Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen 2017 MVF 02/17 Hebel zur Bekämpfung der Fehlversorgung
x
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Hebel zur Bekämpfung der Fehlversorgung

03.04.2017 14:00
Mit welchen Maßnahmen lässt sich die medizinische Unter- und Überversorgung steuern? Dieser Frage gehen zehn Wissenschaftler in der Zeitschrift „The Lancet“ nach. Ihre Arbeit ist der vierte und letzte Teil einer Serie zum Thema „richtige Gesundheitsversorgung“. Die Autoren identifizieren darin einige Hebel, die sowohl effektiv als auch politisch praktikabel sein sollen, und zwar in ganz unterschiedlichen Gesundheits- und Staatssystemen. Dazu zählt etwa die Stärkung des Patienten durch Entscheidungshilfen. Ihrer Ansicht nach reicht es nicht aus, an der einen oder anderen Stelle der Versorgungskonzepte herumzubasteln, nachdem eine Über- oder Unterversorgung aufgetreten ist. Vielmehr sprechen sie sich für eine frühzeitige und strukturierte Herangehensweise aus, die den lokalen Bedarf der einzelnen Länder sowie die sozioökonomischen Faktoren berücksichtigt.

http://doi.org/10.24945/MVF.02.17.1866-0533.2012

>> Gleich zu Beginn des Papers stellen die Verfasser zwei gegensätzliche Herangehensweisen vor, mit denen eine ausgewogene Gesundheitsversorgung erreicht werden kann. Als ersten nennen sie den „Bottom-up“-Ansatz, bei dem Patienten, klinische Fachkräfte und sogenannte „System Leader“ eine proaktive Führungsrolle übernehmen, ohne dass sich das Management in ihre Tätigkeit einmischt. Bei dem zweiten Ansatz handelt es sich um eine „Top-down“-Methode. Diese sei aufgekommen, als Regierungen, medizinische Verbände und private Kostenträger der Herausforderung gegenüberstanden, die
Sicherheit und die Qualität der Gesundheitsversorgung angesichts des wachsenden Kostendrucks zu verbessern.
Die Autoren beschreiben daraufhin das Ziel, das alle Gesundheitssysteme anstreben. Sie operieren dabei mit der Definition der WHO: Die Weltgesundheitsorganisation erklärte 2016  eine flächendeckende Gesundheitsversorgung (universal health care coverage – UHC) zum Ziel. UHC bedeutet nach der WHO-Definition, dass alle Menschen zu den benötigten gesundheitsfördernden, präventiven, kurativen und rehabilitativen Gesundheitsdienstleistungen Zugang haben und dass diese Services im Hinblick auf ihre Wirkung eine ausreichende Qualität haben, während gewährleistet ist, dass die Menschen nicht in eine finanzielle Notlage geraten, wenn sie dafür bezahlen müssen.
Die Verfasser betonen vorab, dass kein einzelner Hebel eine universelle Abhilfe zur Vermeidung der Fehlversorgung darstelle. Darüber hinaus hätten viele Maßnahmen nur eine geringe (wenn auch wachsende) Evidenzbasis bezüglich ihrer Effektivität. Um die richtige Versorgung sicherzustellen, müssten mehrere Hebel auf verschiedenen Ebenen zum Einsatz kommen: von den Patienten bis hin zu den politischen Entscheidungsträgern, unter Berücksichtigung der kontextuellen Faktoren. Ein Kern-element zur Beseitigung der Überversorgung in der Zukunft sei eine vorherige Abschätzung der geplanten Maßnahmen noch vor der flächendeckenden Einführung oder als Teil des Rollouts. Ebensowichtig seien das Monitoring und die Evaluation.

Patienten, Gesellschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen

Das demokratische Engagement sei ein wesentlicher Hebel für Veränderungen, konstatieren die Verfasser. Die Patienten und die breite Öffentlichkeit sollten in die Bemühungen zur Verbesserung der Versorgung einbezogen werden. Ihre aktive Beteiligung könne die Legitimität bei der Priorisierung der Investitionen in die Gesundheitsversorgung erhöhen – von der Infrastruktur bis hin zu speziellen Services.
Drei grundsätzliche Methoden nennen die Autoren zur Beteiligung der Patienten und der Öffentlichkeit: Die erste besteht darin, ein Umfeld zu schaffen, das die Reduktion der Nachfrage an niederwertigen Dienstleistungen begünstigt, und zwar durch adäquat informierte Patienten. Zum einen übten die Erwartungen und die Nachfrage der falsch informierten Patienten Druck auf die Ärzte aus, die daraufhin eine niederwertige Versorgung anböten. Dieser Druck würde durch das Direct-to-Consumer-Marketing erhöht. So übertrieben beispielsweise die Kliniken den medizinischen Nutzen der beworbenen Behandlungen, wie etwa der Protonenstrahlentherapie bei Prostatakrebs. Die Bereitstellung der evidenzbasierten Information von vertrauenswürdigen Organisationen, die keine Interessenkonflikte haben, sei besonders in diesem Zusammenhang maßgeblich.
Zweitens sei die vom Arzt und Patient gemeinsam getroffene und evidenzbasierte Entscheidung aus klinischen sowie ethischen Gründen wichtig. Bei der Therapiewahl handele es sich häufig um heikle Angelegenheiten. Jede Wahl beinhalte jeweils ein anderes Nutzen- und Risikoprofil. Eine exzellente Kommunikation des evidenzbasierten Nutzens und der Risiken im SDM-Prozess könne Überdiagnose, Über- und Unterbehandlung reduzieren sowie die Präferenzen der informierten Patienten mit der Behandlungswahl in Einklang bringen.
Die dritte Methode besteht in der Beteiligung von Patienten und Öffentlichkeit an politischen Entscheidungen, auch wenn zuverlässige Evaluationen über deren Nutzen noch fehlten. Viele Länder bezögen zunehmend Patienten und Öffentlichkeit in das Health Technology Assessment (HTA) und Versorgungs-Entscheidungen mit ein. Begründet werde dies mit der Verbesserung der Legitimität und Akzeptanz von politischen Entscheidungen. Allerdings gebe es keinen Konsens darüber, welche Gründe für diese Einbeziehung am wichtigsten sind, welche Personen in welchen Prozess einbezogen werden sollten, welches Gewicht sie im Entscheidungsprozess erhalten und wie potenzielle Interessenkonflikte angegangen werden sollten.

Medizinische Fachkräfte und Fachverbände

Medizinische Fachkräfte sollten sich an der evidenzbasierten Entwicklung und Implementierung von Richtlinien beteiligen, schreiben die Wissenschaftler. Klinische Praxis-Richtlinien (clinical practice guidelines – CPG) sind systematisch entwickelte Anweisungen, die dem Arzt und dem Patienten eine Hilfestellung bei der Entscheidung bieten, eine bestimmte Behandlung in einer spezifischen Situation zu finden.  Die Mehrheit der CPG sei von medizinischen Fachverbänden, staatlichen Institutionen und Non-Profit-Organisationen entwickelt worden. Wenn die Empfehlungen für die Richtlinien in einem strukturierten evidenzbasierten Prozess entwickelt werden und von den Medizinern sorgfältig angewendet werden, könne dies zum gesteigerten Einsatz von richtigen Behandlungen und der Abnahme von Fehlbehandlungen führen. Darüber hinaus verbesserten sich die Outcomes.
Allerdings stellten Studien eine beträchtlichen Variabilität in dem Ausmaß der Verbesserungen im Zusammenhang mit den CPG fest. Die Implementierung der CPG-Strategien  müsse an die spezifischen medizinischen Bedingungen angepasst werden, mit Berücksichtigung der möglichen Veränderungshindernisse, die in jedem Kontext identifiziert werden sollten.
Insgesamt zeige die Evidenz, dass kein Ansatz zur Überführung der medizinischen Richtlinien in die Praxis in allen möglichen Situationen effektiv sei. Patienten mit multiplen Komorbiditäten könnten beispielsweise Empfehlungen aus verschiedenen CPG benötigen, ohne dass eine klare Anleitung da wäre, wie die Interventionen priorisiert werden sollten, die potenziell zur Überbehandlung führen könnten.
Auf zwei Probleme weisen die Verfasser in diesem Zusammenhang noch hin. Erstens gebe es große Lücken sowie Bias in der Evidenz hinsichlich des Potenzials der CPG. Darüber hinaus enhielten viele Richtlinien Empfehlungen mit einem fragwürdigen Wert für den Patienten. Dies sei das Ergebnis der Einflussnahme der Industrie. Zum einen sollten also mehr Studien mit der Evidenzebene A angesetzt werden, um die Evidenzlücke zu schließen. Zum anderen sollte versucht werden, die Bias zu reduzieren, die den Interessenkonflikten geschuldet sind.
Ein weiteres Problem sei die steigende Zahl der Definitionen von Krankheiten, die zusätzliche Forschung erforderten. Es gebe einen dringenden Bedarf für einen unvoreingenommenen und evidenzbasierten Umgang mit Definitionen von Krankheiten. Bislang seien keine globalen Regeln aufgestellt oder Sachverständige identifiziert worden, um die Entwicklung von neuen Krankheitsdefinitionen zu überwachen, kritisieren die Autoren. Eine solche Institution sei aber notwendig, um die steigende Zahl der  Überdiagnosen und der daraus resultierenden Überbehandlungen zu überwachen.

System-Leader

System-Leader werden als Verwaltungsbeamte sowie Beamte in Exekutivpositionen von regierungsunabhängigen Institutionen (z. B. Sicherheits- und Qualitätskommissionen). Dazu zählen die Autoren auch Nicht-Regierungsorganisationen private Leistungsträger sowie Versicherer. Die Rolle der System-Leader auf dem Weg zur richtigen Versorgung sei umfangreich.
Alle Ebenen der Versorgung könnten von einer umfassenden regional intergrierten HIT-Infrastruktur profitieren (Health Information Technology), die mit mit Electronic Health Records (EHR) und elektronischer Arzneimittelverordnung (computerised physicial order entry systems – CPOE) ergänzt wird, sind die Verfasser überzeugt. EHR mit CPOE-Design könnten beispielsweise Analysen klinischer Behandlungspfade enthalten, Informationen zu den Kosten oder eine Sicherheitsüberprüfung von Bestellungen. Viele HIT und EHR hätten mittlerweile solche Entscheidungstools, von denen alle zur Verbesserung der Versorgung genutzt werden können.
Derzeit zeigten einzelne Studien allerdings nur wenig Einfluss der EHR auf die Verbesserung der Versorgungsqualität. Ein systematisches Review identifiziere auch 19 Studien zum Einfluss der CPOE auf Labortests. Die CPOE-Systeme (mit und ohne Entscheidungsunterstützung) zeigten einen allgemeinen Trend hin zur Reduzierung des Testumfangs und der Kosten. Diese positiven Ergebnisse sollten berücksichtigt werden.
Darüber hinaus genieße derzeit die Strukturierung finanzieller Anreize und Vergütungs-Richtlinien eine erneute internationale Aufmerksamkeit. Dabei wird die Vergütung mit einigen Aspekten der Qualität gekoppelt. Die System-Leader führten außerdem derzeit Initiativen durch, die eine schnelle Einführung von hochwertigen Innovationen fördern, die potenziell niederwertige Gesundheitsdienstleistuntgen ersetzen könnten.

Politische Entscheidungsträger

Um die System-Leader zu mobilisieren, werde die Unterstützung oder auch ein entsprechender Auftrag von höchster politischer Ebene benötigt. Diese Mobilisierung seitens der Politik sei entscheidend zur Umsetzung von allen Strukturreformen von Anfang bis zur Implementierung, vor allem wenn eine breite Zustimmung der Stakeholder, große Investitionen in die Infrastruktur oder Gesetzesänderungen benötigt werden.
Die Autoren plädieren in diesem Zusammenhang für systematische Priorisierungsprozesse. Diese stellten eine Kernvoraussetzung für Länder dar, die eine hochwertige Versorgung anstreben.
Das Fazit der Autoren lautet: Es muss dringend gehandelt werden, um die Gesundheitsversorgung und auch die Evidenz zu verbessern. Neben den bestehenden Abhilfen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung müssen neue entwickelt werden. „Wir müssen einsehen, dass wenn das Ziel darin besteht, die Gesundheit zu verbessern, die Gesundheitssysteme an die lokalen Bedarfe und sozioökonomischen Verhältnisse angepasst werden müssen“. <<
von: Olga Gilbers

„The Lancet“-Links

Online-Version
January 8, 2017 http://dx.doi.org/10.1016/
S0140-6736(16)32588-0

Online-Kommentar
http://dx.doi.org/10.1016/S0140-736(16)32570-3 und http://dx.doi.org/10.1016/S01406736(16)32573-9

Online-Serie
http://dx.doi.org/10.1016/S0140-736(16)32585-5,
http://dx.doi.org/10.1016/S0140-736(16)30946-1,
http://dx.doi.org/10.1016/S0140-736(16)30947-3,
http://dx.doi.org/10.1016/S0140-736(16)32586-7

Zitationshinweis: doi:10.24945/MVF.02.17.1866-0533.2012

Ausgabe 02 / 2017

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

Gemeinsamer Priorisierungskatalog

« Dezember 2022 »
Dezember
MoDiMiDoFrSaSo
1234
567891011
12131415161718
19202122232425
262728293031