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OA MVF 06/12: „Ein Plädoyer für mehr Patientenselbststeuerung“

23.09.2012 15:00
Bei vielen chronischen Krankheiten hängt das Behandlungsergebnis stark vom Patientenverhalten ab. Hinlänglich bekannte Beispiele hierfür sind der Diabetes mellitus (im Einzelfall bis zu 90% verhaltensabhängig) und andere risikoreiche Stoffwechselkrankheiten oder der Bluthochdruck. Richtige Ernährung, Bewegung, konsequente Einnahme indizierter(!) Arzneimittel, Vermeidung von Nikotin- und Alkoholmissbrauch, Stressabbau, Work-Life-Balance, Psychohygiene und konsequentes Einhalten notwendiger Verlaufskontrollen sind Verhaltenselemente, die ein Patient selbststeuernd zur Gesundung einsetzen kann.

>> Selbststeuerung und Steuerung sind grundsätzlich nicht identisch beziehungsweise deckungsgleich. Bei der Patientensteuerung navigiert eine andere Instanz als der Patient selbst diesen durch den Behandlungsprozess. Das können beispielsweise ein Arzt als Gatekeeper oder ein Case Manager sein. Der Patient ist dabei überwiegend Objekt des  Geschehens. Das mag in bestimmten Situationen, wie etwa bei lebensbedrohlichen Notfällen, durchaus im Interesse des Patienten sein. Dessen einzige Verhaltensoption ist dann, sich den Rettern und den Ärzten anzuvertrauen oder dies abzulehnen - vorausgesetzt, er ist bei Bewusstsein und in der Lage, eine derartige Entscheidung sinnvoll zu treffen. Ähnlich kann die Patientenrolle bei schwierigen Krankenhausbehandlungen sein, deren Komplexität ein Kranker oft nur schwer zu überblicken und zu beurteilen vermag. Hier gelten dann die Grundsätze des Case Managements, wie sie die Arbeitsgruppe Patientencoaching der DGbV im Jahre 2009 definiert hat:
• „Das Case Management (ein/e Case Manager/in) leitet einen Patienten durch einen Versorgungsprozess, organisiert ein integratives Schnittstellenmanagement aller am Versorgungsprozess beteiligten Akteure und stellt einen zielgerichteten, strukturierten, koordinierten und effizienten Mitteleinsatz sicher.
• Ein/e Case Manager/in trägt also weitgehend die Verantwortung für die Organisation des Behandlungsprozesses. Dabei besteht häufig eine Asymmetrie hinsichtlich Informiertheit, Verantwortung und Kompetenz zum Handeln zwischen Case Manager und Patient.“1
Die Patientenselbststeuerung setzt im Gegensatz dazu voraus, dass ein Kranker über das notwendige Wissen verfügt, um seine Rolle im Behandlungsprozess selbstverantwortlich und zielführend in die Hand nehmen zu können. Die Bedeutung einer solchen Mitwirkung der Kranken im Genesungsprozess ist keine - wenn auch oft vernachlässigte - Erkenntnis der Neuzeit, sondern war bereits Gegenstand antiker medizinischer Theorien. Hippokrates (460-375 v. Chr.) hat es bereits vor rund 2.400 Jahren in einem seiner Aphorismen auf den Punkt gebracht:
„Der Arzt muss nicht nur bereit sein, selber seine Pflicht zu tun, er muss sich auch die Mitwirkung des Kranken, der Gehilfen und der Umstände sichern.“2
Diese Aussage zeigt überdies die Klugheit und Zurückhaltung, mit der die hippokratischen Ärzte ihr Tun bewerteten. Sie wussten schon damals um die Schlüsselrolle der Patienten sowie den Einfluss der Umstände auf die Behandlungsergebnisse.
Bezogen auf unser Jahrhundert - und in unserer Diktion formuliert - bedeutet es, „dass ohne aufgeklärte und im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbstverantwortlich handelnde Bürger und Patienten die alleinigen Bemühungen der Akteure des institutionellen und hochentwickelten medizinischen Versorgungssystems unvollkommen bleiben. Beleg dafür ist die Feststellung des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen im Gutachten 2005, dass ein beachtlicher Teil der Verbesserung des Gesundheitszustands und der Verlängerung der Lebenserwartung seit dem 19. Jahrhundert „weniger auf medizinisch-kurative Innovationen als auf wirtschaftliche und soziale Entwicklungen sowie Umwelt-, Ernährungs-, Hygiene- und Bildungsfortschritte“ zurückgeht. Der Beitrag der medizinisch-kurativen Versorgung zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation belaufe sich „je nach Modellansatz und methodischem Vorgehen und auch in Abhängigkeit vom Geschlecht, auf ca. 10 bis 40 %. Der verbleibende Anteil erklärt sich primär aus Verbesserungen in den Lebensbedingungen bzw. -stilen.“ 3
Dies veranschaulicht Abb. 1, die eine Grafik des Sachverständigengutachtens 2000/2001 in etwas modifizierter Form wiedergibt. Wir finden in dieser Darstellung den Arzt und seine Gehilfen als „medizinische Infrastruktur“, die „Mitwirkung des Kranken“ als „Gesundheitsverhalten“ und die „Umstände“ in den „prädisponierenden Faktoren“, dem „sozialen Status“ und den „transsektoralen Determinanten“ wieder.
Das Versorgungsmanagement chronisch Kranker und multimorbider Patienten stellt dabei eine der größten Herausforderungen im Gesundheitswesen dar. Die zunehmende Zahl dieser Patientengruppen nimmt ungefähr vier Fünftel aller auf­gewendeten Leistungen des Systems in Anspruch.
Als Konsequenz aus diesen Zusammenhängen lässt sich eine Mitverantwortung der Versicherten für ihre Gesundheit und ihre Mitwirkung an der Krankenbehandlung und Rehabilitation ableiten, wie dies auch in § 1 des Sozialgesetzbuches V (SGB V) thematisiert wird
„… Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden. ...“ 5

Mitverantwortung und Mitwirkung sind hierbei die Schlüssselbegriffe. Das Spektrum der Handlungsoptionen reicht dabei vom bloßen Befolgen ärztlicher Anweisungen (Compliance) bis hin zu einem Verhalten, das auf Wissen, Verstehen, informierter Entscheidung, Motivation und Befähigung zur Eigenverantwortung und zum Selbstmanagement (Empowerment) im Behandlungsprozess beruht.
Für eine Förderung des Patientenselbstmanagements spricht die hohe Quote an nicht therapiegerechtem Verhalten insbesondere chronisch kranker Patienten. Diese liegt nach nationalen und internationalen Studien ungefähr zwischen  30 und 50 Prozent.6
Die herkömmlichen - meist wohl paternalistischen - Methoden der Patientenführung scheinen hiernach bei vielen Menschen nicht zum gewünschten Erfolg zu führen. Gründe dieses Scheiterns können unter anderem darin bestehen, dass Patienten ärztliche Verordnungen nicht genügend verstehen oder diese nicht in Einklang mit ihren eigenen Präferenzen und dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung bringen können. „Die Zeiten, dass die Patienten alles ohne Widerrede über sich ergehen lassen, sind vorbei“, hat 2010 ein Unternehmensberater für Arztpraxen formuliert.7
Voraussetzungen für eine zielführende Patientenselbststeuerung
Eine mitverantwortliche Selbststeuerung der Patienten im Gesundungsprozess ist allerdings nur möglich, wenn grundlegende Voraussetzungen erfüllt werden. Hierzu zählen:
• eine gesicherte Diagnose,
• die Bereitschaft des Patienten, Verantwortung für den eigenen Gesundungsprozess zu übernehmen,
• verlässliche Informationen über die Krankheit, die diagnostischen Möglichkeiten und die Behandlungsalternativen,
• therapiebezogene Orientierungsparameter,
• die intellektuelle Fähigkeit des Patienten, entsprechende Informationen und die daraus abgeleiteten Konsequenzen zu verstehen, gegebenenfalls durch Inanspruchnahme eines Patientencoaches,
• die Bestimmung des Behandlungsziels entweder durch shared decision making oder auch alleine und selbstverantwortlich durch den Patienten,
• „Leitplanken“ in Form von wie auch immer gearteten Hinweisen, die bei weitgehender Verhaltensautonomie gefährliche Abweichungen vom beschrittenen Therapieprozess signalisieren,
• Möglichkeiten für den informierten Patienten, innerhalb eines Entscheidungskorridors von Vorgaben (Leitlinien, Behandlungspfade) eigenverantwortlich ab-
zuweichen,
• konsequente Verfolgung des Behandlungsziels und gegebenenfalls Zwischenziels.

Der Nutzen des Patientenselbstmanagements
Selbstmanagement der Patienten entlastet die Ärzte und Therapeuten im Behandlungsmanagement, bei der Beratung sowie bei der Therapiekontrolle. Gleichzeitig besteht die Chance, größere Abstände zwischen den Konsultationen zu tolerieren, ohne Einbußen bei der Ergebnisqualität befürchten zu müssen. Dies ist angesichts einer immer weiter abnehmenden Ärztedichte beispielsweise in ländlichen Gebieten ein nicht zu vernachlässigender Vorteil. Auch können Beratungsgespräche auf einem höheren Informations- und Wissenslevel der Patienten und ggf. auch ihrer Angehörigen geführt werden. Dies trägt zu einer erheblichen Verbesserung der Kommunikation bei.
In kooperativen Versorgungsformen mit Selektivverträgen - wie bei der integrierten Versorgung - kann die Förderung der Patientenselbststeuerung zu Effizienzsteigerungen beitragen, die sich günstig auf die Versorgungsergebnisse,  die Wirtschaftlichkeit und somit auch die Vergütungen der Vertragspartner auswirken.
Besser informierte und zum Selbstmanagement befähigte Patienten werden kritische Krankheitszustände sicherer erkennen, gegebenenfalls eigenständig gegensteuern oder im Bedarfsfall ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Dadurch werden vermeidbare Verschlimmerungen und „Rückfälle“ vermieden oder zumindest das Risiko für eine solche negative Entwicklung vermindert.
In einem Aufsatz in der Online-Zeitschrift „PloS Medicine“ setzen sich Harold DeMonaco und Eric von Hippel, zwei Wissenschaftler aus Boston, detailliert mit dem Thema „Self Management“ auseinander. Überraschend ist für die Forscher insbesondere, dass  Selfmanagement-Techniken bislang noch sehr wenig verbreitet sind. Dies vor dem Hintergrund, dass - so die Autoren - mittlerweile eine Reihe von Studien vorlägen, die eines deutlich aufzeigen: Eine gestärkte Patientenautonomie bewirkt erhebliche Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen und bessere therapeutische Ergebnisse gegenüber der herkömmlichen Praxis. Herkömmliche Praxis bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Patienten ständig in der ärztlichen Sprechstunde erscheinen müssen, nur um Routine-Untersuchungen und einfache Messungen durchzuführen.8


Einordnung in das Spektrum von Health Management Services
Die Förderung von Selbstmanagement-Techniken ist eine von verschiedenen Management-Hilfen in der medizinischen Versorgung, die je nach Bedarf eingesetzt werden können. Dazu zählen einerseits personalintensive Leistungen wie Gesundheitsbildung, Gesundheitscoaching, Patientencoaching, Shared Decision Making, Coping Modification, Motivational Interviewing sowie Pharmaceutical Care, andererseits technologieintensive Leistungen wie Risk Assessment, Stratifizierung, Führung einer elektronischen Patientenakte, Klinische Algorithmen, Wissens-Management, Anwendung spezieller medizinische Software, Datenanalytik und Datenmanagement. Alle diese Leistungen lassen sich unter dem Begriff Health Management Services (HMS) zusammenfassen.9
So unterschiedlich die genannten Methoden auch sein mögen: Bei allen handelt es sich  um wissensbasierte medizinische, edukative, psychologische oder datenanalytische Dienstleistungen, die einen Therapieprozess in unterschiedlichen Settings und in verschiedenen Phasen eines Krankheitsverlaufes unterstützen. Gemeinsamer Kern aller HMS-Dienstleistungen ist eine spezifische Wissenskomponente. Die fünf wesentlichen HSM-Funktionen sind: Information, Steuerung, Edukation, Logistik und Monitoring. Der Nutzen liegt in verbesserten medizinischen Outcomes.10  
Nach dem das zweibändige Werk „Patientencoaching“11 inzwischen in der Schriftenreihe der DGbV erschienen ist, wird die bisherige Arbeitsgruppe „Patientencoaching“ der DGbV ihr zukünftiges Arbeitsgebiet unter dem  Motto „Vom Patientencoaching zu integrierenden patientenorientierten Health Management Lösungen“ erweitern. Als weiterer Baustein für das patientenorientierte Versorgungsmanagement entsteht ein Sammelband „Telematik zur Patientenselbststeuerung“ in der Telematik-Arbeitsgruppe der DGbV. <<

von: Dr. Klaus Meyer-Lutterloh

 

PDF siehe Archiv, MVF 06/12

 

Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: Meyer-Lutterloh, K.,: „Ein Plädoyer für mehr  Patientenselbststeuerung“. In: "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 06/12, S. 24-25)

Ausgabe 06 / 2012

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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