Diabetes mellitus Typ 2 eindämmen, ist es wichtig bereits den so genannten Prädiabetes möglichst früh zu erkennen. Wir haben deshalb ein neues Präventionskonzept vorgeschlagen. Durch eine besondere Früherkennung von Prädiabetes könnten wir die Ausbreitung der Volkskrankheit langfristig eindämmen. Das Berliner IGES Institut hat im Versorgungsreport 2018 untersucht, inwieweit sich eine auf Menschen mit stark erhöhtem Diabetesrisiko zielende Strategie positiv auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirken würde. Das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. Durch frühzeitiges Eingreifen könnten langfristig nicht nur neue Diabetes-Erkrankungen, sondern auch viele Folgeschäden verhindert werden. So wären alleine 11.000 Schlaganfälle vermeidbar, wenn bereits im Stadium des Prädiabetes gehandelt würde. Insgesamt leiden in Deutschland mehr als sechs Millionen Menschen an einem Diabetes mellitus Typ 2 – Tendenz steigend. Das von uns entwickelte „Versorgungskonzept Prädiabetes“ sieht vor, jährlich 167.000 Versicherte zu erreichen. Wir unterstützen damit die Entwicklung einer Nationalen Diabetes-Strategie, wie sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist.

Haben Sie im Versorgungsreport Diabetes auch die längerfristigen Effekte einer solchen Interventionsstrategie untersucht?
Ja, IGES hat diese Effekte hochgerechnet. Durch eine frühe und konsequente Intervention ließe sich die Zahl der Diabetes mellitus Typ 2-Erkrankungen bis zum Jahr 2065 um 275.000 senken. Die Studie belegt damit, dass eine Nationale Diabetes-Strategie wichtig ist, um die Ausbreitung von Diabetes einzudämmen. Wir lernen daraus, dass Diabetes keine Einbahnstraße sein muss. Bei einer rechtzeitigen Intervention lässt sich Typ 2 sogar heilen. Dazu müssen aber die nötigen Werkzeuge existieren und auch eingesetzt werden. Für den Report hat IGES DAK-Behandlungsdaten und epidemiologische Studien ausgewertet. So sollten bereits Patienten mit auffälligen Blutzuckerwerten und stark erhöhtem Diabetes-Risiko ein Versorgungsangebot erhalten. Dieser frühzeitige Ansatz, beispielsweise mit Programmen zur Lebensstiländerung, kann vielfach eine Diabetes-Erkrankung verhindern und hilft damit, die gefürchteten Folgeerkrankungen zu vermeiden.

Herr Storm, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier, Mitwirkung bei der Fragenvorbereitung: Prof. Dr. Reinhold Roski.

Zitationshinweis:

Storm, A., Stegmaier, P., Roski, R.: „Man muss auch selbst etwas machen wollen“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/19), S. 6-13; doi: 10.24945/MVF.02.19.1866-0533.2082

Ausgabe 02 / 2019

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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