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Einführung eines F-&E-Budgets bei den Krankenkassen sowie begleitende Health Impact Bonds*

03.04.2017 14:00
Die Kosten in der Anlaufphase sind eine der größten Hürden für den Aufbau innovativer Versorgungsformen. Die damit verbundenen Risiken für die Beitragssatzstabilität können Krankenkassen von entsprechenden Investitionen abhalten. Deshalb hat der Gesetzgeber 2015 mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) die Einrichtung eines Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossen. Von 2016 bis 2019 stehen jährlich 225 Mio. Euro für die Förderung innovativer Versorgungsformen und weitere 75 Mio. Euro jährlich für die Förderung der Versorgungsforschung zur Verfügung. Die Schaffung eines Fonds, der die Anschubkosten für innovative Versorgungsformen trägt, erscheint aufgrund der strukturellen Zwänge, vor die der Preiswettbewerb die Krankenkassen stellt, als sinnvoll. Diese Zwänge dürften auch dann nicht gegenstandslos werden, wenn es gelingt, durch mehr Qualitätstransparenz den Kassenwettbewerb stärker an Versorgungsaspekten auszurichten. Als problematisch könnte sich allerdings herausstellen, dass die Verteilung der Fördergelder wesentlich von den Selbstverwaltungsakteuren bestimmt wird, die sich sehr gut in den überkommenen Strukturen des deutschen Gesundheitswesens eingerichtet haben. In jedem Fall problematisch dürfte die Befristung auf drei Jahre sein. Es steht zu befürchten, dass sich der Innovationsfonds genauso als „one-hit-wonder“ entpuppen wird, wie auch die Anschubfinanzierung für die Integrierte Versorgung von 2004 bis 2008. Diese führte zu einem steilen Anstieg der Zahl der Integrationsverträge, der nach dem Auslaufen der Regelung aber keine relevante Fortsetzung mehr fand. Vor diesem Hintergrund halten wir als Anschlussmaßnahme die Schaffung eines eigenen, dauerhaften Forschungs- und Entwicklungs-Budgets zur Förderung von neuen Versorgungsformen für erforderlich. Ein solches Budget sollte für jede Krankenkasse existieren, damit die Entscheidungen, in welche innovativen Versorgungsstrukturen Finanzmittel fließen, im Wettbewerb erfolgen können.

Ein derartiger Ansatz würde Anreize für einen Innovationswettbewerb unter den Krankenkassen setzen und dürfte in seinen Auswirkungen auf die Versorgungsstrukturen deutlich nachhaltiger sein als die Vergabe von Fördergeldern durch einen zentralen „Innovationsausschuss“, wie sie mit dem Innovationsfonds erfolgen soll. Zur Einführung und Ausgestaltung eines solchen dezentralen FuE-Budgets haben Albrecht u. a. (2015) im Rahmen des von ihnen entwickelten „IGES-Konzept für einen stärker versorgungsorientierten Wettbewerb der Gesetzlichen Krankenversicherung“ zielführende Vorschläge gemacht. Durch die Kombination aus Qualitätstransparenz und Innovationskapital, über das die Krankenkassen selbst verfügen können, würden die Bedingungen für einen versorgungsorientierten Wettbewerb unter den Krankenkassen deutlich verbessert. Allerdings wäre auch dann die Frage noch nicht gelöst, wie die entwickelten Lösungen die Regelversorgung verändern können. Sonderlösungen (der Gesetzgeber hat dem leider durch die Veränderung der Integrierten Versorgung nach § 140 a hin zur „Besonderen Versorgung“ sogar semantisch einen gewissen Vorschub geleistet) erfahren immer das Problem, dass im Zweifelsfall doch wieder diejenige Lösung den Kopf der Leistungsanbieter beherrscht, die für die Mehrheit der Patienten gilt. Da sich in der Versorgungsrealität die Patienten aber auf eine Vielzahl von Krankenkassen aufteilen, ist eine solche Mehrheit für Sonderlösungen nur erreichbar, wenn außer der jeweiligen AOK möglichst auch noch zwei bis drei weitere Ersatzkassen und die evtl. örtlich dominierende BKK das gleiche Sondervertragsmodell unterstützen. Angesichts des stark in Richtung Marketing und Alleinstellungsmerkmale ausgerichteten Wettbewerbs der Kassen untereinander bietet aber auch ein erfolgreicher Nachweis der Kosten-Nutzen-Überlegenheit einer neuen Versorgungsform keine ausreichende Gewähr dafür, dass sie sich nun flächendeckend und für alle Patienten versorgungsbestimmend durchsetzt. Um Versorgungsinnovationen von der Sonderlösung weg zur mehrheitsbestimmenden „Regellösung“ zu machen, halten wir zwei Instrumente für erörterungswürdig:
1. Landkreise und kreisfreie Städte erhalten das Recht, die Gesundheitsversorgung ihrer Bürgerinnen und Bürger regionalen Gesundheitsunternehmen anzuvertrauen und die Krankenkassen zu verpflichten, regionale Konsortien bilden, die dann gemeinsam und einheitlich einen Vertrag mit dem jeweiligen Unternehmen abschließen. Diese Verträge sind schiedsamtsfähig, um auch bei Blockadeversuchen durchgesetzt werden zu können. Hier greifen wir auf Überlegungen von Tophoven und Gibis zurück für Patienten mit komplexen Erkrankungen und erweitern diese auf die Gesamtheit der GKV-Population einer Region.
2. Die Bundes- und die Landesaufsicht über die Krankenkassen wird von einer aktuell eher restriktiven Form zu einer eher progressiv anfordernden Form weiterentwickelt. Krankenkassen müssen gegenüber der Aufsicht mittels entsprechender Kalkulationen erläutern, weshalb sie ihnen angebotene integrierte Vertragsformen nicht angenommen haben. Voraussetzung: Diese Vertragsformen haben mittels externer Evaluationen Nachweise für einen positiven Gesundheitsnutzen für die Versicherten bei zumindest mittelfristiger Kosteneffektivität gezeigt.

Dies sind bisher nur Denkmodelle. Wir halten die Diskussion über diese und vielleicht noch weitere Instrumente aber für dringend erforderlich. Als weitere Unterstützung der Start-Up-Finanzierung und ergänzend zu diesen Forschungs- und Entwicklungs-Budgets innerhalb der Krankenkassen halten wir es für sinnvoll, das angelsächsische Konzept der Social Impact Bonds aufzugreifen, hier jetzt dann besser als „Health Impact Bonds“ zu bezeichnen. Damit könnte privates Kapital für die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt nutzbar gemacht werden, Kapital das angesichts der demografischen Herausforderungen dringend benötigt wird (ausführlicher unter „Stiftungen und Sozialinvestoren“).



Reorganisation der Gesundheitsberufe und ihrer Zusammenarbeit sowie die Verknüpfung der Sozialleistungsträger
Schon 2007 hat sich der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen für eine Ausweitung der Kooperation der Gesundheitsberufe ausgesprochen und in diesem Zusammenhang eine „Neuordnung der Aufgabenverteilung im Gesundheitswesen“ angeregt. Diese aber steht nach wie vor aus. Höppner und Igl kritisieren in ihrem Beitrag, dass derzeit die Kooperation zu sehr unter dem Aspekt der Arztentlastung diskutiert werde. Dies spiegele die Arztzentriertheit des deutschen Gesundheitssystems. Diese mache sich auch darin bemerkbar, dass Versorgungsinnovationen nur selten unter Beteiligung der Gesundheitsfachberufe stattfinden würden. „Auch die seit den 1990er Jahren gegebenen gesetzlichen Anreize, z. B. integrierte Versorgung, Medizinische Versorgungszentren, Disease-Management-Programme oder Modellvorhaben (§ 63 SGB V) spielen für ‚nicht-ärztliche‘ Berufe eine zu vernachlässigende Rolle.“ Als wichtigsten Ansatzpunkt für mehr Kooperation zwischen den Berufen identifizieren sie die Ausbildung. In den Ausbildungseinrichtungen müssten die Voraussetzungen für interdisziplinäre Kompetenzen geschaffen werden, dazu sind zukünftig Module vorzusehen, in denen gemeinsam mit Studierenden und Auszubildenden anderer Gesundheitsberufe gelernt wird.
Darüber hinaus seien Änderungen im Berufsrecht und im Sozialversicherungsrecht erforderlich. Wir halten diesen Ansatz für richtig. Ohne eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen allen Gesundheitsberufen werden die veränderten Anforderungen an die Versorgung nicht zu bewältigen sein. Neue Berufszuschnitte, Fragen der interdisziplinären Zusammenarbeit, veränderte Anforderungen an Aus-, Fort- und Weiterbildung einschließlich der Finanzierung der Ausbildung und gemeinsamer Ausbildungsteile („Interdisziplinärer Gesundheitscampus“) sowie die Entwicklung multiprofessionell abgestimmter Leitlinien sind entscheidend für die „Integrationsfähigkeit“ des deutschen Gesundheitswesens. Das positive Beispiel der Unfallversicherung mit ihren Reha-Beratern und dem kompletten Versorgungssystem, das – so Oberscheven – zunehmend auch IT-technisch integriert wird, zeigt, welche Chancen aus berufsgruppenübergreifenden Lösungen entwickelt werden können.
Damit diese Fragen die ihnen zustehende Aufmerksamkeit auch jenseits von Betroffenen- und Expertenkreisen erhalten, sollte der nächste Deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission zur „Zukunft der Gesundheitsberufe und ihrer Integration“ einsetzen.
Neben der grundsätzlichen Neuorientierung der Ausbildung geht es aber auch im praktischen Zusammenarbeiten und der sozialversicherungsträgerübergreifenden Integration um eine Neuorganisation. Tophoven und Gibis schlagen vor, im Rahmen der Weiterentwicklung von Medizinischen Versorgungszentren zu multiprofessionellen Einrichtungen auch eine stärkere Verknüpfung von Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung zu prüfen. Dabei denken sie an Patientengruppen mit komplexen Bedarfen. Denken ließe sich solch ein Ansatz aber auch für ganze Populationen und für die Einbeziehung weiterer Sozialleistungsträger (vgl. dazu die Ausführungen von Klie, von Oberscheven sowie Seiter und Schwarz in diesem Buch). Diese Aufgabe kann allerdings nicht der Initiative einzelner regionaler Zusammenschlüsse überlassen bleiben, hier ist auch der Gesetzgeber gefordert. Der Integration von Versorgungsformen über Sozialleistungträgergrenzen hinweg stehen insbesondere die unterschiedlichen Strukturbedingungen in den Sozialleistungssystemen entgegen. Während innerhalb der GKV die Krankenkassen im Wettbewerb zueinander stehen, findet in der Pflegeversicherung kein Wettbewerb statt, da sowohl der Beitragssatz als auch das Leistungsangebot vollständig gesetzlich vorgegeben sind und die Pflegekassen über keine wesentlichen Vertragsspielräume verfügen. In den anderen Sozialversicherungssystemen wiederum gibt es keine Trägervielfalt und sind die Strukturen monopolistisch geprägt. Diese Unterschiede erschweren die Zusammenarbeit und machen sie vielfach unmöglich. Hier sind dringend Lösungen erforderlich, die z. B. bei dem Erreichen von bestimmten Prozentsätzen der Abdeckung der regionalen Bevölkerung mit einem Selektivvertrag (z. B. über 40 % der Bevölkerung) dann auch Anschlussmöglichkeiten aller Pflegekassen bzw. anderer Sozialleistungsträger an einen solchen Vertrag schiedsamtfähig befördern (auch gegen den Widerstand der nicht beteiligten Krankenkassen). Ein Monitoring und eine laufende Evaluation und Berichterstattung der Erfolge solcher berufsgruppen- und sozialleistungsträgerübergreifender Lösungen sollte von vornherein mit eingeplant werden. Auch bei dem Innovationsfonds sollten solche, das SGB V übergreifende Versorgungsmodelle förderfähig sein.
Regionalisierung der Organisation und Steuerung der Gesundheitsversorgung
Luthe (2013) sieht in den letzten zwei Jahrzehnten „eine Öffnung der Perspektive von Krankenbehandlung zu umfassender ‚integrierter‘ Gesundheitsfürsorge“. Damit verbunden sei eine größere Aufmerksamkeit für die jeweiligen sozialräumlichen Bedingungen, aber auch für die Bedeutung des individuellen Verhaltens für den Erhalt oder die Wiederherstellung von Gesundheit. Weder das eine noch das andere sei aber über zentralstaatliche Steuerungsprozesse zu beeinflussen. In der Folge käme es einer zunehmenden „Kommunalisierung von Prozessen“. Dieser Befund ist auch für die Koordination und Integration der Gesundheitsversorgung von eminenter Bedeutung. Selbstverständlich brauchen Angebote der Schwerpunkt- und Spezialversorgung überregionale Koordination und Planung; doch Förderung von Prävention und Gesundheitserhaltung, die medizinische Primärversorgung und Strategien zur Bewältigung von Schnittstellenproblemen zwischen den diversen Sektoren müssen sich auf die jeweilige Umgebung beziehen. Integration der Gesundheitsversorgung bedeutet eben auch die Einbettung gesundheitlicher Versorgung in die Strukturen der Daseinsvorsorge, wie sie insbesondere kommunal ausgestaltet werden. Die in diesem Band in verschiedenen Beiträgen geforderte Regionalisierung und Kommunalisierung findet hier ihre Begründung. Damit verbunden ist die Frage, wie sich im Bereich der Gesundheitsversorgung mehr Strukturverantwortung für Kommunen realisieren lässt, ohne in gesundheitspolitische „Kleinstaaterei“ zu verfallen. Dieses Thema ist auch in der Gesetzgebung angekommen. So ist die Stärkung der Rolle der Kommunen in der Pflege erklärtes Ziel des Dritten Pflegestärkungsgesetzes (PSG III), das 2016 beschlossen wurde. Verbesserungspotenzial sieht der Gesetzgeber bei der Koordination, Kooperation und Steuerung der Pflege. Vorgesehen sind der Ausbau und die bessere Verzahnung der kommunalen Beratungsmöglichkeiten und die Beteiligung der Kommunen am Auf- und Ausbau niedrigschwelliger Angebote. Die Länder erhalten darüber hinaus die Möglichkeit, zur Pflegestrukturplanung regionale Pflegeausschüsse und sektorenübergreifende Landespflegeausschüsse einzurichten. Ob sich diese Instrumente bewähren und für den Bereich der Pflege ausreichend sind, wird abzuwarten sein. Die eher skeptische Sichtweise von Klie mündet in der Hoffnung, dass am ehesten noch Systemwirkungen zu erwarten sind, wenn die Kommunen die Regiefunktion für die Steuerung im Bereich der Langzeitpflege und damit mittelbar auch in der geriatrischen Rehabilitation übernehmen. Allerdings verbindet er diese Hoffnung mit drei Bedingungen: die notwendigen Kooperationsstrukturen müssen aufgebaut, eine entsprechende Governance entwickelt und Care und Case Managementarbeitsweisen bei allen Beteiligten implementiert worden sein.
Im Bereich der Gesundheitsversorgung haben seit 2015 die Kommunen die Möglichkeit, selber zu Trägern für Medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu werden. Damit haben sie auch die Möglichkeit, sich über „ihr“ MVZ an Verträgen zur Integrierten Versorgung zu beteiligen. Auch hier wird abzuwarten sein, inwieweit diese neue Option von den Kommunen ergriffen wird, wie sich die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassenvertreter in den Zulassungsausschüssen dazu stellen werden und welche Erfahrungen Kommunen mit unterschiedlichen Governanceformen in diesem neuen Business-Umfeld machen. Mit den aktuell in Verabschiedung befindlichen Landesrahmenvereinbarungen zur Umsetzung der nationalen Präventionsstrategie (§ 20f SGB V) ergeben sich weitere Spielräume für die Kommunen, hier im Besonderen im Bereich der kommunalen Prävention. Kuhn und Trojan gehen auf die Hintergründe und Historie (etwa in dem Bereich des Gesunde-Städte-Netzwerks und der kommunalen Gesundheitsberichterstattung) genauso ein wie auf die neueren Initiativen etwa die Präventionsketten und die „Integrierten kommunalen (Präventions-) strategien“ sowie die „kommunalen Gesundheitskonferenzen“.
Als besondere Herausforderung stellt sich bei letzteren jeweils die Frage, wie sich aus einem Diskussionsgremium ein Akteur entwickeln lässt. Die unterschiedlichen, zum Teil auch wettbewerblich gegeneinander ausgerichteten Eigeninteressen der Institutionen können das Gemeinwohlinteresse auch behindern. Wenn dann aber ein Akteur gefunden wurde, der ein Interesse an einer spezifischen Verbesserung hat, nehmen wir einmal das Beispiel einer gezielten Adipositasprävention bei schwangeren Frauen mit dem Ziel der Risikominderung für Schwangerschaftskomplikationen und spätere adipöse Kinder, dann entsteht häufig das Problem, das ein damit einhergehender gesamtgesellschaftlicher Nutzen sich auf viele Systeme verteilt (in unserem Beispiel auf Kranken-, Rentenversicherung, Sozialhilfeträger, Schule etc.) und niemand das Investment dafür aufbringen will. Die Koordination und Kooperation der verschiedenen Akteure stellt damit auch in diesem Handlungsfeld eine Herausforderung dar. Schon seit 2012 können die Länder ein „Gemeinsames Landesgremium“ für sektorenübergreifende Versorgungsfragen (§ 90a SGB V) einrichten, bestehend aus Kassenärztlicher Vereinigung, Krankenkassen und Landeskrankhaus-Gesellschaft sowie weiteren Beteiligten, wie z. B. den kommunalen Spitzenverbänden. In den meisten Ländern existiert ein solches Gremium mittlerweile.
Allerdings handelt es sich bisher lediglich um ein Beratungsgremium. Die Gesundheitspolitische Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung hat 2013 eine Weiterentwicklung vorgeschlagen. Das Gremium soll dem Land vorschlagen können, bei bestehender oder drohender Unterversorgung die Versorgung der Region gegen eine direkte Finanzierung aus dem Gesundheitsfonds entsprechend den dieser Population zustehenden Zuweisungen auszuschreiben. Für diese Ausschreibung könnten sich dann auch regionale Gesundheitsnetze, Ärztegruppen, multiprofessionelle Teams, Krankenhäuser und andere mögliche Träger der Integrierten Versorgung bewerben. Weitergehend zu erwägen wäre auch, dass Kommunen das Recht erhalten, den Vertragsabschluss mit bereits bestehenden regionalen Versorgungsnetzen für alle Krankenkassen verbindlich zu machen.
Ein Blick über die Grenzen kann da hilfreich sein. So beschreibt Nolte die Initiativen in verschiedenen europäischen Ländern regionale Systeme mit anderen Vergütungsstrukturen zu implementieren. Schulte, Pimperl, Hildebrandt und Bohnet-Joschko befassen sich mit der erstaunlichen Vervielfältigung der US-amerikanischen „Accountable Care Organizations“. Diese regionalen Versorgungsmodelle wurden zwar primär von dem staatlichen Medicare-Krankenkassensystem der USA entwickelt, inzwischen sind aber immer mehr auch private Krankenkassen dazu übergegangen, ACOs unter Vertrag zu nehmen. Aus diesen Berichten lässt sich lernen, dass die Schaffung von Versorgungskontinuität über die verschiedenen Versorgungssektoren hinweg eine ausgesprochen komplexe und herausfordernde Aufgabe ist, dass eine kommunale Perspektive zwar hilfreich ist, aber die Kommunen nicht unbedingt die direkten Akteure sein müssen, dass die Startfinanzierung und die Generierung eines alternativen Geschäftsmodells von entscheidender Bedeutung ist und dass derartige Prozesse von einem Monitoring begleitet und evaluiert werden sollten.
Ansätze für die Akteure
Selbstverständlich hat der Staat als Gesetzgeber eine zentrale Verantwortung für die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung. In einem selbstverwalteten Gesundheitswesen wie in Deutschland wird er dieser Verantwortung aber nicht dadurch gerecht, dass er selbst Versorgungsstrukturen schafft, sondern indem er Zielvorgaben macht und sich bei der Gestaltung der gesetzlichen Rahmenvorgaben für die Gesundheitsversorgung an diesen orientiert. Damit steht und fällt auch die für langfristige Investitionsentscheidungen unverzichtbare Erwartungssicherheit für die Akteure innerhalb des Systems. Welche positiven Wirkungen ein derartiges „direction pointing“ durch die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung haben kann, lässt sich an dem von Schulte u. a. in diesem Band geschilderten Aufschwung illustrieren, den in den vergangenen Jahren die „Accountable Care Organizations“ in den USA genommen haben. Verantwortlich für diesen ist nicht zuletzt die Entschiedenheit, mit der die Obama-Administration auch öffentlich auf populationsorientierte Modelle der Integrierten Versorgung gesetzt hat. In Deutschland fehlt es an vergleichbar konsequenten Zielvorgaben. Zwar sind sich Gesundheitspolitiker parteienübergreifend darin einig, dass die Fragmentierung des Systems eines der zentralen Probleme darstellt und mehr Integration und Kooperation erforderlich sind. Und tatsächlich sind über die Jahre eine Vielzahl von Regelungen geschaffen worden, um dieses Ziel zu erreichen. Doch werden diese nur selten in einen Zusammenhang gestellt. In der Folge wirkt auf Außenstehende die Gesetzgebung im Gesundheitsbereich vielfach unübersichtlich und keiner nachvollziehbaren Linie folgend. Da wird „Versorgung weiterentwickelt“, „Qualität gestärkt“ oder die „Finanzierung nachhaltig ausgestaltet“, doch wirken diese Slogans oft beliebig und eher der Fantasie von Öffentlichkeitsarbeitern entsprungen als gesundheitspolitischer Strategie geschuldet.
Dazu kommt, dass die Förderung von Integration und Kooperation von den Bundesregierungen der letzten 20 Jahre mit sehr unterschiedlicher Intensität verfolgt wurde. Teilweise kam es sogar zu deutlichen Rückschritten, wie die 2012 vorgenommene Einschränkung der Trägerschaft Medizinischer Versorgungszentren. Auch eine derartige Stop-and-go-Politik ist nicht dazu geeignet, den Akteuren im Gesundheitswesen eindeutige Signale zu geben, auf die sie ihr Verhalten langfristig ausrichten können. Fairerweise muss man aber einräumen, dass unzureichendes „direction pointing“ und gesundheitspolitisches Stop-and-go nicht nur der Unentschlossenheit und der unzureichenden Strategiefähigkeit der Gesundheitspolitik geschuldet sind. Sie sind auch Ausdruck davon, dass die Gesundheitspolitik mit einer Vielzahl wohlorganisierter und artikulationsfähiger Interessengruppen konfrontiert ist, die jeden Ansatz von Veränderung eingehend daraufhin überprüfen, ob er mit ihren Interessen kompatibel ist.
Dies gilt auch gerade für ein Reformziel wie mehr Kooperation und Integration, das dazu geeignet ist, überkommene Arbeitsteilungen und Strukturen im Gesundheitssystem in Frage zu stellen. Will man sich nicht damit begnügen, Forderungen an den Gesetzgeber zu stellen, wird man daher die unterschiedlichen Interessenlagen analysieren und fragen müssen, welche Akteure über die – in ein besseres Anreizsystem zu stellenden – Krankenkassen hinaus innerhalb des Gesundheitssystems einen Beitrag zu mehr Integration und Koordination leisten können bzw. von welchen die stärkste Gegenwehr zu erwarten ist.

*Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Kapitel „31.1.2 Einführung eines Forschungs- und Entwicklungsbudgets bei den Krankenkassen sowie begleitende Health Impact Bonds“ von Andreas Brandhorst, Referatsleiter im Bundesministerium für Gesundheit in Berlin, und Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, Vorstand der OptiMedis AG sowie Geschäftsführer der Gesundes Kinzigtal GmbH und der Gesundheit für Billstedt-Horn GmbH. Der auszugsweise Abdruck wurde durch den Verlag genehmigt.

Ausgabe 02 / 2017

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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