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Der Balanced-Scorecard-Ansatz als Managementinstrument für Netzwerke im Gesundheitswesen

25.09.2012 10:30
Die mangelnde Transparenz in Bezug auf ökonomische und qualitative Effekte wird als wesentliche Schwachstelle von integrierten Versorgungsnetzwerken im deutschen Gesundheitswesen diskutiert (DGIV/BMC 2008; Wagner et al. 2007: 329). Daraus resultieren, wie eine Untersuchung von Gersch (2011) aufzeigt, Investmentunsicherheiten von Krankenkassen, was die ökonomische Zukunftsfähigkeit solcher Versorgungsansätze erschwert. Netzwerke im Gesundheitswesen müssen einen positiven Gesundheitsnutzen für die Versichertenpopulation generieren und dies nachweisen können.1 Performance Management Systeme (PMS) konzentrieren sich auf diese Problemstellungen der Quantifizierung von ökonomischen und qualitativen Ergebnissen sowie der reflexiven Steuerung von Organisationen, und zwar mit dem Ziel, ihre Effizienz und Effektivität zu steigern. Darüber hinaus können sie als Instrument zur Schaffung von externer Transparenz, z.B. gegenüber Krankenkassen oder Versicherten dienen. In „traditionellen“ – d.h. nicht als Netzwerk strukturierten – Organisationen haben sich PMS als Charakteristikum eines professionellen Managements schon länger etabliert (Kaplan/Norton 2001b: 4 ff; Inamdar/Kaplan 2002: 188 ff; Zelman et al. 2003: 12). Für den speziellen Kontext – Netzwerke im Gesundheitswesen – sind theoretische Arbeiten und praktische Erfahrungen im deutschsprachigen Raum allerdings schmal gesät (s. insbesondere Gröbner 2007; Schicker et al. 2007). Der Bedarf wird jedoch zunehmend von Netzwerken im deutschen Gesundheitswesen erkannt, wobei dem Netzmanagement genau in diesem Bereich ein Defizit attestiert wird (Purucker et al 2009: 23 ff). In der englischsprachigen Literatur findet sich eine umfangreichere Auseinandersetzung (s. z. B. Inamdar/Kaplan 2002; Zelman et al. 2003). Dennoch fehlt auch in der englischsprachigen Literatur eine systematische Aufarbeitung von Anforderungskriterien. Ziel dieses Artikels ist es daher, einen Überblick über (besondere) Anforderungen an PMS für Netzwerke im (deutschen) Gesundheitswesen zu geben. Daran anschließend soll ein vielfach in Literatur und Praxis diskutiertes PMS, der Ansatz der Balanced Scorecard (BSC), generell sowie im Hinblick auf die erarbeiteten Anforderungskriterien theoretisch erörtert werden. Im Besonderen wird dabei auf Ergebnisse eines systematischen Reviews, erweitert um eine qualitative Befragung von Experten des deutschen Gesundheitswesens, von Pimperl (2012) zurückgegriffen.

>> Bei der Betrachtung der Anforderungskriterien ist eine Kategorisierung nach zwei Oberkategorien hilfreich (in Anlehnung an Hudson et al. 2001: 1102; sowie der strukturationstheoretischen Analyse der BSC bei Becker 2003: 236):
• Konzeptionelle Spezifikationen und Anforderungen an das PM-Kennzahlensystem2
• Spezifikationen und Anforderungen an das PM-Vorgehensmodell
Anforderungskriterien an PMS für Netzwerke
Einen Überblick über den erarbeiteten Anforderungskatalog an Performance-Management-Systeme gibt Abb. 1. Wie Pimperl (2012: 171 ff) herausarbeitet, scheint es nur marginale Unterschiede zwischen diesem speziellen Katalog und allgemeinen Anforderungskatalogen an PMS für eher hierarchisch strukturierte Organisationen zu geben (vgl. u. a. Gleich 2001; Hudson et al. 2001; Pun/White 2005; Franco-Santos/Bourne 2005; Pimperl 2012: 100 ff).
Eine besondere Anforderung an PMS im Kontext „Gesundheitsnetzwerk“ ist eine Phasenorientierung. Netzwerke durchlaufen verschiedene Phasen der Entwicklung. Dementsprechend müsse im PM-Kennzahlensystem der Fokus abhängig von der Entwicklungsstufe auf unterschiedliche Kennzahlen gelegt werden, um die Performance in der jeweiligen Stufe adäquat messen zu können.3
Die zweite Besonderheit ist der Datenschutz. Insbesondere ist der Schutz von personenbezogenen, medizinischen Versichertendaten gemeint, die für Auswertungen herangezogen werden. Aber auch der Umgang mit Daten einzelner Netzwerkmitglieder erfordert einen adäquaten Schutz bzw. eine entsprechende Vertrauensbasis im Netz (z.B. nur pseudonymisierte Darstellung der Auswertungsergebnisse im Benchmarking).
Alle weiteren in Abb. 1 gelisteten Punkte scheinen, unabhängig vom Kontext, relevant für PMS zu sein. Ein PMS, dem das Potenzial zugeschrieben wird diese Anforderungen zu erfüllen, ist der BSC-Ansatz4 (vgl. u.a. die Analysen von Hudson et al. 2001: 1102 ff; Pun/White 2005: 57 f; und speziell für den Kontext Netzwerke im Gesundheitswesen Pimperl 2012: 251 ff). Der BSC-Ansatz ist eines der weitestverbreiteten PMS (Neely 1999: 206 ff), welcher auch im Gesundheitswesen international Anklang findet (s. u.a. Aidemark 2001; Inamdar/Kaplan 2002; Zelman et al. 2003):
„Everyone interviewed […] considered balanced scorecards as appropriate control mechanisms, almost as designed for health care organisations.” (Aidemark 2001: 38)
Nachfolgend werden der BSC-Ansatz detaillierter beschrieben und erforderliche Adaptionen näher vorgestellt.


BSC-Ansatz: PM-Kennzahlensystem
Als wesentliches Charakteristikum der BSC kann der ausgeglichene Blick auf die Performance einer Organisation betrachtet werden. Ein balanciertes Verhältnis zwischen finanziellen vs. nicht-finanziellen Kennzahlen sowie kurz- vs. langfristigen, internen vs. externen und Ergebnis- vs. Treiberkennzahlen soll erreicht werden. Diese Kennzahlen werden originär in vier Perspektiven gruppiert: Finanzen, Kunden, interne Prozesse und Innovation & Lernen (Kaplan/Norton 1992: 71 ff). Diese multidimensionale Orientierung setzt an einem zentralen Kritikpunkt - der Eindimensionalität - älterer PMS an. In der internationalen Diskussion wurde die Dominanz finanzieller Kennzahlen in Wirtschaft und Industrie kritisiert (vgl. u.a. Neely 1999: 206) bzw. die Fokussierung auf rein qualitätsbezogene Kennzahlen im Gesundheitssektor (vgl. u.a. Adair et al. 2003: 10 ff).
Ein Beispiel einer BSC5 für eine Organisation aus dem Gesundheitswesen zeigt Abb. 2, welche sich stark an den originären Perspektiven der BSC orientiert (vgl. Kaplan/Norton 1992:72). Die Perspektiven sind nicht als starres Rahmenkonstrukt zu verstehen. Abhängig von Branche oder Strategie der Organisation können Adaptionen sinnvoll sein (Kaplan/Norton 1996a: 34). Von dieser Flexibilität wird im Gesundheitswesen generell (Zelman et al. 2003: 5 f, 12) und in dort agierenden Netzwerkorganisationen im speziellen Gebrauch gemacht. In der englischsprachigen Literatur zum Einsatz der BSC in Gesundheitsnetzwerken außerhalb Deutschlands finden sich vielfältige Adaptionen bzw. Erweiterungen der originären BSC-Perspektiven. Dies sind insbesondere (ausführlicher dazu Pimperl 2012: 258 ff, 271 ff):
• qualitätsbezogene Perspektiven (z.B. Sicherheit; qualitätszentrierte Kultur)
• zugangs-/accessbezogene Perspektiven (z.B. Zugang für Patienten; Zugang zu qualitativ hochwertigem Service)
• outcomebezogene Perspektiven (z.B. klinische Outcomes, Langzeit-Outcomes; Verbesserung der Gesundheit)
• soziale/gesellschaftsbezogene Perspektiven (z.B. soziales Commitment; Health Equity/Gleichheit)
• kooperationsbezogene Perspektiven (Integration; Access/Continuity; Community-Beziehungen).
Eine weitere Adaption der originären BSC von Kaplan & Norton zeigt ebenso Abbildung 2. Verändert sind die hierarchische Anordnung der Perspektiven und die illustrierten Ursache-Wirkungsketten. Originär wird von einer hierarchischen Top-Down-Anordnung der Perspektiven ausgegangen mit den Finanzen on-Top. Darunter folgt die Kundenperspektive, die sich ihrerseits wiederum aus der erfolgreichen Umsetzung von Prozessen speist und auf dem Fundament der Perspektive Innovation und Lernen aufsetzt (Kaplan/Norton 1992: 71 ff). Für Organisationen im Gesundheitswesen konnte dieser kausale Zusammenhang bisher nicht nachgewiesen werden (Shortell et al. 2005: 424). Allerdings sollte die determinierende Komponente für die Anordnung auch die Organisationsstrategie sein (Kaplan/Norton 1992: 79); weshalb eine Adaption der Kausalketten (Abb. 2) zielführend ist. Ziel ist die optimale Illustration des Businessmodells.6
Essenziell ist gemäß Kaplan & Norton, dass die Anzahl der Kennzahlen zur Operationalisierung der strategischen Ziele in der BSC auf ein Minimum beschränkt werden, um eine klare Struktur zu bewahren und die Informationsüberlastung des Managements zu vermeiden (Kaplan/Norton 1992: 71 ff). Als Richtwert werden 20 bis 25 Kennzahlen genannt (Kaplan/Norton 1996: ix). Um die ganze Organisation auf die Strategie auszurichten, ist es sinnvoll, BSCs für die Tiefe - vom Top-Management bis zum einzelnen Mitarbeiter– und die Breite - z.B. über verschiedene Departments hinweg - zu entwickeln (Kaplan/Norton 2001: 244).
Ein Vergleich der dargestellten Spezifika der BSC mit dem Anforderungskatalog für Kennzahlensysteme von PMS für Netzwerke im Gesundheitswesen (vgl. Abbildung 1) lässt viele Analogien erkennen (ausführlich dazu Pimperl 2012: 251 ff).


BSC-Ansatz: Aspekte des PM-Vorgehensmodells
Ältere Veröffentlichungen zum BSC-Ansatz fokussieren auf die BSC als Kennzahlensystem (Kaplan & Norton 1992). Über die folgenden Jahre erfolgte eine Erweiterung hin zu einem umfassenden strategischen Managementsystem. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass das Kennzahlensystem sukzessive durch ein differenzierteres PM-Vorgehensmodell ergänzt wurde (Kaplan/Norton 1996a, 2001b, 2008b).
Das PM-Vorgehensmodell lässt sich in sieben Phasen unterteilen (Kaplan/Norton 2008a: 65; erweitert um eine Phase der Bedarfsevaluation/PM Audit gemäß Pimperl 2012: 332 f):
• Bedarfsevaluation/PM Audit:  Die Einführung eines PMS sollte mit einer Evaluierung des bestehenden PMS bzw. der entscheidenden Vorbedingungen für die Einführung der BSC starten. Als wesentliche Vorbedingungen gelten: Anerkennung des Bedarfs an PM, Bedarf an Verbesserung des bestehenden PMS, Unterstützung durch das zentrale Management, Bereitstellung von Ressourcen (Zeit, Kompetenzen, IT-Systeme), Optionen durch organisationale Veränderungen, Kundenorientierung (Pimperl 2012: 317 f).
• Entwicklung der Strategie: Nach Bewertung der initialen Vorbedingungen für die Einführung eines BSC-Ansatzes sollte die (Weiter-)Entwicklung von Vision, Mission und Strategie sowie gemeinsamen Wertvorstellungen folgen (Kaplan/Norton 2008b: 8).
• Explikation der Strategie:  Eine Explikation der Strategie, also eine Konkretisierung und Quantifizierung über Ziele und Kennzahlen, erfolgt im nächsten Schritt; insbesondere über Strategy Maps und BSCs. Strategiekarten dienen zur Visualisierung der Strategie und BSCs zur Messung dieser über ein ausgewogenes Set an Kennzahlen (Kaplan/Norton 2008b: 10 f, 69 ff).
• Sicherstellung einer gemeinsamen strategischen Ausrichtung:
Ein wichtiger Erfolgsfaktor für PMS ist, dass diese in die Tiefe und Breite der Netzwerkorganisation integriert werden können und eine gemeinsame strategische Ausrichtung der Organisation ermöglichen (Kaplan/Norton 2008b: 11 f, 125 ff).
• Planung von Operationen: In diesem Schritt des PM-Vorgehensmodells des BSC Ansatzes soll eine Verbindung der langfristig orientierten Strategie mit den täglichen operativen Tätigkeiten erfolgen. Ein entsprechendes Maßnahmenpaket (inkl. Ressourcenplanung, Budgets etc.) soll ausgearbeitet werden (Kaplan/Norton 2008b: 13 ff; 157 ff).
• Monitoring und Lernen: s. folgenden Punkt.
• Test und Anpassung der Strategie: Im Verständnis des BSC-Ansatzes als Instrument, das Impulse für kontinuierliches Lernen liefern soll, kommt den beiden letzten Phasen des PM-Vorgehensmodells des BSC Ansatzes große Bedeutung zu. Kaplan/Norton (2008b: 15ff, 221ff) schlagen eine Formalisierung über drei verschiedene Arten von Review Meetings vor:
- operative („Are our operations under control?“),
- strategische („Are we executing our strategy well?“) und
- Strategie-überprüfende und -adaptierende Review Meetings: „Is our strategy working?“)

Das PM-Vorgehensmodell des BSC-Ansatzes ist grundsätzlich positiv zu bewerten, da Kaplan/Norton in ihren konzeptionellen Ausarbeitungen einen Großteil der o.g. Anforderungskriterien integrieren. In einigen Bereichen ergeben sich jedoch Lücken: Die Ausarbeitungen zum BSC-Ansatz liefern etwa nur unzureichend Informationen und Unterstützung in Bezug auf methodische Standards zur Handhabung von Operationalisierungs- und Messproblemen (insbesondere z.B. zum Thema Risikoadjustierung von Kennzahlen). Daher muss an dieser Stelle auf andere Quellen zurückgegriffen werden. Hilfreich ist z.B. der Qualitätsindikatoren-Thesaurus Quinth (GKV Spitzenverband 2012), der eine systematische Abfrage von Qualitätsindikatoren in der ambulanten, stationären und sektorübergreifenden Gesundheitsversorgung ermöglicht (ausführlich dazu Pimperl 2012: 302 ff).


Diskussion und Ausblick
Dem BSC-Ansatz kann grundsätzlich ein positives Urteil als Basis für den Einsatz als PMS für Netzwerke im Gesundheitswesen attestiert werden. Von seiner konzeptionellen Ausgestaltung scheint der Ansatz das Potenzial zu haben, die behandelten Anforderungskriterien zu erfüllen.
Insbesondere der ausgeglichene Blick auf verschiedene Dimensionen der Performance von Netzwerkorganisationen im Gesundheitswesen scheint eine strategieorientierte Einbindung von multiplen Stakeholderbedürfnissen zu erleichtern. Gerade für multisektoral und -professional organisierte Netzwerke im deutschen Gesundheitswesen könnte der BSC-Ansatz daher ein hilfreiches Managementinstrument sein. Dennoch bleiben Fragen für die konkrete Umsetzung im Kontext von Gesundheitsnetzwerken offen. Im speziellen stellt sich die Frage, wie der hier erörterte theoretische Ansatz in die Managementrealität von Netzwerken im Gesundheitswesen transferiert werden kann, welche Herausforderung sich dabei stellen und wie diesen begegnet werden kann. In einem weiteren Artikel, der in der kommenden Ausgabe von MVF erscheinen wird, wird daher exemplarisch anhand einer Fallstudie der Entwicklungs- und Implementierungsprozess eines PMS in einem integrierten Versorgungssystem beschrieben. <<

PDF siehe Archiv, MVF 06/12 (Zugang nur für Abonnenten)

Ausgabe 06 / 2012

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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