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Personalisierung von Behandlungspfaden – Das Potenzial digitaler Technologien

04.10.2019 10:20
Obwohl die Trends im deutschen Gesundheitswesen auf eine höhere Bedeutung des Gutes Gesundheit für Versicherte und Patienten hinweisen, orientiert sich die Gesundheitsversorgung noch zu wenig an den Bedürfnissen des einzelnen Patienten. Insbesondere wird bei der Wahl von Diagnose- und Therapieverfahren die Patientenperspektive nicht ausreichend berücksichtigt. So stellten die Versorgungsforscher zur Eröffnung des 17. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung (DKVF) in Berlin1 die aktuelle Situation dar. Studien haben auch gezeigt, dass die Erwartungen an Konzepte wie die partizipative Entscheidungsfindung (PEF), welche die Integration von Patienten fördern sollen, sich bislang nur unzureichend haben erfüllen lassen und dass die Ärzteschaft von einer souveränen Übernahme der Grundprinzipien professioneller Gesprächsführung und Kommunikation zur Beteiligung und zur Integration des Patienten zum Teil noch weit entfernt ist.2 Damit können wesentliche Potenziale für die Erhöhung des Outcome, also des Wirkungsniveaus, einer Gesundheitsleistung nicht gehoben werden, und die gesetzlichen Ansprüche des Patientenrechtegesetzes werden damit ebenfalls noch nicht erfüllt.

http://doi.org/10.24945/MVF.05.19.1866-0533.2174

Abstract

Das Potenzial digitaler Technologien für die Verwendung bei Gesundheitsleistungen ist ebenso wie das Nutzenpotenzial einer gemeinsamen Wertschöpfung durch Patienten und Anbieter bei weitem nicht ausgeschöpft. Mit Gesundheitsleistungen 4.0 – der Verzahnung von üblichen Gesundheitsleistungen mit den Digitalisierungstechnologien sowie ihren Kombinationen – lassen sich sowohl der Outcome der einzelnen Leistung erhöhen als auch die regulatorischen Veränderungen und Vorgaben zielgerichteter erfüllen. Notwendig sind dazu eine Erweiterung der gesamten Wertschöpfungskette Behandlungspfad über alle drei Sektoren (stationär, ambulant, zuhause) hinweg sowie die Fähigkeiten und Ressourcen des Anbieters für ein dynamisches Ausbalancieren von Exploitation und Exploration. In diesem Beitrag werden die wesentlichen internen Werttreiber, externen Erfolgsfaktoren sowie die intern und extern ausgerichteten Wertgeneratoren für die Gestaltung von Gesundheitsleistungen 4.0 genauer analysiert.

Personalisation of treatment pathways – the potential of digital technologies
The potential of digital technologies for use in health services and the potential benefit of mutual added value for patients and providers are far from exhausted. With Health Services 4.0 – the interlinking of standard health services with digital technologies and the combination of the two – it is possible to both increase the outcome of the individual service and comply with the regulatory changes and requirements in a more targeted way. This requires an extension of the entire value chain treatment pathway across all three sectors (inpatient, outpatient, home care) and also the skills and resources of the provider for the dynamic balancing of exploitation and exploration. This paper is a closer analysis of the critical internal value drivers, the external factors for success and the internal and externally oriented value generators for the structuring of Health Services 4.0.

Keywords
Personalisation of treatment pathways, Health Services 4.0, Cyber-physical systems, Innovation translation, Customer journey, Ambidexterity

Prof. Dr. rer. pol. Armin Töpfer / Dipl.-Kfm. Dipl.-Psych. Georg Brabänder MA

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Zitationshinweis: Töpfer, A., Brabänder, G.: „Personalisierung von Behandlungspfaden – Das Potenzial digitaler Technologien“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (05/19), S. 54-61, doi: 10.24945/MVF.05.19.1866-0533.2174

Plain-Text:

Personalisierung von Behandlungspfaden – Das Potenzial digitaler Technologien

Obwohl die Trends im deutschen Gesundheitswesen auf eine höhere Bedeutung des Gutes Gesundheit für Versicherte und Patienten hinweisen, orientiert sich die Gesundheitsversorgung noch zu wenig an den Bedürfnissen des einzelnen Patienten. Insbesondere wird bei der Wahl von Diagnose- und Therapieverfahren die Patientenperspektive nicht ausreichend berücksichtigt. So stellten die Versorgungsforscher zur Eröffnung des 17. Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung (DKVF) in Berlin1 die aktuelle Situation dar. Studien haben auch gezeigt, dass die Erwartungen an Konzepte wie die partizipative Entscheidungsfindung (PEF), welche die Integration von Patienten fördern sollen, sich bislang nur unzureichend haben erfüllen lassen und dass die Ärzteschaft von einer souveränen Übernahme der Grundprinzipien professioneller Gesprächsführung und Kommunikation zur Beteiligung und zur Integration des Patienten zum Teil noch weit entfernt ist.2 Damit können wesentliche Potenziale für die Erhöhung des Outcome, also des Wirkungsniveaus, einer Gesundheitsleistung nicht gehoben werden, und die gesetzlichen Ansprüche des Patientenrechtegesetzes werden damit ebenfalls noch nicht erfüllt.

>> Durch die Konvergenz der Informationstechnologie mit der Bio-technologie, der sogenannten „Superkonvergenz“3, und den sich daraus ergebenden Kombinationsmöglichkeiten (medizin-)technischer Innovationen sowie ihrer Anwendungstrends lassen sich in Form von personalisierten Behandlungspfaden die Potenziale einer Integration des Patienten und ggf. seiner Angehörigen ausschöpfen. Aus den Kombinationen geeigneter Komponenten der jeweiligen Technologien können Gesundheitsleistungen 4.0 entwickelt werden, mit denen sich Qualität und Wert von Gesundheitsleistungen steigern lassen (siehe Abb. 1), und der Anbieter kann schneller auf Marktentwicklungen und Wettbewerb reagieren (siehe Abb. 2).
Gesundheitsleistungen 4.0 bezeichnen die Verzahnung von
bisher üblichen Gesundheitsleistungen, die im deutschen Gesund-heitssystem von gesetzlichen und privaten Krankenkassen finanziert und von stationären und ambulanten Leistungserbringern erbracht werden – mit den Technologien der Digitalisierung. In den dadurch entstehenden cyber-physischen Prozessen (engl. cyber physical processes) sind zentrale Komponenten der Digitalisierung der durchgängige Einsatz von Sensoren zum Monitoring von Biomarkern, der Ausbau der Mensch-Computer-Interaktion, die Nutzung mobiler Endgeräte (mHealth), die Big-Data-Technologien und der Einsatz des Maschinenlernens. Dabei kommen Technologien zum Einsatz, mit denen die Lücke zwischen der virtuellen und der realen Welt geschlossen werden kann und die in der Lage sind, mit Menschen und Dingen zu interagieren.4 Cyber-physische Systeme stellen in Verbindung mit dem Cloud Computing (d.h. Ressourcen der Informationstechnik werden über Netzwerke bereitgestellt) eine Querschnittstechnologie für reale Diagnose-, Therapie- und Pflegeleistungen dar, mit denen realitätsbasierte Leistungen virtualisiert, ubiquitär, in Echtzeit erbracht und multimedial gesteuert und kommuniziert werden können.5 Auf diese Weise können bisher analoge Prozesse digitalisiert sowie neue, nur digital angebotene Prozesse – also im engeren Sinne cyber-physikalische Prozesse – und datengesteuerte Entscheidungsunterstützungs-
systeme für die reale Behandlung von Patienten eingesetzt werden, die es – unter Wahrung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen – ermöglichen, nutzensteigernde standardisierte sowie individualisierte Teilleistungen als Gesundheitsleistungen 4.0 miteinander zu verknüpfen. Die intensive Integration des Patienten in den gemeinsamen Leistungserstellungsprozess stellt dazu einen entscheidenden Hebel dar.
Damit entsteht das Potenzial, viele bestehende Wertschöpfungsketten in den drei Sektoren des Gesundheitswesens (stationär, ambulant und zuhause) zu verändern, neue entstehen zu lassen und so Leistungen bereitzustellen, die individuell an die Bedürfnisse und Lebensrealitäten des einzelnen Patienten angepasst werden können. Patienten und Angehörige stärker in die Behandlungsprozesse zu integrieren, bedeutet grundsätzlich eine Individualisierung von Gesundheitsleistungen als generellen konzeptionellen Ansatz einer Ausrichtung auf – nach bestimmten Kriterien vergleichbaren – Individuen zur Überwindung einer unspezifischen Standardisierung. Dies läuft in der Regel auf die Bildung von Standards für einzelne Gruppen hinaus. Eine Personalisierung ist dann weiterführend, die noch stärkere Differenzierung und Detailierung als konkrete Umsetzung auf die einzelne Person bzw. den einzelnen Patienten mit seinem spezifischen Krankheitsbild und seinen persönlichen Lebensumständen fortzuführen.6
Generell wird die Wertschöpfung einer Dienstleistung in der unmittelbaren Interaktion des Anbietersystems mit den Beiträgen des Kunden erbracht (siehe Abb. 1). Deshalb stellen die direkt wertschöpfenden Behandlungsprozesse den wichtigsten Hebel zur Erreichung von Wettbewerbsvorteilen dar. Die Personalisierung der Behandlungsprozesse – im besten Falle in Form von Behandlungspfaden – bildet somit den Dreh- und Angelpunkt für Strategie, Organisation, Umsetzung und Wirksamkeit der Behandlungsinhalte und -abfolgen.7 Durchgängiges Prozessmanagement – auf der Basis einer ethisch-moralischen Grundlage angesichts der Bedeutung einer Gesundheitsleistung und einer „Data Literacy“, also einer Kompetenz mit Daten kompetent umgehen zu können8 – schafft die Voraussetzung für Patientennutzen, Produktivität und Outcome und kennzeichnet damit den wichtigsten Werttreiber, damit der Patientenfokus bei allen Diagnose-, Behandlungs- und Pflegeleistungen gesichert ist.
Potenziale der digitalen Technologien für die Personalisierung von Behandlungsprozessen in verschiedenen medizinischen Fachgebieten
Generell haben die digitalen Technologien ein hohes Potenzial, stationäre und ambulante sowie sektorenübergreifende Versorgung qualitativ hochwertiger und zugleich wirtschaftlicher zu erbringen. Dies erfolgt sowohl durch die Beschleunigung der Kommunikations- und Abstimmungsprozesse zwischen Patienten und den Leistungserbringern sowie zwischen den Leistungserbringern selbst als auch durch die Entwicklung von innovativen Diagnose- und Behandlungsverfahren in den einzelnen medizinischen Fachgebieten. Beispielhaft seien hierzu Technologien aufgeführt, die von Seiten des Leistungserbringers zur Personalisierung eines Behandlungspfades eingebracht werden können (siehe Abb. 1).
Die elektronische Vernetzung (1) von Patienten mit den Leistungsanbietern und diesen untereinander bietet viele Möglichkeiten, die Leistungsprozesse in Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge effizienter und effektiver zu gestalten sowie den Patienten bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen durch die Nutzung von Apps und Sensoren zur Messung von Biomarkern stärker einzubinden. Patienten bekommen durch die elektronische Vernetzung leichter Zugang zu ihren eigenen medizinischen Daten und zu medizinischem Wissen und können so zum Kunden auf dem „Gesundheitsmarkt“ werden.9 Ein Beispiel für die Möglichkeiten der Vernetzung auf der Systemebene ist in Deutschland das Wertschöpfungsnetzwerk „Gesundes Kinzigtal“10, eine Kooperation von verschiedenen Haus-, Fach- und Klinikärzten, Psychotherapeuten, Pflege- und Reha-Einrichtungen. Es plant und koordiniert im Rahmen eines Vertrages zur Integrierten Versorgung die Behandlung von Versicherten bestimmter Krankenkassen. Der Fokus des Geschäftsmodells liegt hier nicht auf inkrementalen Innovationen, sondern auf Innovationen, die neue Produktausprägungen in Verbindung mit neuen Geschäftsmodellen schaffen und die unter Nutzung innovativer Informations-, Kommunikations- und Big Data-Technologien auf Outcome, also auf konkrete Wirkung, statt auf eine Erhöhung der Leistungsmenge, ausgerichtet sind.
Die Anwendung telemedizinischer Leistungen (2) wurde durch die Änderung der Musterberufsordnung für die Ärzte auf dem 121. Ärztetag 2018 in Frankfurt weiterentwickelt und der – aus der ärztlichen Perspektive – relevante Nutzen für die Anwendung von telemedizinischen Leistungen definiert. Im weitesten Sinne wird darunter die Überwindung zeitlicher und/oder räumlicher Distanzen im Rahmen von medizinischen Sachverhalten verstanden. Das beinhaltet hauptsächlich die Messung, Erfassung und Übermittlung von Informationen oder die Anwendung medizinischer Verfahren mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnik zwischen Ärzten sowie zwischen Ärzten und Patienten, ggf. unter Einbindung von nichtärztlichem Fachpersonal.11 Mittlerweile gibt es schon eine Reihe von Anwendungsbeispielen, wie die Fernanwendung für die Versorgung und kontinuierliche Nachsorge von Patienten mit Herzschwäche (Telecoaching) und die ambulante Nachsorge von Schlaganfallpatienten (Telestroke).12 Auch speziell ausgewählte Patienten mit Herzinsuffizienz ziehen aus einer telemedizinischen Fernüberwachung erheblichen Nutzen. Sie verbringen weniger Tage wegen Herzinsuffizienz im Krankenhaus und haben eine geringere Sterblichkeit. Das sind die Kernergebnisse der TIM-HF2-Studie, an der 1.538 Patienten mit Herzinsuffizienz der NYHA-Stadien II/III aus 113 kardiologischen Praxen und Zentren sowie 87 Hausarztpraxen deutschlandweit teilnahmen.13
Telemedizinische Leistungen stellen ein großes Potenzial für die Anpassung an die Präferenzen des Patienten dar, für den damit tätigen Arzt ist allerdings der Nutzen geringer. Der Arzt muss die Zeit für die Leistung online wie offline erbringen, und die Rüstzeiten für die telemedizinische Infrastruktur kommen noch hinzu.
Aus den Analysen von Gensequenzen (Genomics), epigenetischen Modifikationen (Epigenomics), RNA-Transkripten (Trans-criptomics), Proteinen (Proteomics) und von Stoffwechselprodukten (Metabolomics)14, den sogenannten OMICS-Technologien (3), können mit maschinellen Lernverfahren aus großen Datenmengen biologische und psychosoziale Subtypen von Krankheiten identifiziert werden, die mit traditionellen Diagnosekategorien inkongruent sind. Aber aufgrund der Zuordnung lassen sich prädiktiv Therapieempfehlungen geben und Behandlungseffekte mit hoher Genauigkeit voraussagen.15
Ein Beispiel für die Bedeutung der Genforschung und die Bedeutung der translationalen Ausrichtung für zukünftige zielgerichtete Behandlungsmethoden, beispielsweise von schweren depressiven Erkrankungen, ist die Entdeckung von 30 neuen genetischen Varianten, die mit Depressionen in Verbindung stehen. Auf der Basis weiterer Forschung sind wirksamere und nebenwirkungsärmere Medikamente für bestimmte Patientengruppen zu erwarten.16
Die Behandlung von Akuter Lymphatischer Leukämie bei Kindern und einer speziellen Form von Lymphomen kann mittels CAR-T,
der Entwicklung von „chimären Antigen-Rezeptoren“, für jeden Patienten individuell durchgeführt werden. Damit lassen sich Leukämiezellen erkennen und abtöten. Erste Ergebnisse zeigen zum Teil eine vollständige Remission und das Fehlen sichtbarer Tumorzeichen im Computertomogramm.17 Ein weiterer Pluspunkt dieser Behandlungsmethode ist, dass diese Form der Krebstherapie in Zukunft die Stammzelltransplantation ersetzen könnte.18
Die Anwendungen der virtuellen Realität (4), also der Imitation der physischen Wirklichkeit mit all ihren physikalischen Eigenschaften in einer computergenerierten, interaktiven, virtuel- len Umwelt19 können in der Ausbildung von Medizinstudenten und der Erprobung von personalisierten Behandlungsansätzen genutzt werden. So kann mit einer – von Künstlicher Intelligenz gestützten – rechnerischen Methode die Herzfunktion modelliert (Digitaler Zwilling20) und mit der interdisziplinären Integration klinischer Patientendaten können cyber-physikalisch maßgeschneiderte Behandlungen vor der konkreten Umsetzung erprobt werden. Auch bei der Behandlung von Angsterkrankungen21 und von Suchterkrankungen22 kann die Technologie eingesetzt werden.
Mit der Nanotechnologie (5) können winzige Geräte und Partikel hergestellt werden, die im menschlichen Körper für die In-Vivo-Diagnostik und für den Wirkstofftransport von Medikamenten genutzt werden.23
Die Anwendungen der Robotik (6) werden von Computern mit Programmen der Künstlichen Intelligenz gesteuert. Sie können zum Beispiel – je nach benutzter Software – als Unterstützung für körperlich schwere Arbeiten in der Pflege und in der Rehabilitation sowie als Unterstützungssysteme im Operationssaal dienen.
Mit einem interdisziplinären Ansatz von Verfahren aus Neurotechnik, klinischer Neurologie, Robotik und Computersimulation haben Forscher Prothesen entwickelt, mit denen Patienten sich natürlicher bewegen können. Stromimpulse werden so simuliert, dass das Gehirn sie wie aus einem natürlichen Arm kommend interpretiert. Damit können Patienten genauer zugreifen.24 Einzelne Operations- und Unterstützungsprozesse können mit Brainlab strukturiert, digitalisiert und automatisiert werden. Die Operationsschritte werden angesagt, abgearbeitet und gleichzeitig dokumentiert. Dadurch werden eine bessere Ergebnisqualität und eine höhere Wirtschaftlichkeit erreicht.25
Das Robotersystem MicroSurge wurde entwickelt am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) für den Einsatz bei minimalinvasiven Eingriffen. Die Geräte werden von Roboterarmen gehalten und vom Chirurgen ferngesteuert. Das System liefert dabei nicht nur die optische Einsicht ins Operationsgebiet, sondern ermöglicht sogar ein haptisches Feedback.26 In der Verbindung mit der Methode der Augmented Reality (7) (der Nutzer erlebt die reale Welt um eine virtuelle Komponente erweitert27) können komplexe Operationen geübt und detailliert geplant sowie direkt für eine intraoperative Unterstützung genutzt werden. Mit SpectoVive lassen sich in Echtzeit Computertomografie-Daten in eine dreidimensionale virtuelle Umgebung umwandeln, die dem Operateur ein realistisches Bild der Umgebung gibt.28
Die Gewinnung von neuen Informationen aus allen diesen Daten, die aus der Nutzung dieser Technologien anfallen bzw. generiert werden und vielleicht auch für andere Zwecke erhoben worden sind, ist ein Kerngedanke von Big-Data-Konzepten.29 Diese Analysen können auch direkt am Patienten in einem strukturierten Behandlungspfad zur Verbesserung der Behandlung beitragen, indem aus den großen Mengen von Informationen aus unterschiedlichen Quellen – gespeichert in sogenannten Big-Data-Lakes30 – mit Predictive Analytics31 prognostische Aussagen abgeleitet werden können (siehe Abb. 1).
Bisherige Hemmnisse und Barrieren für
digitalisierte Lösungskonzepte
Im deutschen Gesundheitswesen bestehen allerdings noch erhebliche Hemmnisse und Barrieren, welche die Übernahme und die Anwendung innovativer und digitaler Leistungen erschweren bzw. (noch) unmöglich machen.
Umsetzungshindernisse bestehen durch die weitgehende Inkompatibilität der Informations- und Kommunikationssysteme, welche die Integration von Daten und ihre standortübergreifende Nutzung aufgrund der (noch) fehlenden Strukturgleichheit erschwert. In der Medizininformatik-Initiative DIFUTURE haben sich deshalb Exzellenzuniversitäten und klinische Partner zusammengeschlossen, um die Datenmengen aus den unterschiedlichen Forschungsbereichen und digitalen Produkten zusammenzuführen, damit jeder Arzt, jeder Forscher und jeder Patient Zugang zu den für ihn erforderlichen Informationen hat.32 Neben den Hindernissen bezüglich des Datenschutzes und der Datensicherheit fehlen auch gemeinsame Standards, und nicht alle heilberuflich Tätigen sind von den digitalen Techniken überzeugt und in der Anwendung geschult.33
Als weitere Erschwernis für die Translation von Innovationen kommt hinzu, dass die Kosten erst dann von den Kassen übernommen werden, wenn sie ihren klinischen Nutzen unter Beweis gestellt haben, und bei den relativ kleinen Fallzahlen ist dies schwierig. Eine Veränderung bzgl. der Kostenerstattung bahnt sich derzeit dadurch an, dass Novartis ein Erstattungsmodell für die CAR-T-Zell-Therapie mit Betriebskrankenkassen vereinbart hat. Danach erhält die Kasse einen Teil der Kosten für das Medikament „Kymriah“ zurück, falls der Patienten innerhalb eines vorher definierten Zeitraums stirbt.34
Während für Krankenhäuser der sogenannte Verbotsvorbehalt bezüglich des Einsatzes innovativer Methoden gilt, ist es für den ambulanten Sektor mit dem Erlaubnisvorbehalt entgegengesetzt geregelt.35 Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) dürfen im stationären Sektor solange erbracht werden, bis der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine Bewertung vorgenommen hat. Im ambulanten Sektor bedeutet Erlaubnisvorbehalt, dass Leistungen erst dann erbracht werden können, wenn der G-BA sie vorher geprüft, bewertet und erlaubt hat. Dies gibt dem G-BA eine mächtige Rolle, die aufgrund der Zusammensetzung des Gremiums von vielen Akteuren kritisch gesehen wird. Dazu zählt, dass auf der einen „Bank“ fünf Vertreter der Kassen sitzen und auf der anderen „Bank“ fünf Leistungserbringer, verteilt auf Kliniken, Niedergelassene und Zahnärzte. Dadurch können Leistungserbringer nicht als Einheit betrachtet werden, die gemeinsam Innovationen befördern könnten. Einen Ausweg könnte der Vorschlag einer „fast lane“ für Innovationen vom Spitzenverband der Fachärzte (SpiFa) sein. Danach könnten im Rahmen von Selektivverträgen – also innerhalb von Verträgen der Leistungserbringer mit einzelnen Krankenkassen – Innovationen für fünf Jahre räumlich und zeitlich begrenzt eingeführt und evaluiert werden. Voraussetzung sei, dass der Bundestagsgesundheitsausschuss einen Innovationsausschuss bildet, der ein direktes Antragsrecht beim Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat.36 In der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion zeichnet sich ab, dass auch das Gesundheitsministerium die langen Entscheidungswege der Selbstverwaltung bemängelt und Änderungen plant.37
Generell stellt die enge und sektorenübergreifende Kooperation der Kliniker mit innovativen Partnern, nämlich den Forschungseinrichtungen und der Medizinindustrie, einen wichtigen Werttreiber für die Translation innovativer Leistungen dar (siehe Abb. 2) und bietet als wichtigen Erfolgsfaktor für Patienten innovative Leistungsvarianten und Wahlmöglichkeiten bzgl. Ort, Zeit, Akteur und Methoden in hoher medizinischer Qualität und auf dem neuesten Stand der Forschung.
Erweiterung der Wertschöpfungskette Behandlungspfade – Auflösung der Organisationsgrenzen
Die Gesundheitsversorgung wird sich in der Zukunft weniger in den Warteräumen der niedergelassenen Ärzte und der Kliniken als vielmehr auf dem Smartphone abspielen.38 Die physische Abhängigkeit vieler Leistungsprozesse von der Präsenz des Patienten kann unter den Bedingungen digitaler Infrastruktur und Vernetztheit aufgehoben werden. Sensorik und smarte Diagnostik-Geräte am Point-of-Care liefern unabhängig vom jeweiligen Anbieter und im besten Falle kompatibel mit den relevanten Systemen vollumfassende Diagnostik. Telemedizinische Leistungsprozesse erlauben es, dass Wertschöpfungsketten in Form von Behandlungspfaden weiter gedacht und verlängert werden, so dass vorher nicht-bekannte oder nicht-realisierbare Methoden und neue Geschäftsmodelle entstehen können. Somit stehen wesentlich mehr Optionen zur Verfügung, Gesundheitsleistungen über alle drei Sektoren (ambulant, stationär, zuhause) hinweg in einem durchgängigen End-to-End-Behandlungspfad abzubilden und individuell zu behandeln (siehe in Abb. 1 unten). Gesundheitsleistungen können so – am optimalen Ablauf für den Patienten orientiert – personalisiert werden.39
Wenn die Daten aus den oben genannten Technologien verwertet werden, lässt sich immer besser verstehen, wie Krankheiten entstehen und wie krankmachende Prozesse im Körper von gesunden Menschen (also von Menschen ohne krankheitswertige Symptomatik) frühzeitig zu erkennen sind. Dann lässt sich mit immer früheren Dia-gnosen und wirksamen Interventionen frühzeitig eingreifen, statt erst zu therapieren, wenn die Krankheit bereits um sich greift.40 Die Alzheimer-Demenz zum Beispiel kündigt sich in einigen Formen offenbar schon lange vor dem eigentlichen Krankheitsbeginn an. Das bringt Zeit, um die Erkrankung zu verhindern – womöglich sogar bis zu 20 Jahre.41 So können zum Beispiel beim Diabetes Typ I und nach einer Untersuchung des genetischen Risikos Wirkstoffe schon vor dem Ausbruch einer Erkrankung eingesetzt werden.42
Die frühzeitige Ansprache und Integration des Patienten erlaubt es damit, die Informationsasymmetrie zwischen Arzt und Patient zu verringern und mit einer Früherkennung den Blick schon zeitnah auf eine Primärprävention zu richten.43
Damit entwickelt sich die Medizin von einer reaktiven Medizin mit dem One-size-fits-all-Ansatz zu einer proaktiven und antizipierenden Präventionsmedizin, die eine Behandlung zielgenauer mit Therapiekombinationen planen kann, statt wie bisher häufig auf Trial-and-Error-Verfahren angewiesen zu sein. Dies erfordert allerdings von Seiten der Patienten eine Reflexion über die eigene Position hinsichtlich des Umgangs mit Daten, des Risikos bzgl. Wissen und Nicht-Wissen (Abb.1: A), sowie eine gesellschaftliche Debatte darüber, wo Krankheit beginnt, was also in den Leistungskatalog der Krankenkassen gehört.44
Für den Anbieter von Gesundheitsleistungen bedeutet dies, dass die Kontaktkette mit potenziellen Patienten und Angehörigen (Customer Journey) wesentlich früher beginnen muss, um wesentliche Touchpoints zu identifizieren und proaktiv auf individuelle Lösungen hinzuweisen, die sich ohne große Reibungsverluste für den Patienten in den Alltag integrieren lassen.
Gemeinsame Wertschöpfung mit Betroffenen und Angehörigen
Ein zentrales Element erfolgreicher Behandlungen stellt die Integration des Patienten in den Diagnose- und Behandlungsprozess dar, sie ist auch im Patientenrechtegesetz kodifiziert. Damit sollen mehr Wissen und Kontrolle über die Erkrankung bzw. Gesundheitsleistung sowie eine höhere Compliance/Adhärenz erreicht werden.
Die Integration ermöglicht dem Anbieter Zugang zu dem impliziten Patientenwissen und zu Rückmeldungen, aus denen Verbesserungsprozesse und Innovationen entwickelt werden können.45 Aber auch in ihrer Funktion als Anwender können Patienten und Angehörige als Innovatoren fungieren. Ihr Wissen über die Erkrankung bildet ein großes Potenzial für Prozess- und Produktinnovationen insbesondere im Bereich der seltenen Erkrankungen.46 Dies setzt die Bereitschaft des Patienten voraus, selbst Verantwortung für den Gesundungsprozess zu übernehmen und dem Behandler Rückmeldungen zu geben (Abb. 1: B).
Mit den digitalen Technologien wie den telemedizinischen Gesundheitsleistungen und den Verwendungsmöglichkeiten leistungsstarker Sensoren in Verbindung mit dem Cloud-Computing (siehe Abb. 1) können Smartphones und Wearables, also Computersysteme, die am Körper getragen und/oder in die Kleidung integriert sind, die Patientenintegration unabhängig von Ort und Zeit möglich machen. Sie stellen damit eine erhebliche Nutzensteige- rung für den Patienten im Rahmen von Prävention, Diagnose und Behandlung dar, der zur Nutzung der Technologien bereit und fähig sein muss (Abb.1: C). Im Rahmen der Modellierung eines Behandlungspfades auf der Grundlage eines Behandlungskonzepts fördert eine derartige Personalisierung die Beziehung zwischen Anbieter und Patient im Sinne einer spezifischen Kundenorientierung, und bewirkt eine interaktive Wertschöpfung im Sinne eines Co-Design-Prozesses.47
Mit der Blockchain-Technologie (Abb.1: D) kann ein System aufgebaut werden, das alle Daten sammelt und vom Eigentümer der Daten nur für bestimmte Nutzer freigegeben werden kann.48 Damit ließen sich wesentliche Probleme wie die Verstreutheit und die Sicherheit der medizinischen und sozialen Daten lösen. Blockchain-Daten sind eher komplett, genau, vertrauenswürdig und breit verfügbar.49 Es wäre dann nicht mehr möglich, dass Daten ohne das Wissen von Patienten für andere Zwecke benutzt würden. Das gäbe dem Patienten mehr Sicherheit und Autonomie im Umgang mit den Anbietern von Gesundheitsleistungen.
Durch diese Entwicklung wird sich die Rolle des Arztes grundlegend verändern. Durch den für alle zugänglichen und einfachen Zugriff auf Informationen und Wissen wird der Arzt nicht mehr wie früher als unverzichtbarer Wissensträger für die Weitergabe von Wissen zuständig sein, sondern er wird mehr in der Rolle eines Beraters und Coachs mit dem Patienten einen personalisierten Vorsorge- und/oder Behandlungspfad mit Gesundheitsleistungen 4.0 konfigurieren und mit Empathie und ethischer Klarheit den Gesamtprozess steuern, damit der Patient sich nicht als „Versuchsobjekt“ funktioniert fühlt.
Neues Wissen wirksam machen
Die Digitalisierung wird die Zukunft der Arbeit auch im Gesundheitswesen verändern, wohl (noch) nicht so radikal, wie dies für die Industrie 4.0 mit ihren Rahmenbedingungen Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity (VUCA) gilt.50
Auch wenn die Herausforderungen von Google, Apple, Facebook, Amazon (GAFA) und vielen kleinen Gesundheits-Apps als Antreiber wirken, erscheinen die Beharrungskräfte in den einzelnen Sektoren der Gesundheitswirtschaft (noch) sehr stark. In einem Bereich, der so sehr von Komplexität durch Regulierungen, unterschiedlichen Anreiz- und Abrechnungssyste-
men sowie von Qua-
litätssicherungsmaßnahmen, Absi-
cherungsroutinen und Datenschutzre-
gelungen geprägt ist, gelten die schwierigeren Rahmenbedingungen wie in der Industrie 4.0 noch nicht. Dennoch gehen auch im deutschen Gesundheitswesen mit der Digitalisierung und dem Fokus auf die Translation eine Veränderung der Arbeits- und Organisationsstrukturen sowie eine veränderte Führungskultur einher.
Die Herausforderungen für Anbieter bestehen darin, die Organisation und die Mitarbeiter für die Entwicklung von eigenen Innovationen und für die Übernahme von innovativen Diagnose-, Behandlungs- und Pflegeleistungen aus den pharmazeutischen und (medizin-)technischen Forschungseinrichtungen zu befähigen. Damit werden das Management automatisierter und nicht-automatisierter Behandlungsprozesse sowie deren Verknüpfung zum Qualitäts- und Risikomanagement mit einer Null-Fehler-Qualität zu den wichtigsten Werttreibern sowie zugleich zu den erfolgskritischen Voraussetzungen für unternehmerisches Handeln als Anbieter von Gesundheitsleistungen (siehe Abb. 2).
Das Unternehmen muss dabei den Zielkonflikt zwischen Exploitation und Exploration immer wieder neu austarieren. Bei der Exploitation als Verwertung und Nutzbarmachung entsteht neues Wissen durch Spezialisierung und Verfeinerung des vorhandenen Wissens im kontinuierlichen Verbesserungsprozess, bei der Exploration wird neues Wissen entwickelt, indem (radikal) neue Anwendungs- und Lösungsmöglichkeiten für die Belange der Nutzer geschaffen werden.51 Beide Ansätze sind zu verfolgen, indem eine Beidhändigkeit (Ambidextrie) in der Organisationsstruktur und im Führungsverhalten realisiert wird – ein Ansatz, der in den Zeiten der digitalen Transformation auch für die Expertenorganisationen im Gesundheitswesen relevant ist. Diese dynamische Fähigkeit stellt einen wesentlichen Werttreiber für die Gesundheitsorganisation dar, um nachhaltig wettbewerbsfähig zu werden bzw. zu bleiben.
Ambidextrie kann in unterschiedlichen Organisationsmodellen – je nach Größe, nach vorhandenen Ressourcen und nach gewählter Innovationsstrategie – umgesetzt werden:
• In einem kooperativen Organisationsmodell werden in bestimmten Domänen Exploration, in anderen hingegen Exploitation betrieben (Domänen-Ambidextrie), zum Beispiel im Konzept eines dualen Betriebssystems.52
• Im autonomen Organisationsmodell betreibt ein Unternehmen Exploration und Exploitation in jeweils getrennten Organisationseinheiten, die von autonomen Einheiten geführt sind (strukturelle Ambidextrie).
• Im Falle der temporalen Ambidextrie wechselt ein Unternehmen periodisch zwischen den Phasen von Exploration und Exploitation.
• Im integrierten Organisationsmodell betreiben die Geschäftseinheiten parallel Exploration und Exploitation, d.h. die Verantwortung für Innovationen liegt in einer Hand (kontextuelle Ambi-
dextrie).53

Alle vier Organisationsformen haben ihre Berechtigung und Erfolgschancen. Bei Gesundheitsleistungen 4.0 stellt neben dem dritten vor allem das vierte Organisationsmodell das größte Erfolgspotenzial dar. Organisationen im deutschen Gesundheitswesen sind einer Vielzahl von Regulierungen und Budgetierungen unterworfen, die im Regelfall keinen Spielraum für zusätzliche Einheiten haben, so dass überwiegend eine kontextuelle Ambidextrie in einem integrierten Organisationsmodell in Frage kommt. Ambidextrie ist auch in Netzwerken gut untersucht54 und deshalb auch für die Übertragung auf Ärztenetze relevant, die im deutschen Gesundheitssystem eine immer größere Rolle für die Versorgung spielen.
Durch die Digitalisierung entstehen neue Formen der Zusammenarbeit untereinander, aber auch mit Maschinen und Systemen der Cyber-Welt, so dass auch schon von einer Arbeit 4.0 gesprochen wird.55 Durch das Verschmelzen von Software, Hardware und neuen Diagnose- und Behandlungsleistungen werden etablierte Denkmuster und Routinen generell hinterfragt werden müssen, um im Wettbewerb um anspruchsvollere und informierte Patienten zu bestehen. Die Fokussierung auf eine translationale Ausrichtung mit der konsequenten Verwendung von innovativen Diagnose- und Behandlungsmethoden und ihrer Abbildung in personalisierten Behandlungspfaden erfordert einen Rahmen, der innovatives Denken und Handeln möglich macht, konsequent Wissen verarbeitet und allen – auch den Patienten – verfügbar macht. Nicht das Wissen selbst steht damit im Vordergrund, sondern die methodische Kompetenz, das Wissen wirksam für die einzelne Gesundheitsleistung einzusetzen.56 Dies braucht grundsätzlich eine wertorientierte und eine werteorientierte Grundhaltung im Fokus mehrerer Anspruchsgruppen, in der Patientenorientierung und eine „klinische Glaubwürdigkeit“57 ebenso fest verankert sind wie eine konsequente betriebswirtschaftliche Orientierung. Dazu wird eine Unternehmenskultur nötig sein, die auf beides ausgerichtet ist. Selbstorganisation und Partizipation, eine Entwicklung der Teams von der bisherigen hierarchischen Steuerung zu Selbststeuerung, Selbstgestaltung bis hin zur Selbständigkeit58 und zum Entrepreneur im Unternehmen sind dazu wesentliche Gestaltungselemente.59
Nötig wird ein Führungsverständnis sein, das den „Schieberegler“ von transaktionaler und transformationaler Führung beherrscht, das die Veränderung der Tätigkeitsspektren und Rollenbilder sowie die steigenden Anforderungen sowohl an die technischen als auch emotionalen Kompetenzen der Mitarbeiter begleiten kann. Damit kommt zur organisationalen Ambidextrie auch eine „Beidhändigkeit“ der Führung,60 eine Qualifikation, die zum einen auf Effizienz und
Exzellenz („linke Hand“) und zum anderen stärker auf Geschwindigkeit und Innovation („rechte Hand“) ausgerichtet ist und diesen Spagat zwischen einerseits großer Offenheit sowie andererseits straffer Führung auch aushalten und kommunizieren kann.61
Fazit
Digitale Technologien existieren bereits in vielen Branchen und werden nach und nach auch in die Medizin übernommen, wobei viele (berufs-)rechtliche, gesundheitspolitische und ethische Fragestellungen noch völlig ungeklärt sind und deren Diskurs kaum mit der Entwicklung der Digitalisierungstechnologien Schritt halten kann. Es ergeben sich viele Chancen und auch berechtigte Aussichten auf qualitativ hochwertige, präzise und in weiten Teilen nebenwirkungsärmere Diagnose- und Behandlungsleistungen, die proaktiv und personalisiert in unterschiedlichen Geschäftsmodellen eingesetzt werden können. Ob die Hoffnungen auf eine auch wirtschaftlichere Versorgung eingelöst werden können, steht noch dahin.
Die wesentlichen Herausforderungen für den Anbieter im Wettbewerb bestehen neben den rechtlichen und technischen Fragestellungen hauptsächlich darin, Prozess- und Produktinnovationen in einer sich kontinuierlich verändernden Arbeitswelt selbst zu entwickeln und/oder (medizin-)technische und pharmakologische Innovationen aus Kooperationen mit Forschung und Entwicklung in die eigenen Leistungsprozesse aufzunehmen und einzupassen.
Die Fähigkeit des Unternehmens zu einer Ambidextrie von Organisation und Führung stellt in den Zeiten des digitalen Wandels eine dynamische Fähigkeit dar, mit der ausreichend Flexibilität für neue Entwicklungen und genügend Stabilität für eine wert- und werteorientierte Grundhaltung gegeben ist. <<

Ausgabe 05 / 2019

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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