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„Eine Herausforderung im Klinikalltag“

28.05.2013 10:30
Zur initialen medikamentösen Therapie von Patienten mit einer venösen Thromboembolie bzw. Lungenembolie (VTE) sind in Deutschland niedermolekulare und unfraktionierte Heparine (NMH und UFH), Fondaparinux oder neue orale Antikoagulanzien (NOACs) zugelassen. Leiden die Betroffenen gleichzeitig unter einer schweren Einschränkung ihrer Nierenfunktion, besteht zumindest bei einigen Wirkstoffen das Risiko einer Akkumulation mit einem daraus folgenden höheren Blutungsrisiko. In Leitlinien und Fachinformationen wird das Problem adressiert - die Umsetzung im Klinikalltag war bisher allerdings nicht untersucht. „Monitor Versorgungsforschung“ sprach mit Professor Dr. Thomas Wilke, dessen Institut (www.ipam-wismar.de) sich dem Thema im Rahmen der nichtinterventionellen Studie „A-TRIP“ unter Unterstützung des Unternehmens Leo Pharma angenommen hatte. Leo Pharma bietet das NMH Tinzaparin („innohep“) an. Wilke beschreibt im Interview einen Zwischenstand der Studie, deren Ergebnisse noch 2013 publiziert werden sollen.

>> Herr Prof. Wilke, wie hoch ist die Inzidenz schwerer Nierenfunktionsstörungen bei Patienten, die akutstationär mit einem VTE-Ereignis in Deutschland behandelt werden?
Dazu gab es bislang überraschenderweise nur sehr rudimentäre  Daten. Es existieren einige allgemeine epidemiologische Untersuchungen zur Relevanz schwerer Nierenfunktionsstörungen, die in der Regel mit einer glomären Filtrationsrate von unter 30ml/min gleichgesetzt wird. So zeigt eine 2006 von Kim et al. publizierte Metaanalyse eine Inzidenz von 9,1 %, das von Monreal et al. (2006) veröffentlichte RIETE-Register zeigt 5,6 %. Zur Real-Life-Behandlung dieser Patienten existierten keine validen Daten.  

Welches Patientenkollektiv konnten Sie untersuchen?
Wir haben in der Studie in fünf deutschen Akutkliniken sämtliche Patientenakten aus den letzten fünf Jahren, die mit einem VTE-Ereignis in Verbindung standen, analysiert. Das waren insgesamt ca. 5.200 stationär behandelte VTEs.

Sie haben in Ihrer Untersuchung den Anteil an VTE-Patienten mit Nierenfunktionsstörungen ermittelt. Wie gingen Sie methodisch vor?
Erst einmal ist wichtig zu sagen, wie wir Nierenfunktionswerte bestimmt haben. Aus den Patientenakten lagen uns Serum-Kreatininwerte vor. Auf deren Basis ist man bei der Bestimmung der GFR auf Schätzformeln angewiesen (sogenannte eGFR - estimated GFR) - das war bei unserer Studie so, ist aber auch nicht anders in der klinischen Praxis. Da gibt es mehr als eine Formel, so dass der ausgewiesene Anteil schwer nierenfunktionsgestörter Patienten auch von der verwendeten Formel abhängt. Wir haben 4 verschiedene Methoden zugrunde gelegt: MDRD (Modifikation of Diet in Renal Disease); Ansatz von Cockcroft Gault; Ansatz von Cockcroft Gault an den BMI angepasst, CKD-EPI (Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration).
Hinzu kommt, dass mehrere Nierenfunktionswerte während eines stationären Aufenthaltes vorliegen sollten - die Frage ist auch hier, ob wir von Punktinzidenz (mindestens eine eGFR <30 ml/min) oder von in der Literatur so bezeichneter persistenter schwerer Nierenfunktionsstörung (eGFR <30 ml/min für mindestens 72 Stunden) sprechen. Wiederum haben wir beide Szenarien analysiert.

Wie stark waren die Nierenfunktionsstörungen in dem Patientenkollektiv, das Sie untersuchen konnten, ausgeprägt?
Je nach Schätzmethode weisen ca. 40 bis 55 % der VTE-Patienten an mindestens einem stationären Aufenthaltstag eine mäßig eingeschränkte Nierenfunktion (eGFR <60 ml/min) auf; nach verbreiteter Meinung und Fachinformationen (FI) ist dies eine Region, in der die Antikoagulation nur noch vorsichtig anzuwenden ist. Mindestens 5 % der VTE-Patienten weisen eine schwere Nierenfunktionsstörung (eGFR <30 ml/min) auf, davon ca. ein Drittel mit einer eGFR <15ml/min. Ca. 30-50 % der schweren Nierenfunktionsstörungen können als persistent bezeichnet werden, was nicht bedeutet, dass die anderen irrelevant sind. Akkumulation von mindestens täglich verabreichten Antikoagulanzien ist ganz entscheidend von der Nierenfunktion des konkreten Tages abhängig.

Wie wird sich die Zahl der Patienten mit Nierenfunktionsstörungen Ihrer Einschätzung nach künftig entwickeln?
Patienten mit einer mindestens mäßig eingeschränkten Nierenfunktion (eGFR < 60 ml/min) waren in unserer Studie durchschnittlich 15 Jahre älter als Patienten, deren Nierenfunktionsbereich >60 ml/min war. Es ist bekannt, dass der durchschnittlich behandelte Patient, und ganz sicher auch VTE-Patient, in den nächsten Jahren älter wird; nahezu automatisch steigt damit die Relevanz des Nierenfunktionsthemas.

Worauf ist bei der initialen medikamentösen Therapie von Patienten mit Nierenfunktionseinschränkung zu achten?
Ich bin Versorgungsforscher und kein Kliniker, insofern kann ich nur wiedergeben, was Leitlinien und Fachinformationen empfehlen. Für VTE-Patienten mit schwerer Nierenfunktionsstörung (eGFR <30ml/min) lassen sich bezüglich der initialen Antikoagulationstherapie, je nach eingesetztem Wirkstoff, folgende Fachinformationsempfehlungen ableiten:
• Kontraindiziert bzw. Anwendung nicht empfohlen (Certoparin, Nadroparin, Reviparin, Fondaparinux),
• Anwendung ab einer GFR <15 ml/min nicht empfohlen (Rivaroxaban),
• Überwachung der anti-Xa-Aktivität (Tinzaparin, Dalteparin),
• Überwachung der anti-Xa-Aktivität und Dosisreduktion auf ½ der normalen gewichtsdaptierten Dosis (Enoxaparin),
• Präzise Kontrolle der Antikoagulationswerte durch Messung der „aktivierten partiellen Thromboplastinzeit (aPTT)“ (UFHs).

Wird im klinischen Alltag diesen Empfehlungen gefolgt?
Im Detail muss ich hier noch um etwas Geduld bitten, denn wir werten gerade unsere Studiendaten aus - diese sind noch nicht publiziert. Soviel aber schon vorab: Es scheint eine Herausforderung im Klinikalltag zu sein, den obigen Empfehlungen zu folgen - ein ganz bedeutender Anteil der Patienten erhält aktuell eine Therapie, die nicht FI-konform ist.

Welche möglichen Konsequenzen kann dies für die Patienten haben.
Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass eine schwere Nierenfunktionseinschränkung zu einer erhöhten Akkumulation von (zumindest) einigen NMHs führt (unter anderem Nagge et al. 2002; Krawitz et al. 2005; Crowther and Lim 2007; Lim 2008; Spencer et al. 2009; Schmidt et al. 2009). Insbesondere für die Anwendung von Enoxaparin liegen auch Untersuchungen vor, die auf ein erhöhtes Blutungsrisiko für Patienten mit schwerer Nierenfunktionseinschränkung hinweisen, zumindest soweit diese eine nicht-angepasste therapeutische Dosierung erhalten (Lim et al. 2006; Barras et al. 2008; Lim 2008; Barras et al. 2010a). Es ist also das Blutungsrisiko, das bei zu hoher Dosierung und Akkumulation steigt, zum anderen ist es das Rezidivrisiko eines VTE-Ereignisses, das bei nicht hinreichender Antikoagulationstherapie erhöht ist.

Gibt es eine Möglichkeit, die Patienten mit geringem Aufwand vor diesen möglichen Risiken zu schützen?
Fachinformationen umzusetzen ist sicher im Klinikalltag nicht einfach, aber praktische Probleme können kein Grund sein, Arzneimittel nicht fachinformationskonform einzusetzen: bei unserem Thema geht es um die Auswahl richtiger Medikamente, ihre richtige Dosierung (teilweise mit begleitender Gewichtsmessung der Patienten) und begleitende Laboruntersuchungen. Kommt ein Krankenhaus zum Ergebnis, dass die begleitenden Prozesse bei der Arzneimittelgabe, also z.B. eine verlässliche, nicht auf Schätzungen basierende Gewichtsmessung jedes Patienten, eine regelmäßige Nierenfunktionsmessung nebst Prüfung der Arzneimittelgabe/-dosis vor dem Hintergrund der Nierenfunktionswerte, nicht darstellbar sind, muss es Prozesse anpassen. Das kann auch der Einsatz anderer Arzneimittel sein, die weniger kontrollaufwendig sind, wenngleich Gewichts- und Nierenfunktionswertmessungen bei diesem Patientenklientel nicht vermeidbar sein werden.


Herr Prof. Wilke, Danke für das Gespräch.
Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier..

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Interview: siehe auch Archiv, MVF 05/13 (Zugang nur für Abonnenten)

Ausgabe 05 / 2013

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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