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Migräne: „Ignorance, arrogance or insouciance?“

24.07.2017 14:00
Eigentlich könnte mit einem nur drei Fragen umfassenden Mini-Fragebogen mit einer Sensitivität von 0,81 und Spezifität von 0,75 auf den Verdacht einer Migräne geschlossen werden, der aber dann noch durch eine fachärztliche Diagnostik verifiziert werden muss. Weil das aber niemand macht und Migräne sowohl bei Patienten als auch Ärzten meist nicht als ernsthafte Erkrankung eingeschätzt wird, wird sie zum großen Teil nicht ausreichend therapiert. Migräne ist zwar keine lebensbedrohliche Erkrankung, „aber eine, die die Lebensqualität mindert“, wie Prof. Dr. Zaza Katsarava, Facharzt für Neurologie am Evangelischen Krankenhaus Unna beim Update NeuroScience von Novartis anlässlich des DGN 2017 in Leipzig erklärte und fragte: „Entweder sind wir eine zivilisierte Gesellschaft, die die Minderung von Lebensqualität von Menschen akzeptiert oder nicht.“ Akzeptiert heiße auch: ausreichend therapiert. Doch genau das passiert weder in Deutschland noch sonstwo auf der Welt. Dabei befinden sich derzeit in der klinischen Entwicklung – darum auch das Update von Novartis – Antikörper gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) bzw. dessen Rezeptor, womit – so Prof. Dr. Dr. Stefan Evers von der Klinik für Neurologie am Krankenhaus Lindenbrunn in Coppenbrügge – „nun erstmals die Aussicht auf dringend benötigte, effektiv wirkende und speziell zur Prophylaxe von Migräne entwickelte Medikamente“ besteht.

>> Bisher ist es so, dass die Hälfte der Betroffenen zu frei verkäuflichen Mitteln zur Schmerzlinderung zurückgreift, wobei der Großteil der frei verkäuflichen und/oder verschreibungspflichtigen Arzneimittel lediglich darauf abzielt die Migränesymptome zu lindern, nachdem sie bereits begonnen haben. Dabei gibt es durchaus präventive Therapien, welche in der Lage sind, die Zahl der monatlichen Migräneattacken zu reduzieren. Jedoch wurden diese Therapieop-tionen, die zur Vorbeugung von Migräne einegesetzt werden können, ursprünglich für andere Krankheiten – wie Epilepsie und Herzkrankheiten sowie Muskelerkrankungen, Angst oder Depressionen – entwickelt. Bei der prophylaktischen Therapie der Migräne gelten, wie Evers ausführte,  die Betablocker Propranolol und Metoprolol, der Kalziumantagonist Flunarizin sowie die Antikonvulsiva Valproinsäure und Topiramat als Mittel der ersten Wahl.
Da aber keines dieser Therapeutika spezifisch als Prophylaktikum gegen Migräne entwickelt wurde, würden viele Patienten eine unzureichende Wirksamkeit sowie starke Nebenwirkungen bemängeln. Da aber Migränepatienten sehr sensibel auf Nebenwirkungen reagieren würden, brechen bis zu 80 Prozent der Patienten die prophylaktische Therapie noch im ersten Jahr ab.
Mit dem traurigen Ergebnis, dass die von Migräne betroffenen Menschen sowohl in ihrem Berufs- als auch das Sozialleben stark eingeschränkt sind. Zudem ist die Mehrzahl (90 %) der Betroffenen während einer Migräne-Attacke komplett arbeitsunfähig und erleidet einen vollständigen Funktionsausfall. Katsarava, der im ehrenamtlichen Nebenjob der Vize-Präsident der Europäischen Kopfschmerzgesellschaft und Vorstand von „Lifting the Burden of Headache Worldwide” ist: „Die Angst, den Job zu verlieren, ist hoch, denn die Krankheitstage häufen sich.“ Ein Teil der Betroffenen (20 % der Männer und 30 % der Frauen) fehlt Katsaravas Ausführungen zufolge aufgrund der Migräne an mehr als 10 Prozent der Arbeitstage. „Somit ist nicht nur die Lebensqualität der Migräne-Patienten stark beeinträchtigt, die Krankheit stellt auch eine finanzielle Belastung für die Gesellschaft dar“, sagt der Schmerzspezialist, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, gegen die „unterschätzte Krankheitslast der Migräne-Patienten“ anzukämpfen.
So schrieb er unter anderem gemeinsam mit Timothy J. Steiner ein Editorial in der Zeitschrift „Cephalalgia“ mit dem Titel „Negelected Headache: Ignorance, arrogance or insouciance?“1, in dem auf die Studie „Low rate of self-awareness and medical recognition of migraine in Germany“2 reagiert wurde. Diese Studie von Radtke und Neuhauser beschrieb, dass überhaupt nur 42 % der Migräne-Patienten in den letzten 12 Monaten einen Arzt konsultiert hatten und von diesen wiederum nur 63% die entsprechend (richtige) Diagnose gestellt bekamen – und dies obendrein stark abhängig vom Bildungsgrad!
Ist es Unwissenheit? fragten daher Katsarava und Steiner in ihrem Editorial und bezogen sich damit auf die von Radtke und Kollegen getroffene Feststellung, dass Menschen mit niedrigeren Bildungsniveaus weniger wahrscheinlich diagnostiziert und effektiv behandelt wurden als besser gebildete. Oder ist es gar Arroganz? Das ist Katsarava und Steiners zweite Frage, in der sie vor allem Haus-
ärzte vorwerfen, dass diese Kopfschmerzen als nicht medizinisch wichtig betrachten und zudem nicht die nötige Zeit aufbringen würden, Migräne zu diagnostizieren, die Patienten zu informieren, Ratschläge zu geben und vor allem eine angemessene Behandlung einzuleiten. Erschwerend dazu kommt, dass Ärzte die Betroffenen in der Regel erst dann sehen, wenn die Attacke vorüber ist. Daher finden Katsarava Worten zufolge die Schilderungen der Migräne-Attacke oft wenig Beachtung – insgesamt gilt die Erkrankung als unter-diagnostiziert und unter-therapiert: Über 40 % der Migräne-Patienten erhalten keine gesicherte Diagnose. Katsarava und Steiners Folgerung: „Die unausweichliche Wahrheit, die diesen Misserfolgen zugrunde liegt, ist, dass für die große Anzahl von bedürftigen Patienten erhebliche Ressourcen benötigt werden, die einfach nicht zugeteilt werden.“ Ihr Fazit: „It boils down to a gross priority mismatch, for which insouciant society has only itself to blame“, was auf deutsch übersetzt nichts anderes heiße, dass sich darin  eine Prioritätsfehlanpassung manifestiere, für die die unbekümmerte Gesellschaft selbst Schuld hat.
Das liegt aber vor allem daran, dass weder der Lebensqualitäts- noch der ökonomische Schaden, der durch diese Erkrankung ausgelöst wird, genau zu fassen ist. Da eben etwa die Hälfte der Betroffenen zu frei verkäuflichen Mitteln zur Schmerzlinderung zurückgreift, steht diese Erkrankung bei den Kassen nicht auf der Prioritätsliste, noch haben sie Daten, mit denen die Versorgungsforschung arbeiten könnte. Aus diesem Grunde wurden in der Eurolight-Studie3 in zehn EU-Ländern insgesamt 8.271 Patienten mit Kopfschmerzen befragt.
Als wichtigste Beeinträchtigungen nannten die Patienten die unmittelbaren Attacken, die interiktalen Beeinträchtigungen sowie die verlorene Zeit. Von den in der Studie befragten Migräne-Patienten gaben 28 % der Frauen und 18 % der Männer an, dass sie aufgrund der Migräne 10 % ihrer Lebenszeit verlieren würden, wie Katsarava in seinem Vortrag ausführte. Patienten mit chronischer Migräne bzw. Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch verlieren sogar 54 % (befragte Frauen) bzw. 20 % (befragte Männer) ihrer Lebenszeit.
Das liegt aber nicht nur an der Migräne selbst, sondern auch an den Begleiterkrankungen. So zeige eine Analyse des Eurolight-Projekts, dass 19,1 % der Migräne-Patienten unter Ängsten leiden, 6,9 % unter Depressionen und 5,1 % unter beidem. Auch in dieser Beziehung leiden Patienten mit chronischer Migräne oder Medikamentenübergebrauch deutlich stärker: 38,8 % haben Ängste, 16,9 % Depressionen und 14,4 % sowohl Ängste als auch Depressionen. Als besonders bedrückend erleben viele Betroffene, dass sie nicht ernst genommen werden – weder von den Ärzten noch vom sozialen Umfeld. Ein Grund dafür ist nach Meinung des Schmerzmediziners, „dass niemand sieht, wenn die Migräne-Kranken hilflos und mit starken Schmerzen zuhause im abgedunkelten Raum liegen“. Folglich werde die enorme Krankheitslast von Vorgesetzten, Arbeitskollegen oder Freunden kaum anerkannt. Zuden würden es aufgrund dieser Stigmatisierung die Betroffenen häufig erst gar nicht wagen, über ihre Erkrankung zu sprechen.
All das oder zumindest das meiste davon, wäre zu verhindern, wenn es eine adäquate medikamentöse Medikamentation gäbe. Genau diese steht aber nun vor der Tür, und nicht nur Schmerzspezialist Katsarava ist voller „Vorfreude, dass wir endlich eine spezifische Therapie bekommen“, die in der Lage ist, die monatlichen Migränetage durch spezifisch gegen Migräne entwickelte CGRP-Blocker* zu mindern, um so die Lebensqualität vieler Patienten deutlich zu verbessern. Dieser Meinung ist auch Evers, wenn er sagt: „Helfen könnten hier neue Medikamente wie Antikörper gegen CGRP bzw. dessen Rezeptor, die in klinischen Studien die Anzahl der Migränetage deutlich reduzieren konnten.“
Solcherlei Aussagen entzücken natürlich Pharmaunternehmen wie Novartis („Erenumab“), Eli Lilly („Galcanezumab“) und Teva („Fremanezumab“), die jeweils bald einen dieser Antikörper auf den Markt bringen – erste Zulassungen dürften in Kürze anstehen. Wobei es nicht einfach sein wird, die drei Wirkstoffe zu vergleichen, zu unterschiedlich sind die jeweiligen Studien angelegt, wie ein Übersichtsartikel von Prof. Dimos Mitsikostas vom Athens Naval and Veterans Hospital, Department of Neurology, und Prof. Uwe Reuter von der Charité Berlin, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie, zeigt. So haben die Phase III-Studien teilweise unterschiedliche regionale Rekrutierungsschwerpunkte, zudem variieren die Einschlusskriterien und auch der primäre Endpunkt ist nicht einheitlich. „Ärzte sollten sich über diese komplexe Studiensituation im Klaren sein, wenn sie mit den Ergebnissen der Phase III-Studien zu CGRP-Hemmern konfrontiert werden“, betont Dr. Israel-Willner von der Arbeitsgruppe der Charité. Wichtig sei vor allem, den primären Endpunkt zu kennen. Zudem sollte darauf geachtet werden, wie schwer die für die jeweilige Studie zugelassenen Patienten erkrankt waren und welche Art der Begleitmedikation sie zur Baseline bzw. im Studienverlauf einnahmen.
Dennoch freut sich Prof. Lothar Färber, Medizinischer Direktor Novartis Pharma, „dass wir die Entwicklung dieser Substanzgruppe entscheidend voranbringen können“, auch weil die innovative Substanzklasse der CGRP-Blocker das Potenzial besitze, die real existente Therapielücke in der Versorgung der Migränepatienten zu schließen. Bis es soweit ist, wird es darauf ankommen, wie und ob das IQWiG nach erfolgter Zulassung die in den jeweiligen Arzneimitteldossiers anzugebenden Zulassungstudien anerkennt, und vor allem wie der G-BA-Beschluss und die anschliessenden Preisverhandlungen ausgehen werden. <<

*Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP)


Mit den in der klinischen Entwicklung befindlichen Antikörpern gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) bzw. dessen Rezeptor besteht nach Sicht von Prof. Dr. Dr. Stefan Evers (Klinik für Neurologie am Krankenhaus Lindenbrunn, Coppenbrügge) „nun erstmals die Aussicht auf dringend benötigte, effektiv wirkende und speziell zur Prophylaxe von Migräne entwickelte Medikamente“. Der Botenstoff CGRP scheine bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und Chronifizierung der Migräne eine maßgebliche Rolle zu spielen. Dafür spricht seiner Ansicht nach unter anderem, dass während einer Migräneattacke erhöhte CGRP-Spiegel gemessen werden, die anschließend wieder zurückgehen würden. Gemeint ist „AMG 334“, der erste biologische Anti-CGRP-Rezeptor-Hemmer, dessen Zulassungsantrag von der FDA und EMA akzeptiert wurde. Im Falle einer Zulassung werden Novartis und Amgen diesen Wirkstoff unter dem Namen „Erenumab“ in den USA gemeinsam vermarkten. Amgen hat exklusive Vermarktungsrechte für die Substanz in Japan und Novartis hat exklusive Rechte zur Vermarktung im Rest der Welt und somit auch in Deutschland. In einer vordefinierten Subanalyse einer pivotalen Phase-II-Studie mit AMG 334 profitierten Menschen mit chronischer Migräne von der Substanz, die in der Vergangenheit zwei oder mehr präventive Behandlungen vergeblich ausprobiert hatten. Bei diesen Patienten reduzierte AMG 334 die durchschnittliche Anzahl von Migräne-Tagen um mindestens fünf Tage bis zu einer Woche pro Monat, je nach Behandlungsdosis (70 mg: -5,4 Tage, 140 mg: -7 Tage, Placebo: -2,7 Tage; p < 0,001 für beide Dosierungen vs. Placebo). Darüber hinaus hatte diese Gruppe auch drei bis viermal höhere Chancen, ihre Migräne-Tage um 50 Prozent oder mehr im Vergleich zu Placebo zu reduzieren (70 mg: 35,6 Prozent, 140 mg: 41,3 Prozent, Placebo: 14,2 Prozent, p <0,001 für beide Dosierungen vs. Placebo).

Ausgabe 05 / 2017

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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