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Zwischen Paternalismus und Selbstbestimmtheit

06.12.2017 14:00
„Jetzt gehört endlich der Patient ... in den Mittelpunkt.“1 (Bundesgesund­heits­minister Hermann Gröhe, 2015). Der Patient ist salonfähig geworden: Ob Bundesregierung2, Krankenkassen oder Deutsche Ärztekammer3 – sämtliche Akteure des Gesundheitssystems beteuern, der Mikrokosmos Versorgungs­system solle sich künftig um ihn drehen. Bleibt die Frage, ob tatsächlich eine Revolution angestrebt wird. Denn mit marginalen Schein- oder Minireformen wäre es nicht getan. Zu lange schon dient das deutsche Gesundheitssystem statt dem ominösen „He who must not be named“ nur einem Zweck: der Selbsterhaltung. Den Patienten ins Zentrum zu stellen, hieße eine komplette Umwälzung und Neuanordnung des bestehenden Systems. Vor allem in den Köpfen.

>> Als Nikolaus Kopernikus mit seiner Veröffentlichung des „De revolutionibus orbium coelestinium libri VI“ 1543 die Sonne als Zentralgestirn in den Mittelpunkt der Welt rückte und so das geozentrische durch das heliozentrische System ersetzte, räumte er nicht nur mit der veralteten Vorstellung über die Planetenpositionen auf. Er verwarf ein komplettes Weltbild, widersprach den Glaubenssätzen über die Stellung der Erde und des Menschen im Kosmos und damit auch den Auffassungen der Kirche. Durch die Anfechtung des zur Doktrin erhobenen geozentrischen Weltbilds sah sie sich in ihren Grundfesten erschüttert. Jeder, der andere Vorstellungen postulierte, lief Gefahr, als Ketzer verurteilt zu werden. In der Weigerung der Kirchenoberen, das neue Wissen anzuerkennen, manifestierte sich vor allem eines: der Selbsterhaltungstrieb.
Struktureller Selbsterhaltungstrieb von Organisationen
Daniel Defert, Soziologe und Mitbegründer der französischen Aidshilfe „Aides“, sagte angesichts der bevorstehenden Massenentlassungen bei der Organisation:
„C’était ma crainte. Je me suis toujours demandé si, à un moment, il ne fallait pas
arrêter Aides. En grossissant, en devenant une entreprise avec beaucoup de salariés, les associations de malades perdent souvent leurs objectifs initiaux et après, leur seul objectif est le maintien … de l’emploi.“4
(„Genau das war meine Befürchtung. Ich habe mich immer gefragt, ob man nicht eines Tages ‚Aides‘ beenden muss. Während sie wachsen, ein Unternehmen mit vielen Beschäftigten werden, verlieren Gesundheits-Organisationen oftmals ihre ursprünglichen Ziele aus den Augen, und ihr einziges Ziel ist … der Arbeits-Erhalt.“)

Niklas Luhmann, ebenfalls Soziologe, hat den Begriff Autopoiesis auf soziale Systeme übertragen5. D. h., dass sich Systeme in einem ständigen, nicht zielgerichteten autokatalytischen Prozess selbst produzieren und reproduzieren. Dabei operieren sie so, dass sich weitere Operationen anschließen können – die Anschlussfähigkeit des Systems. Diese existiert auch beim sozialen System Massenmedien: „Jede Sendung verspricht eine weitere Sendung. Nie geht es dabei um die Repräsentation der Welt, wie sie im Augenblick ist.“6 Soziale Systeme sind also nicht offen – im direkten Austausch mit der Umwelt – sondern operativ geschlossen. Sie können ihre selektive Wahrnehmungsweise der Umwelt nicht ändern, ohne ihre spezifische Identität zu verlieren.
Dieser systemtheoretische Ansatz Luhmanns kann eine Erklärung liefern für die absurde Situation, in der sich das deutsche Versorgungssystem befindet: Es dreht sich unaufhörlich nur noch um sich selbst. Dabei ist seine eigentliche Legitimation, das Wohl des Patienten, nebensächlich geworden. Oder, um es mit den Worten Deferts auszudrücken: Das zu einem gigantischen Organisations-Moloch herangewachsene Gesundheitswesen, für jeden Akteur unüberschaubar mit all seinen Regelwerken, Gesetzen und Bestimmungen, hat sein ursprüngliches Ziel, bzw. Zentrum aus den Augen verloren: den Patienten.
Der Patient: Vom passiven Kranken zum beteiligten Experten!?
Bis in die 60er Jahre dominierte das von Paternalismus (vormundschaftliche Beziehung) und einem großen Autoritätsgefälle geprägte Verhältnis zwischen Professionellen im Gesundheitswesen, insbesondere Ärzten, und Patienten das gesellschaftliche Bild. Der paternalistische Arzt entschied allein über medizinische Vorgehensweisen im Interesse des Patienten, ohne auf dessen Zustimmung Rücksicht nehmen zu müssen.7 Vom Patienten wiederum wurde blindes Vertrauen in die Kompetenzen des Arztes erwartet. Eine gleichberechtigte Arzt-Patienten-Beziehung war angesichts des gesellschaftlichen Status’ und des schon im 19. Jahrhundert entstandenen hohen Standesbewusstseins der Ärzte unvorstellbar. Der Arzt verfügte über das Wissensmonopol und die ausschließliche Entscheidungsmacht, der Patient hatte sich als passiver Kranker zu fügen.
Erst im Rahmen der Demokratisierungsdebatten in den 70ern wurde das paternalistische von einem partnerschaftlichen Leitbild abgelöst. In den letzten vier Jahrzehnten hat sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen ein Wertewandel vollzogen, weg vom Paternalismus hin zu individueller Autonomie. Auch im Gesundheitssystem fordern die Menschen Selbstbestimmung und Mitwirkungsmöglichkeiten. Und die Fülle diagnostischer, bzw. therapeutischer Möglichkeiten, die zahlreichen damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen, der jeweils enge Zusammenhang mit der Lebenseinstellung, den Ressourcen und Vorlieben der Patienten, machen es heute schlicht unmöglich, in einem paternalistischen Modell stellvertretend für den Patienten zu entscheiden, was gut und richtig ist.
Die ärztliche Behandlung ist lediglich ein Wirkungsfaktor auf den Gesundheitszustand des Menschen, neben biologischen Kriterien, äußeren Lebensbedingungen und der subjektiven Einstellung. „Spielt“ der Patient nicht mit, sind alle ärztlichen Maßnahmen schwierig bis aussichtslos. Dem früher und teils noch immer verwendeten Begriff dafür, „Compliance“, ist ein bestimmtes Verständnis vom Arzt-Patienten-Verhältnis immanent: Der Patient trägt einseitig die Verantwortung für das Einhalten der Therapie, für seine Bereitschaft, ärztliche Verordnungen und Empfehlungen zu befolgen. Demgegenüber steht das Konzept der „Adhärenz“ – die Einhaltung der gemeinsam vom Patienten und medizinischen Fachpersonal (Ärzte, Pflegekräfte) gesetzten Therapieziele. Das Adhärenz-Prinzip basiert auf der Erkenntnis, dass Therapietreue in der gemeinsamen Verantwortung des Fachpersonals und des Patienten liegt, die darum gleichberechtigt zusammenarbeiten sollten.
Auf das medizinische Fachpersonal bezogen beinhaltet Adhärenz, den Patienten umfassend über die Ziele der Behandlung und die verordneten Arzneimittel aufzuklären und die Therapie an die individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse des Patienten anzupassen. Gefragt sind also angemessene Beratung, Information und Schulung des Patienten. Im Umkehrschluss bedeutet mangelnde Adhärenz u.a., dass es dem Fachpersonal nicht gelungen ist, den Patienten aktiv einzubeziehen und verständlich über seine Krankheit und die Therapiemaßnahmen informiert zu haben8.
Zahlreiche Studien belegen: Übernimmt der Patient als beteiligter Experte durch seine Mitwirkung am Prozess selbst aktiv Leistungen, trägt das wesentlich zum Behandlungserfolg bei. Non-Adhärenz hingegen ist weltweit ein ernstes Problem. In Deutschland betragen die Kosten der Non-Adhärenz für das Gesundheitssystem ca. 10 Mrd. Euro pro Jahr9. Booz & Company und die Bertelsmann Stiftung haben den volkswirtschaftlichen Schaden anhand von fünf weit verbreiteten chronischen Erkrankungen analysiert: Non-Adhärenz führt jährlich zu Produktivitätsverlusten zwischen 38 und 75 Mrd. Euro. Durch eine bessere Adhärenz wären wahrscheinlich Produktivitätssteigerungen von 10 bis 20 Mrd. Euro realisierbar10. Non-Adhärenz verursacht aber nicht nur immense Kosten, sie hat auch weitreichende Folgen für die Gesundheit des Patienten. So haben etwa Nierentransplantierte mit mangelnder Adhärenz ein 7-fach höheres Risiko für einen Transplantatverlust als therapietreue Patienten und 36 % der Transplantatverluste sind auf Non-Adhärenz zurückzuführen.11
Aus ökonomischer Sicht und aus Patientensicht gibt es zu dem Modell vom Patienten als aktiv im Prozess Involvierten, dem Partizipationsmodell also, keine Alternative. Trotzdem sieht die Realität anders aus.
Die Realität  – Paternalismus
in neuem Gewand?
Denn faktisch scheint sich der überwunden geglaubte Paternalismus lediglich in ein neues Gewand gehüllt zu haben. Der Arzt besitzt nach wie vor das Wissensmonopol und es liegt maßgeblich in seiner Hand, welche Informationen dem Patienten zur Verfügung gestellt werden. Entscheidungen des Patienten hängen jedoch von ebendiesen Informationen ab. Wie selbstbestimmt können sie also tatsächlich sein?
Im Folgenden einige ernüchternde Ergebnisse verschiedener Studien: Die Einschätzung der gemeinsamen Entscheidungsfindung wird von Arzt und Patient sehr unterschiedlich bewertet. 66 % der befragten Ärzte geben an, ihre Patienten in den Behandlungsprozess stark einzubeziehen. Aber nur etwa 36 % der Patienten sehen die eigenen Vorstellungen in den Behandlungsvorschlägen ihres Arztes berücksichtigt. 7 von 10 Ärzten geben nach eigener Vorstellung in ihrer Sprechstunde den nötigen Raum für Fragen der Patienten. Lediglich die Hälfte der Patienten meint, Fragen im Behandlungsgespräch äußern zu können. Etwa ein bis zwei von zehn Ärzten geben Hinweise auf Fremdinformationen, andere Informationsquellen oder schriftliches Informationsmaterial.12
Während 80 % der Ärzte die Selbstbestimmung des Patienten befürworten, befürchten 46 %, die Beteiligung könne eine zusätzliche Belastung sein. Ältere Menschen und Haus-ärzte sehen im Shared Decision Making (kompetente, partnerschaftliche und umfangreiche Kommunikation) vor allem eine Belastung für den Patienten. Das Kommunikationsverhalten des Arztes beim letzten Arztbesuch: Die Ärzte erklärten mehrheitlich alles verständlich, aber nur jeder fünfte Patient wurde aufgefordert, Fragen zu stellen.13
Knapp 50 % der Bevölkerung hat bislang noch keine Erfahrung mit einer partnerschaftlichen Entscheidungsfindung gemacht. Vielen Patienten ist die Entscheidungssituation im Kontext einer Krankheit gar nicht bewusst. Etwa zwei Drittel meinen, dass es eher selten Behandlungsalternativen für eine Erkrankung gibt und glauben an den einen Königsweg der Therapie. 50 % mit chronischen Erkrankungen berichten, noch nie eine Situation des Shared Decision Making erlebt zu haben.14
Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD) stellte im „Monitor Patientenberatung 2016“ fest, dass zahlreiche Ärzte das Einsichtsrecht in die Krankenunterlagen pauschal verweigern, einschränken, hinauszögern oder sogar hohe Kosten ankündigen. Dazu der ehemalige Patientenbeauftragte und Pflegebevollmächtige der Bundesregierung, Staatssekretär Karl-Josef Lauman: „Mit dem Patientenrechtegesetz ist das Einsichtsrecht glasklar geregelt worden. Und die Ärzte müssen dem ohne Wenn und Aber nachkommen.“15
Lösungsansätze
Die Studien belegen, dass die seit Februar 2013 im Gesetz verankerten Patientenrechte bis dato noch lange nicht in allen Köpfen angekommen sind. Hier heißt es: „Unter Patientenrechten werden die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern verstanden, die ihnen in einem Behandlungsverhältnis zum Beispiel gegenüber der Ärztin oder dem Arzt zur Seite stehen. Dazu gehören unter anderem: das Einsichtsrecht in die Behandlungsunterlagen, das Recht auf Information und Aufklärung, das Recht auf Selbstbestimmung, das bedeutet, dass eine medizinische Maßnahme nur nach erfolgter Einwilligung erfolgen darf.“
Zwar hat sich das Selbstverständnis der Patienten in den letzten Jahrzehnten gewandelt und es sind zahlreiche neue Konzepte zur Definition des Patienten entwickelt worden, die „neuen“ und „alten“ Rollenbilder existieren aber in der Realität des deutschen Gesundheitswesens auf allen Ebenen noch parallel. Im Jahr 2017 ist es keinesfalls gelungen, den Patienten in den Mikrokosmos Versorgungssystem auch nur einzubeziehen. Wie soll dann die Forderung u.a. des Bundesgesundheitsministers Gröhe, den Patienten sogar in den Mittelpunkt zu stellen, umgesetzt werden?
Einige Lösungsansätze
Partizipative Entscheidungsfindung
Die oben genannten Ergebnisse der Befragungen machen deutlich, wie wichtig Änderungen im Bereich der ärztlichen Gesprächsführung und noch grundsätzlicher hinsichtlich des ärztlichen Rollenverständnisses sind. Hier könnte in Instrumente zur konkreten Umsetzung von partizipativer Entscheidungsfindung in der Sprechstunde investiert werden, beziehungsweise in Konzepte zur Überprüfung und Verbesserung der ärztlichen Selbstwahrnehmung. Auch könnte über Anreize nachgedacht werden, um die Akzeptanz solcher Projekte in der niedergelassenen Ärzteschaft zu stärken. Nach wie vor wird auf medizinischen Kongressen kontrovers darüber diskutiert, ob ein Patient sich, für eine vom behandelnden Arzt nicht empfohlene Therapie, entscheiden darf.16
Die Autoren der Studie „Die Entwicklung der partizipativen Entscheidungsfindung“17 empfehlen die Institutionalisierung der Werkzeuge zur partizipativen Entscheidungsfindung auf den verschiedenen Ebenen des Gesundheitswesens z. B. in Form einer Implementierung von Shared Decision Making in Aus-, Fort- und Weiterbildung.

Empowerment-Konzept
Vor allem aus der Strategie der Weltgesundheitsorganisation zur Gesundheitsförderung bekannt ist das Empowerment-Konzept. Im Fokus steht hier die Befähigung des Menschen zur Teilhabe an allen gesellschaftlichen Entwicklungen: Indem allen ein höheres Maß an Selbstbestimmung bezüglich ihrer Lebensumstände und Umwelt ermöglicht wird, werden sie zur Stärkung ihrer Gesundheit befähigt. Gesundheit entsteht durch die Fürsorge für sich selbst und andere, die Möglichkeit selbst Entscheidungen zu fällen, Kontrolle über die Lebensumstände zu haben und das Leben in einer Gesellschaft, welche diese Bedingungen schafft. Eine der unabdingbaren Voraussetzungen sind Information und Bildung. Dafür müssen qualitativ hochwertige Informationen großen Gruppen der Bevölkerung leicht zugänglich gemacht werden. Dieses Informationsangebot sollte sich an dem evidenz-basierten „State of the Art“ der jeweiligen Interventionsoptionen orientieren und damit klinisch relevant, aktuell und sachlich korrekt sein, die wesentlichen Pro- und Contra-Argumente einer Therapie auflisten, über Behandlungsalternativen informieren, Risiken einer Behandlung aufzeigen, einfach und kostengünstig erreichbar sein.

Unabhängige Patientenvertreter
Auch unabhängige Beratungseinrichtungen, Patientenorganisationen und der Verbraucherschutz sind ein wichtiger Baustein im Konzept des mündigen Bürgers. Institutionen also, die außerhalb der im Gesundheitswesen Tätigen, wie Versorgungseinrichtungen und Kostenträgern, mit zusätzlichen Informationen unterstützen und in Konfliktsituationen mit medizinischen Einrichtungen oder den Krankenkassen zur Verfügung stehen. Zurzeit existiert in Deutschland kein flächendeckendes Beratungs- und Unterstützungsangebot. Und die Existenten basieren meist auf ehrenamtlicher Tätigkeit, besitzen wenig Macht und keine wirkliche Lobby. Demgegenüber stehen durchsetzungsfähige Institutionen wie Gutachterkommissionen oder Schlichtungsstellen der Ärztekammern. Wünschenswert wäre hier ein Konzept wie in Österreich. In sieben der neun Bundesländer gibt es unabhängige Patientenvertretungen zur Wahrung der Patienteninteressen und zur Prüfung von Beschwerden. Diese – bei Inanspruchnahme kostenlosen – Patientenanwaltschaften sind unabhängige, weisungsungebundene gesetzliche Einrichtungen zur Sicherung der Patientenrechte und -interessen in sämtlichen Bereichen des Gesundheitswesens. Darüber hinaus wurde im Februar 2000 ein Gesundheits-Informations-Zentrum in Salzburg errichtet, das Patienten durch unabhängige und umfassende Informationen aufklärt und unterstützt.

Open Notes: Transparenz in der Arzt-Patienten-Kommunikation
Bereits vielfach bewährt hat sich in den USA das Open-Notes-Projekt18, das zur Optimierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses und der Patientenaufklärung ins Leben gerufen wurde. Ähnlich wie in Deutschland besaßen die Patienten durch das Health Insurance Portability and Accountability Act (HIPPA) zwar seit 1996 das Recht auf freien Zugriff auf ihre klinischen Informationen und medizinischen Aufzeichnungen – in der Praxis gestaltete es sich jedoch schwierig, tatsächlich an die Daten zu gelangen. Durch Open Notes konnten Ärzte ihren Patienten ab 2010 erstmals digital Einblick auf die Dokumentation ihres Arztbesuches gewähren. Dafür registrierten sich die Patienten zuvor auf einem sicheren Patientenportal. Ursprünglich war Open Notes als Demonstrations- und Evaluationsstudie gedacht. Doch die ersten bemerkenswerten Ergebnisse nach einem Jahr führten zur Fortsetzung des Modells: Vier von fünf der Befragten hatten ihre Einträge gelesen, zwei Drittel berichteten über potenziell klinisch relevante Vorteile, 99 %
wollten die Praxis nach Ende der Studie fortsetzen. Auch keiner der am Projekt beteiligten Ärzte entschied sich nach Ablauf des Studienzeitraums dafür, die Open-Notes-Praxis zu beenden. Eine weitere Analyse nach ein paar Jahren ergab vielfältige positive Erfahrungen: besseres Verständnis der Gesundheitsinformationen, verbesserte Arzt-Patienten-Beziehung, bessere Qualität der Versorgung, bessere Selbstfürsorge. Die Patientenaktivierung und -einbeziehung hatte sich substanziell verbessert. Hinzu kamen optimierte Adhärenz und Selbstmanagement. Die Open-Notes-Bewegung hat sich in den USA sowohl in der Primär- als auch in der ambulanten fachärztlichen Versorgung etabliert.
Der Patient als Dreh- und Angelpunkt
Noch konsequenter als die vorgenannten Konzepte ist das Modell „Gesundheitskonto“ des Unternehmens vitabook. Hier geht es nicht mehr nur um Patientenpartizipation, hier geht es um kompromisslose Patientenzentrierung.
Das Gesundheitskonto ist eine Online-Anwendung zur Erstellung, Ansicht und Pflege einer persönlichen Akte über jeden (gesundheitlichen) Aspekt des Nutzers. Alle gesundheitsbezogenen Daten eines Menschen können auf dem Konto zusammengefasst und omnipräsent, unabhängig von Ort und Zeit, jedem am Behandlungsprozess Beteiligten bedarfsgerecht präsentiert werden. Der Nutzer kann sich auf einfachem Wege – digital – sämtliche medizinischen Daten wie Arztbriefe, Laborberichte, Röntgenbilder auf das Konto überweisen lassen und anderen zur Verfügung stellen. Dabei besitzt er – und das ist der grundlegende Unterschied zu den anderen Konzepten – alleinige Verfügungsgewalt über sein Konto und damit seine Daten. D. h., ausschließlich der Nutzer entscheidet, wer welche Daten in seiner Akte speichern, ändern und wer die Informationen einsehen und nutzen darf.
Dementsprechend ist das Gesundheitskonto des Patienten die zentrale Schalt- und Sammelstelle medizinischer Daten für Ärzte und für Patienten, ausgerichtet auf die Selbstbestimmung und Teilnahme der Patienten. Durch das Gesundheitskonto erhält der Patient einen ganzheitlichen Einblick in das Behandlungsgeschehen und wird zum eigenen Koordinator seiner Daten. Gleichzeitig kann er aktiv an der Therapie mitwirken, auch indem er z. B. eigene Beiträge leistet (Beobachtungen, Messwerte). Das vitabook-Gesundheitslexikon mit evidenz-basierten Artikeln bietet ihm eine Möglichkeit, sich unabhängig zu informieren.
vitabook gibt seinen Nutzern Werkzeuge an die Hand, um die Behandlung verfolgen und kritisch hinterfragen zu können. Das Gesundheitskonto erlaubt nicht nur, sondern fordert sogar die aktive Information und Mitarbeit des Patienten. Das stärkt seine Rolle in nie dagewesener Form und ändert das Arzt-Patienten-Verhältnis massiv und unwiderruflich, indem die Asymmetrie aufgehoben, dem Paternalismus ein ganz neues Patienten-Selbstverständnis entgegengesetzt wird. Vorbei die Zeiten, in denen eigenverantwortliche Menschen auf das Wohlwollen des Arztes angewiesen waren, wenn es darum ging, ihre eigenen Dokumente einsehen zu können und das auch nur im Beisein des Arztes. Auch vorbei die Zeiten, in denen Patienten in Ermangelung anderer Informationsquellen allein auf die Beurteilung eines Arztes angewiesen waren.
„Es kann einfach nicht sein, dass ein mündiger Bürger, sobald er die Schwelle zur Klinik oder Praxis übertritt, zum bevormundeten Untertan degradiert wird“, so vitabook-Gründer Markus Bönig. In jeder der zahlreichen Funktionen des Gesundheitskontos manifestiert sich die Patientenzentriertheit: in den Lösungen etwa, viele unnötig zeitverschwendende administrative Vorgänge schnell und einfach online zu erledigen (Arzttermine vereinbaren, Folgerezepte anfordern, Rechnungen bei PKV und Beihilfestelle einreichen).
Während Leistungserbringer nach wie vor über die mögliche Ausgestaltung und Speicherorte der elektronischen Gesundheitsakte diskutieren, nehmen schon heute knapp 200.000 Nutzer mit dem vitabook-Konto ihre Gesundheit selbst in die Hand und treiben so die Leistungserbringer technologisch vor sich her. Denn kaum ein Arzt wird sinnvolle Argumente finden, sich dem Anspruch seiner Patienten zu entziehen, deren Konten zu bedienen und zu nutzen. Gerade bei internetbasierten Systemen wächst die normative Kraft des Faktischen bekanntermaßen rasant schnell. Kurz: Das zögerliche Umsetzen der Patientenrechte wird gerade von der Realität überholt.
„Utopien sind oft nur
vorzeitige Wahrheiten“
Soll sich der Mikrokosmos Gesundheitssystem künftig um den Patienten als Zentralgestirn drehen, ist noch eine Frage zu beantworten: Wie sähe aus Perspektive des Patienten denn das ideale Versorgungssystem aus? Auf Basis der Ergebnisse der Studie „Patientenerwartungen an die Struktur- und Prozessqualität in der ambulanten ärztlichen Versorgung“19 hier ein idealtypischer Arztbesuch. (Das Spektrum der Qualitätsdimensionen aus Patientensicht ist unabhängig von der Versorgungsstruktur. Analoge Erwartungen werden auch an andere Versorgungssettings formuliert.)
Bereits bei der Terminvergabe wird klar: Ich bin nicht einer von zahlreichen anderen Bittstellern, die ergeben darauf warten müssen, irgendwie „dazwischen geschoben“ zu werden, sondern ein ebenbürtiger Mensch, dessen Zeit genauso kostbar ist, wie die des medizinischen Personals: keine Endlostelefonschleife, schneller Termin. Ich betrete die Praxis und weiß: Hier geht es um mich. Das Ambiente ist freundlich, hell, sauber, mit liebevollen Details. Eine höfliche, nicht herablassende Dame bittet mich, noch kurz im Wartezimmer Platz nehmen. Dort das gleiche Bild: schönes Interieur, interessante Zeitschriften, ein Wasserspender, bequeme Stühle. Ich komme nicht dazu, einen Artikel zu Ende zu lesen, werde nach fünf Minuten aufgerufen.
Ein netter Arzt begrüßt mich auf Augenhöhe. Er wirkt nicht gehetzt, dafür ehrlich, geduldig und empathisch. Er ermuntert mich, in Ruhe von meinem Belang zu erzählen und hört aufmerksam zu. Ich habe das Gefühl, als Mensch, statt als Nummer wahr- und ernstgenommen zu werden, ich fühle mich wohl. Ich werde zu keiner Zeit von ihm oder Telefonanrufen unterbrochen. Ich merke schnell, dass der Arzt mich als Experten meiner eigenen Gesundheit anerkennt und gemeinsam mit mir eine Lösung erarbeiten möchte. Auch psychische und soziale Komponenten in meinem Leben werden einbezogen.
Der Arzt geht sehr sorgfältig vor, bezieht alle möglichen Ursachen mit ein. Er kennt das komplette therapeutische Spektrum, ist auch offen für Naturheilverfahren. Er verschreibt nur wirklich notwendige, gute und kostengünstige Medikamente mit geringen Nebenwirkungen. Die Behandlung ist individuell auf mich zugeschnitten und angemessen, es wird nicht mehr als nötig gemacht, schon gar keine Doppeluntersuchungen.
In seiner Selbsteinschätzung ist der Arzt realistisch. Er kennt seine Grenzen, überweist rechtzeitig zu einem Facharzt, arbeitet auch mit anderen Ärzten zusammen. Er kann zugeben, wenn er einen Fehler gemacht hat.
In der Beratung gibt mir der Arzt verständliche Informationen über die Krankheit, ihre Ursachen und ihren Verlauf, über die Medikamente und deren Nebenwirkungen. Er verweist auch auf externe Quellen, informiert mich über Selbsthilfegruppen. Er erklärt mir, was ich selbst beitragen kann, empfiehlt mir z. B. Patientenschulungen.
Ein utopisches Szenario? Darauf die Antwort des französischen Schriftstellers und Politikers Alphonse der Lamartine (1790 – 1869): „Utopien sind oft nur vorzeitige Wahrheiten“.
von:  
Markus Bönig, Geschäftsführer von vitabook

Zitationshinweis : Bönig, M.: „Zwischen Paternalismus und Selbstbestimmtheit“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/17), S. 34-37; doi: 10.24945/MVF.06.17.1866-0533.2049

Ausgabe 06 / 2017

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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