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Regionale Aspekte von Diagnose und orthopädischer Inanspruchnahme bei Rückenschmerzen

Rückenschmerzen gehören sowohl national als auch international zu den am häufigsten gestellten Diagnosen. Etwa 85% der Bevölkerung sind mindestens einmal in ihrem Leben von Rückenschmerzen betroffen (Schmidt et al. 2007). Unter den Versicherten der AOK, Barmer und der DAK sind Rückenschmerzen die Diagnose mit den meisten Arbeitsunfähigkeitstagen (WIdO 2011; Hrsg. 2010; Forschung 2011; Raspe 2012). Im Gesundheitssystem entstehen durch Rückenschmerzen beträchtliche Kosten, die auf etwa 49 Mrd. Euro pro Jahr beziffert werden (Kuntz et al. 2017; Wenig et al. 2009). Aufgrund der Häufigkeit von Rückenschmerzen sind sie in Deutschland die bedeutendste Ursache für verlorene Lebensjahre (Plass et al. 2014). Abhängig von der jeweiligen Datengrundlage geht man in Deutschland von einer Prävalenz von 32 – 49% aus (Raspe 2012). Die demographischen, sozioökonomischen und biologischen Einflussfaktoren von Rückenschmerzen sind mittlerweile gut erforscht. Sowohl nationale als auch internationale Studien konnten zeigen, dass Rückenschmerzen insgesamt betrachtet häufiger bei Frauen, älteren Personen und Bevölkerungsgruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status auftreten (Kuntz et al. 2017). Ebenso sind regionale Unterschiede in der Operationshäufigkeit bei verschiedenen Indikationen wie Arthrose und Bandscheibenschäden mittlerweile gut untersucht. Im Ergebnis zeigt sich, dass in Regionen mit hoher Orthopädendichte eher konservativ behandelt wird, während in Regionen mit geringer Orthopädendichte tendenziell eher schneller operiert wird (Schäfer, Pritzkuleit, Hannemann et al. 2013; Schäfer, Pritzkuleit, Jeszenszky et al. 2013; Pollmanns, Wesermann, and Drösler 2018).

doi: http://doi.org/10.24945/MVF.05.20.1866-0533.2249

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Abstract

Rückenschmerzen gehören in Deutschland zu den häufigsten Diagnosen und stellen die häufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage dar. Zwar existieren Studien zur regionalen Verteilung operativer Maßnahmen bei muskuloskelettalen Erkrankungen und den jeweiligen Einflussfaktoren, über das regionalspezifische Diagnose- und Inanspruchnahmeverhalten orthopädischer Leistungen bei
Rückenschmerzen ist bisher allerdings wenig bekannt. Unser Beitrag möchte diese Lücke schließen und die regionale Verteilung diagnostizierter Rückenschmerzen und der dazugehörigen orthopädischen Behandlungsquote auf kleinräumiger Ebene betrachten. Insgesamt werden Rückenschmerzen vor allem bei Frauen, älteren Versicherten, arbeitslosen Versicherten, Versicherten mit ausländischer Staatsbürgerschaft und Versicherten mit vorliegender Adipositas diagnostiziert. Die Ergebnisse der regionalisierten Regressionsmodelle zeigen auf, dass zwischen den Regionen erhebliche Unterschiede in der Stärke des Zusammenhangs zu den jeweiligen Einflussfaktoren bestehen. Zusätzlich bestätigen unsere Ergebnisse, dass in Regionen mit höherer Orthopädendichte, Orthopäden eher in Anspruch genommen werden. Unsere Analyse legt damit einen Grundstein, die orthopädische Versorgung für Rückenschmerzen noch genauer an die jeweiligen Risiko- und Nutzergruppen anzupassen. Gleichzeitig verdeutlicht diese Analyse den Nutzen regionalisierter Analyseverfahren für die Versorgungsforschung.

Regional aspects of diagnosis and orthopedic healthcare utilization for back pain
Back pain belongs to the most frequent diagnosed conditions in Germany and is the leading cause of incapacity to work. Although studies for the regional distribution of surgeries for muscosceletal illnesses and their associated predictors exist, little is known about influencing factors for region-specific diagnosis and utilization of orthopedics for back pain. Our study aims to address this research gap and seeks to examine regional differences of diagnosed back pain and the associated utilization of orthopedics. Back pain is mainly diagnosed in females, older age groups, unemployed insurants, insurants with foreign citizenship and insurants with diagnosed adiposity. The results of our regionalized regression model point out that there are important regional variations in the strength of association of some predictors for diagnosis and utilization of orthopedics. Additionally, our results confirm that utilization of orthopedics strongly depend upon their regional availability. Our analysis thus provides a basis to further align the planning of orthopedics to the demand of the respective risk and user groups. Moreover, our analysis demonstrates the additional benefit of regionalized analysis for healthcare research.

Keywords
Back pain, Geographic information systems (GIS), AOK Nordost, orthopedics, planning of healthcare

Dr. Dipl.-Geogr. Boris Kauhl / Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Schweikart / Dipl.-Kffr. Andrea Keste / Jörg König LL.B. / Dipl.-Kffr. Marita Moskwyn

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Zitationshinweis: Kauhl et al.: „Regionale Aspekte von Diagnose und orthopädischer Inanspruchnahme bei Rückenschmerzen“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (05/20), S. 69-76, doi: http://doi.org/10.24945/MVF.05.20.1866-0533.2249

Open Access

Plain-Text:

Regionale Aspekte von Diagnose und orthopädi-scher Inanspruchnahme bei Rückenschmerzen

Rückenschmerzen gehören sowohl national als auch international zu den am häufigsten gestellten Diagnosen. Etwa 85% der Bevölkerung sind mindestens einmal in ihrem Leben von Rückenschmerzen betroffen (Schmidt et al. 2007). Unter den Versicherten der AOK, Barmer und der DAK sind Rückenschmerzen die Diagnose mit den meisten Arbeitsunfähigkeitstagen (WIdO 2011; Hrsg. 2010; Forschung 2011; Raspe 2012). Im Gesundheitssystem entstehen durch Rückenschmerzen beträchtliche Kosten, die auf etwa 49 Mrd. Euro pro Jahr beziffert werden (Kuntz et al. 2017; Wenig et al. 2009).  Aufgrund der Häufigkeit von Rückenschmerzen sind sie in Deutschland die bedeutendste Ursache für verlorene Lebensjahre (Plass et al. 2014). Abhängig von der jeweiligen Datengrundlage geht man in Deutschland von einer Prävalenz von 32 – 49% aus (Raspe 2012). Die demographischen, sozioökonomischen und biologischen Einflussfaktoren von Rückenschmerzen sind mittlerweile gut erforscht. Sowohl nationale als auch internationale Studien konnten zeigen, dass Rückenschmerzen insgesamt betrachtet häufiger bei Frauen, älteren Personen und Bevölkerungsgruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status auftreten (Kuntz et al. 2017).  Ebenso sind regionale Unterschiede in der Operationshäufigkeit bei verschiedenen Indikationen wie Arthrose und Bandscheibenschäden mittlerweile gut untersucht. Im Ergebnis zeigt sich, dass in Regionen mit hoher Orthopädendichte eher konservativ behandelt wird, während in Regionen mit geringer Orthopädendichte tendenziell eher schneller operiert wird (Schäfer, Pritzkuleit, Hannemann et al. 2013; Schäfer, Pritzkuleit, Jeszenszky et al. 2013; Pollmanns, Wesermann, and Drösler 2018).
>> Was allerdings bisher nur unzureichend berücksichtigt wurde, sind regionale Unterschiede soziodemographischer Einflussfaktoren: Beispielsweise liegen keine systematischen Untersuchungen auf Individualebene vor, ob soziodemographische Einflussfaktoren wie Alter, Geschlecht, Arbeitslosigkeit und Staatsbürgerschaft überall einen gleich starken Einfluss auf die Diagnosewahrscheinlichkeit aufweisen, oder ob es Stadt-Land Unterschiede gibt.  Über die Einflussfaktoren orthopädischer Inanspruchnahme bei diagnostizierten Rückenschmerzen ist bisher generell vergleichsweise wenig bekannt, wird von Studien mit einer vergleichsweise kleinen oder sehr spezifischen Studienpopulation abgesehen (Borys et al. 2013). Dabei wäre das Wissen um möglichst detailliert aufgelöste Risiko- und Nutzergruppen von großer Bedeutung für eine effiziente Planung von zielgruppenspezifischen Behandlungsangeboten wie dem zum 1. Oktober 2019 in Kraft getretenen Disease Management Programm „Chronischer Rückenschmerz“  und zur potenziellen Vermeidung von nicht zwingend notwendigen operativen Eingriffen (Casser et al. 2016).
Während in vielen Ländern wie den USA, Großbritannien oder Kanada Geographische Informationssysteme (GIS) und räumlich-statistische Verfahren mittlerweile standardmäßig in der Planung regionaler Versorgungseinrichtungen verwendet werden (Cromley and McLafferty 2011), hat der Einsatz von GIS im deutschen Gesundheitswesen erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen (Thißen et al. 2017). Dabei sind viele der in Daten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) enthaltenen Informationen wie Alter, Erkrankungslast, Versichertenart und Verfügbarkeit von Leistungserbringern sehr stark vom Wohnort des Versicherten abhängig (Kauhl et al. 2016). Die Regionalität dieser Daten ist ein entscheidendes Merkmal: Mithilfe regional-statistischer Verfahren lässt sich relativ detailliert berechnen, welche Versichertengruppe in welchen Regionen ein erhöhtes Diagnoserisiko und eine erhöhte Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit aufweisen. Prinzipiell können damit Behandlungsangebote an die entsprechenden Zielgruppen in den Regionen besser angepasst werden und dadurch erhebliche Kosten eingespart werden.
Mit dieser Untersuchung werden die kleinräumige Verteilung von Rückenschmerzen und der dazugehörigen orthopädischen Inanspruchnahme betrachtet und die regionalspezifischen soziodemographischen Merkmale genauer beleuchtet, die mit der Diagnose und der Inanspruchnahme orthopädischer Leistungen für Rückenschmerzen in Verbindung stehen.
Datengrundlage und Methoden
In diese Studie wurden alle Versicherten der AOK Nordost, die zum Stichtag 1.7.2017 bei der AOK Nordost versichert waren, einbezogen. Die AOK Nordost versichert in den Bundesländern Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern 1,66 Mio. Personen. Als Rückenschmerzen wurde das Vorliegen einer gesicherten Diagnose mit dem ICD-Code M54 definiert. Insgesamt hatten 478 Tsd. Versicherte die gesicherte Diagnose Rückenschmerz im Jahr 2017. Zur Bemessung der Behandlungsquote wurden alle Versicherten herangezogen, die 2017 aufgrund von Rückenschmerzen in orthopädischer Behandlung waren (147 Tsd.).
Für die Analyse möglicher Einflussfaktoren wurden verschiedene Variablen auf der Individual- und aggregierten Ebene eingeschlossen, die anhand früherer Ergebnisse als wichtige Einflussfaktoren für Rückenschmerzen beziehungsweise orthopädischer Inanspruchnahme angesehen werden. Neben Alter und Geschlecht deuten viele Ergebnisse darauf hin, dass Rückenschmerzen häufiger bei Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status vorliegen (Kuntz et al. 2017). Daher wurden die Versichertenarten arbeitslos und langzeitarbeitslos zusammengefasst als Indikator für einen niedrigen sozioökonomischen Status mitbetrachtet (Kuntz et al. 2017). Die Studienlage zur Auswirkung der Staatsbürgerschaft auf das Vorliegen von Rückenschmerzen hingegen ist nicht eindeutig (Bermejo et al. 2012; Razum et al. 2008). Vor diesem Hintergrund wurde Staatsbürgerschaft explorativ als möglicher Einflussfaktor in die Untersuchung mit aufgenommen. Einige Studien kommen zu dem Ergebnis, dass neben soziodemographischen Faktoren auch Übergewicht eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Rückenschmerzen spielt (Neuhauser, Ellert and Ziese 2005). Aus diesem Grund wurde das Vorliegen einer gesicherten Diagnose Adipositas in mindestens 2 Quartalen als weiterer möglicher Risikofaktor mitbetrachtet.
Neben dem Vorliegen eines niedrigen sozioökonomischen Status auf Individualebene wurde zusätzlich die strukturelle Benachteiligung (Deprivation) der Wohnquartiere mitbetrachtet, da sich für viele chronische Erkrankungen gezeigt hat, dass auch die strukturelle Benachteiligung des Wohnortes einen wichtigen Einflussfaktor für das Vorliegen chronischer Erkrankungen darstellen kann (Kauhl et al. 2018b, 2018c; Maier 2017). Für einige – aber nicht alle – Erkrankungen lässt sich ein Zusammenhang zwischen Verfügbarkeit von (Fach-)Ärzten und höherer Diagnosewahrscheinlichkeit
beobachten (Kauhl et al. 2019). Daher wurde für diese Untersuchung die Orthopädendichte in gleitenden Einzugsbereichen von 30 Minuten PKW-Fahrtzeit entsprechend des Gravitationsmodells des G-BA miteingeschlossen (eigene Berechnung) (Sundmacher et al. 2018). Darauf aufbauend wurde zusätzlich die PKW-Dichte als Indikator für Mobilität im ländlichen Raum ebenfalls als möglicher Einflussfaktor mitbetrachtet. Die Bevölkerungsdaten zur Berechnung des Gravitationsmodells und die Daten zur PKW-Dichte waren auf Ebene der 8.850 Wohnquartiere Nordostdeutschlands der Firma Nexiga verfügbar.
Kartographische Darstellung der Prävalenz-
und Behandlungsraten
Für die kartographische Darstellung der alters- und geschlechtsstandardisierten Prävalenz und Behandlungsquote wurde die Standardbevölkerung Deutschlands verwendet. Da die Anzahl an Einwohnern und Versicherten sich zusätzlich zwischen den Wohnquartieren unterscheidet, wurde ein Bayesianisches Glättungsverfahren verwendet, welches die jeweiligen Raten immer zum Durchschnitt der benachbarten Wohnquartiere hin gewichtet. Dadurch werden die jeweiligen Raten durch Informationen aus benachbarten Wohnquartieren stabilisiert und zufällige Schwankungen basierend auf kleinen Fallzahlen ausgeglichen. Vereinfacht gesagt lassen sich mithilfe des Glättungsverfahrens Raten auf sehr kleinräumiger Ebene mit der statistischen Verlässlichkeit höherer Aggregationsebenen darstellen (Besag, York and Mollie). Erst durch dieses Verfahren wird eine kartographische Darstellung kleinräumiger Prävalenz- und Behandlungsquoten sinnvoll. Die Ergebnisse des Glättungsverfahrens wurden in ESRI ArcGIS 10.6 exportiert und kartographisch dargestellt. Zur Berechnung der Diagnoseprävalenz wurde das Verhältnis der alters- und geschlechtsstandardisierten erkrankten Versicherten zu allen Versicherten berechnet. Für die Darstellung der Behandlungsquote wurde das Verhältnis der alters- und geschlechtsstandardisierten Versicherten, die eine orthopädische Leistung bei einem Orthopäden in Anspruch genommen haben zu allen Versicherten mit der gesicherten Diagnose Rückenschmerz herangezogen.
Statistische Analyse
Da für diese Analyse regional sehr detailliert aufgelöste Daten sowohl auf Individual- und aggregierter Ebene zur Verfügung standen, wurden zwei Regressionsmodelle gewählt, die Regionalität explizit berücksichtigen: Das erste Modell ist ein Bayesianisches globales logistisches Regressionsmodell, welches für Gesamt Nordostdeutschland einen Regressionskoeffizienten pro Variable ermittelt. In dem globalen Modell wurden regionale Effekte berücksichtigt durch die Nachbarschaftsbeziehungen der Wohnquartiere. Das bedeutet, dass nach Tobler`s first law of geography nähergelegene Wohnquartiere sich ähnlicher sind als weiter entfernte Wohnquartiere (Sui 2004) und diese Tatsache explizit in einem Regressionsmodell berücksichtigt werden muss. Das zweite Regressionsmodell – ein Bayesianisches spatially varying coefficient model – bildet für jede Region einen lokalen Regressionskoeffizienten ab. Diese Regressionskoeffizienten lassen sich kartographisch abbilden. Für diese Untersuchung ist beispielsweise von Interesse, ob Arbeitslosigkeit überall ein Risikofaktor für die Diagnose von Rückenschmerzen ist, oder ob regionale Unterschiede existieren. Um das Alter als Einflussfaktor regional analysieren zu können, wurde das Alter der Versicherten in zwei Kategorien eingeteilt: Älter als 50 und jünger als 50, da das Durchschnittsalter der AOK Nordost Versicherten für das Jahr 2017 ca. 50 Jahre beträgt. Die abhängige Variable war das Vorliegen einer gesicherten Diagnose Rückenschmerz (Ja/Nein) beziehungsweise eine erfolgte orthopädische Behandlung für Rückenschmerzen bei einem Orthopäden (Ja/Nein). Die Berechnung des Glättungsverfahrens und der Regressionsmodelle wurde mithilfe des R-package INLA durchgeführt (Rue, Martino and Chopin 2009). Die Ergebnisse wurden mit ESRI ArcGIS 10.6 dargestellt.
Ergebnisse
Regionale Verteilung der Prävalenz und Behandlungsquote des Rückenschmerzes
Die alters- und geschlechtsstandardisierte Prävalenz diagnostizierter Rückenschmerzen lag insgesamt 2017 bei 26,2% und bewegt sich damit auch im Rahmen früherer Ergebnisse (Henn et al. 2014). Die höchsten Prävalenzen befinden sich in West-Berlin und einigen Gemeinden Mecklenburg-Vorpommerns. In Brandenburg sind überwiegend unterdurchschnittliche Prävalenzen zu finden. Der Anteil an Versicherten in orthopädischer Behandlung für Rückenschmerzen an allen Versicherten mit diagnostizierten Rückenschmerzen lag nach Standardisierung für Alter und Geschlecht bei 19,9%. Die höchsten Behandlungsquoten befinden sich in West-Berlin und den Landkreisen Uckermark, Oder-Spree und Spree-Neiße.

Einflussfaktoren auf die Diagnose von Rückenschmerzen
Mit jedem zusätzlichen Lebensjahr steigt das Diagnoserisiko um 2,5%. Frauen haben ein 37% höheres Diagnoserisiko als Männer. Versicherte mit ausländischer Staatsbürgerschaft haben ein 31% höheres Risiko als Versicherte mit deutscher Staatsbürgerschaft. Anhand unserer Ergebnisse wird deutlich, dass arbeitslose Versicherte ein 68% höheres Diagnoserisiko aufweisen als nicht-arbeitslose Versicherte. Das Vorliegen einer gesicherten Diagnose Adipositas (M2Q) ist ebenfalls signifikant mit der Diagnose von Rückenschmerzen assoziiert: Versicherte, bei denen eine Adipositas diagnostiziert wurde, haben ein 74% höheres Diagnoserisiko für Rückenschmerzen als Versicherte ohne diagnostizierte Adipositas. Für die Diagnose von Rückenschmerzen konnten wir keinen signifikanten Zusammenhang zur strukturellen Benachteiligung des Wohnortes (Deprivation) feststellen. Zwar zeigt sich anhand unserer Untersuchung ein signifikanter Zusammenhang zwischen Diagnose von Rückenschmerzen und Orthopädendichte, allerdings ist der Effekt relativ gering. Erhöht sich die Orthopädendichte zwischen den Regionen um einen Orthopäden pro 100.000 Einwohner, steigt das Diagnoserisiko um 0,9%.
Einflussfaktoren auf die orthopädische Inanspruchnahme bei Rückenschmerzen
Insgesamt lässt sich lediglich ein signifikanter Zusammenhang zwischen orthopädischer Inanspruchnahme und den Merkmalen (höheres) Alter, weibliches Geschlecht, diagnostizierte Adipositas und Orthopädendichte feststellen. Mit jedem zusätzlichen Altersjahr steigt die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme um 0,9%. Frauen haben eine 27% höhere Wahrscheinlichkeit bei diagnostizierten Rückenschmerzen einen Orthopäden aufzusuchen als Männer. Liegt eine diagnostizierte Adipositas vor, so haben diese Versicherten eine 21% höhere Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit als Versicherte ohne Adipositas. Der Einfluss der Orthopädendichte auf die Inanspruchnahme ist relativ deutlich ausgeprägt: Mit jedem Orthopäden mehr pro 100.000 Einwohner zwischen den Regionen steigt auch die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme um 8,9%.

Regionalspezifische Einflussfaktoren auf die Diagnose von
Rückenschmerzen
Alle beobachteten Variablen, die mit Rückenschmerzen assoziiert sind, weisen regionale Unterschiede in der Stärke des Zusammenhangs auf. So haben Versicherte mit ausländischer Staatsbürgerschaft lediglich in Berlin eine erhöhte Diagnosewahrscheinlichkeit. Insbesondere in Berlin-Tempelhof und Friedrichshain-Kreuzberg haben Versicherte mit ausländischer Staatsbürgerschaft eine mehr als 30% höhere Diagnosewahrscheinlichkeit als Versicherte mit Deutscher Staatsbürgerschaft. Der Einfluss individueller Arbeitslosigkeit ist nahezu überall positiv. Allerdings haben arbeitslose Versicherte in Berlin und Schwerin ein 40% höheres Diagnoserisiko als nicht-arbeitslose Versicherte, während arbeitslose Versicherte beispielsweise in der Uckermark nur ein bis zu 10% höheres Risiko aufweisen. Insgesamt haben über 50-jährige Versicherte überall ein erhöhtes Diagnoserisiko im Vergleich zu unter 50-jährigen Versicherten. Allerdings haben über 50-jährige Versicherte in Berlin und Teilen des Landkreises Prignitz ein mehr als 3-mal so hohes Diagnoserisiko, während über 50-jährige Versicherte im Landkreis Ostprignitz-Ruppin lediglich ein bis zu 1,8-mal so hohes Risiko aufweisen. Frauen haben flächendeckend in Nordostdeutschland ein höheres Diagnoserisiko als männliche Versicherte. Allerdings lassen sich auch hier ausgeprägte regionale Unterschiede feststellen: Im Landkreis Oder-Spree haben Frauen ein mehr als 56% höheres Diagnoserisiko als Männer, während Frauen beispielsweise im Landkreis Mecklenburger-Seenplatte nur ein bis zu 40% höheres Diagnoserisiko aufweisen. Das Vorliegen einer diagnostizierten Adipositas ist ebenfalls flächendeckend ein Risikofaktor für die Diagnose von Rückenschmerzen. Hier sticht Berlin besonders hervor: Versicherte mit diagnostizierter Adipositas haben hier ein mehr als 2-mal so hohes Diagnoserisiko wie Versicherte ohne Vorliegen einer diagnostizierten Adipositas. Der Einfluss der Orthopädendichte ist nicht überall positiv; lediglich in den eher ländlich geprägten Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommmerns erhöht sich das individuelle Diagnoserisiko um 3-4% mit einem Orthopäden mehr pro 100.000 Einwohner. In Berlin und Teilen Brandenburgs kann sogar ein leicht negativer Zusammenhang beobachtet werden.

Regionalspezifische Einflussfaktoren auf die orthopädische Inanspruchnahme bei Rückenschmerzen
Die  Variablen Alter: über 50, Geschlecht: weiblich, diagnostizierte Adipositas und Orthopädendichte weisen regional sehr unterschiedliche Zusammenhänge zur orthopädischen Inanspruchnahme auf. Zwar ist der Zusammenhang zwischen der Altersgruppe über 50 Jahre und der orthopädischen Inanspruchnahme nahezu flächendeckend positiv, allerdings weist die Stärke des Zusammenhangs regional sehr starke Schwankungen auf. Während im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns und im Süden und Süd-Osten Brandenburgs über 50-jährige Versicherte mit diagnostizierten Rückenschmerzen eine mehr als doppelt so hohe Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit aufweisen im Vergleich zu den unter 50-Jährigen, hat dieselbe Versichertengruppe in einigen Regionen wie beispielsweise dem Landkreis Oberhavel nur eine bis zu 25% höhere Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit im Vergleich zu den unter 50-Jährigen. In nahezu allen Regionen haben weibliche Versicherte eine höhere Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit als männliche Versicherte. Allerdings ist die Stärke des Zusammenhangs starken regionalen Schwankungen unterworfen: Im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns und im Süden und Südosten Brandenburgs haben weibliche Versicherte eine mehr als 36% höhere Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit als männliche Versicherte. In anderen Regionen wie dem südlichen Teil des Landkreises Mecklenburger-Seenplatte haben weibliche Versicherte beispielsweise nur eine bis zu 20% höhere Wahrscheinlichkeit, einen Orthopäden in Anspruch zu nehmen bei diagnostizierten Rückenschmerzen. Auch das Vorliegen einer diagnostizierten Adipositas ist ein flächendeckender Einflussfaktor für die Inanspruchnahme eines Orthopäden. Es zeigen sich allerdings wieder starke regionale Unterschiede: Während Versicherte mit diagnostizierter Adipositas in den Landkreisen Vorpommern-Greifswald, Schwerin, Ludwigslust-Parchim und Teltow-Fläming eine mehr als 40% höhere Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit aufweisen als Versicherte ohne Vorliegen einer diagnostizierten Adipositas, hat dieselbe Versichertengruppe in anderen Regionen wie beispielsweise in einigen Teilen Berlins
und dem südlichen Teil des Landkreises Oberhavel nur eine bis zu 10% höhere Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit. Zwar ist die Orthopädendichte – wie erwartet – in einem Großteil der Regionen positiv mit der orthopädischen Inanspruchnahme assoziiert, es zeigen sich allerdings wieder regionale Schwankungen: Während in Berlin, dem südlichen und nordöstlichen Teil Brandenburgs sich die Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit mit einem Orthopäden mehr pro 100.000 Einwohner um bis zu 9% erhöht, kann in einigen Regionen Nordbrandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns sogar ein leicht negativer Zusammenhang beobachtet werden.  
Diskussion
Im Gegensatz zu einigen chronischen Erkrankungen wie
beispielsweise Hypertonie (Kauhl
et al.) weisen die Ergebnisse auf sehr kleinräumige Unterschiede in der Prävalenz und der orthopädischen Inanspruchnahme bei diagnostizierten Rückenschmerzen hin.
Bezogen auf die Diagnose von Rückenschmerzen bestätigen die Ergebnisse im Wesentlichen die Ergebnisse früherer Untersuchungen: Höheres Alter, weibliches Geschlecht, Arbeitslosigkeit, ausländische Staatsbürgerschaft und das Vorliegen einer diagnostizierten Adipositas sind wichtige Einflussfaktoren von Rückenschmerzen (Raspe 2012; Kuntz et al. 2017). Zwar wurde in der wissenschaftlichen Literatur ein Zusammenhang zwischen Rückenschmerzen und einem niedrigen sozioökonomischen Status dokumentiert, allerdings können wir anhand der Ergebnisse nur einen Zusammenhang zur individuellen Arbeitslosigkeit dokumentieren. Möglicherweise wären andere Faktoren wie der Bildungsstand und das Einkommen auf Versichertenebene ebenfalls relevant, diese Informationen liegen allerdings nicht vor. Während der Einfluss der strukturellen Benachteiligung des Wohnortes (Deprivation) für eine Vielzahl chronischer Erkrankungen als gesichert betrachtet werden darf (Kauhl et al. 2018a; Kauhl et al. 2018c), kann dies anhand unserer Ergebnisse für Rückenschmerzen nicht nachgewiesen werden.  Gleichzeitig verdeutlicht die Untersuchung, dass das Vorliegen einer diagnostizierten Adipositas einen stärkeren Einfluss auf die Diagnose von Rückenschmerzen aufweist als das Vorliegen individueller Arbeitslosigkeit – auch wenn an dieser Stelle betont werden muss, dass das Vorliegen der Diagnose Adipositas nicht die Prävalenz von Adipositas in der Bevölkerung widerspiegelt: Während man in der Allgemeinbevölkerung bei den 18- bis 79-Jährigen davon ausgeht, dass 23,3% der Männer und 23,9% der Frauen adipös sind (Mensink et al. 2013), liegt die alters- und geschlechtsstandardisierte Prävalenz der diagnostizierten Adipositas in den Abrechnungsdaten der AOK Nordost bei 12,4%.
Bezogen auf die Inanspruchnahme orthopädischer Leistungen bei diagnostizierten Rückenschmerzen zeigt sich, dass auf Ebene  individueller Versichertenmerkmale lediglich (höheres) Alter, Geschlecht und das Vorliegen einer diagnostizierten Adipositas signifikante Prädiktoren einer Inanspruchnahme orthopädischer Leistungen für Rückenschmerzen darstellen. Auf aggregierter Ebene konnte lediglich ein Zusammenhang zwischen Orthopädendichte  und Inanspruchnahme orthopädischer Leistungen ermittelt werden.
Mithilfe detaillierter regional-statistischer Methoden wurde verdeutlicht, dass die soziodemographischen Versichertenmerkmale, die mit der Diagnose und einer orthopädischen Inanspruchnahme für Rückenschmerzen in Verbindung stehen, stark von der jeweiligen Region abhängen. Vor allem bei den Indikatoren ausländische Staatsbürgerschaft, individuelle Arbeitslosigkeit und diagnostizierte Adipositas zeigt sich, dass Versicherte mit diesen Merkmalen vor allem in Berlin ein stark erhöhtes Diagnoserisiko aufweisen. Damit wird anhand unserer Untersuchung deutlich, dass ein zielgruppenspezifisches Behandlungsangebot wie beispielsweise das DMP Rückenschmerz in Berlin möglicherweise eine andere Versichertenstruktur ansprechen sollte als in den ländlichen Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns. Interessant wäre an dieser Stelle die Frage, ob Versicherte mit diesen Merkmalen in Berlin aus epidemiologischer Sicht tatsächlich ein erhöhtes Risiko für Rückenschmerzen aufweisen (beispielsweise durch schwere körperliche Tätigkeit), oder ob die regional unterschiedlichen Koeffizienten nur das Ergebnis eines unterschiedlich ausgeprägten Inanspruchnahme-verhaltens sind. Der regional unterschiedlich starke Zusammenhang zur Orthopädendichte muss allerdings vor dem Hintergrund fehlender Informationen in den Arztstammdaten betrachtet werden: Informationen zur durchschnittlichen Wartezeit, Ausstattung und Spezialisierung des Orthopäden liegen nicht vor. Folglich müssen diese regionalen Unterschiede möglicherweise als Folge dieser nicht berücksichtigten Informationen verstanden werden. Beispielsweise könnten in den Regionen mit negativem Zusammenhang zur Orthopädendichte die Wartezeiten entsprechend höher sein, oder es liegt in diesen Regionen eine Spezialisierung auf andere Körperregionen als den Rücken vor. Gleichzeitig wird anhand der Ergebnisse eine Stärke der in dieser Studie verwendeten Methodik deutlich: Erst durch die Verwendung regionalisierter Regressionsmodelle konnte ein regional unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten für die Diagnose und orthopädische Behandlung von Rückenschmerzen überhaupt erst sichtbar gemacht werden. Dadurch können die Ergebnisse für eine an lokale Bedürfnisse angepasste Planung von Behandlungsangeboten in Nordostdeutschland genutzt werden.
Bereits seit längerem wird in Deutschland von einer angebots-induzierten Nachfrage ausgegangen, die für eine Fehl- und Überversorgung mitverantwortlich gemacht wird. Beispielsweise werden in Regionen mit hoher Orthopädendichte weniger operative Eingriffe bei muskoskelettalen Erkrankungen durchgeführt (Pollmanns,
Wesermann and Drösler 2018; Schäfer, Pritzkuleit, Jeszenszky et al. 2013). Entsprechend ist davon auszugehen, dass in orthopädischen Praxen über einen längeren Zeitraum eher konservativ behandelt wird, bevor eine Operation empfohlen wird (Schäfer, Pritzkuleit, Hannemann et al. 2013). Unsere Analyse unterstreicht diesen Befund insofern, als dass wir für einen Großteil der Regionen einen positiven Zusammenhang zwischen Orthopädendichte und orthopädischer Inanspruchnahme anhand unserer Daten nachweisen konnten. An dieser Stelle wäre eine Gegenüberstellung der Daten des stationären Sektors zur Operationshäufigkeit bei muskoskelettalen  Erkrankungen sinnvoll um genauer herauszuarbeiten, ob im Umkehrschluss in Regionen mit geringer Orthopädendichte häufiger operiert wird.
Bezogen auf die Bedarfsplanung der Orthopäden und Chirurgen, die seit dem 16.1.2019 in der Bedarfsplanungsrichtlinie in eine Facharztgruppe zusammengeführt wurden, stellt sich die Frage, ob diese Zusammenlegung möglicherweise zu einer Verringerung des Angebots konservativer Maßnahmen zugunsten operativer – und damit teureren – Maßnahmen führt (Medizin 2019), obwohl operative Maßnahmen bei bestimmten Indikationen nicht zwangsläufig zu einem besseren Ergebnis führen als konservative Maßnahmen (Schäfer, Pritzkuleit, Hannemann et al. 2013). Diese Frage kann mithilfe der hier verwendeten regionalen Regressionsmodelle allerdings derzeit noch nicht beantwortet werden.
Fazit
Diese Untersuchung verdeutlicht die sehr kleinräumigen Unterschiede in der Prävalenz und Behandlungsquote von Rückenschmerzen in Nordostdeutschland. Die Ergebnisse der regionalisierten Regressionsmodelle  zeigen zusätzlich auf, dass das Diagnoserisiko und die orthopädische Inanspruchnahmewahrscheinlichkeit bei Rückenschmerzen regional sehr deutlich innerhalb der Risikogruppen variieren. Damit liefert unsere Untersuchung Hinweise auf ein regional unterschiedlich ausgeprägtes Inanspruchnahmeverhalten für die Diagnose und orthopädische Inanspruchnahme bei Rückenschmerzen. Damit liefert unsere Analyse einen Grundstein, die orthopädische Versorgung noch stärker an die spezifischen Risiko- und Nutzergruppen in den Regionen anzupassen. Anhand unserer Ergebnisse  wird auch deutlich, dass es sich bei der Prävalenz von Rückenschmerzen und der resultierenden Inanspruchnahme der Orthopäden zum Teil um eine angebotsinduzierte Prävalenz und Nachfrage handelt. Allerdings ist eine Aussage zu einer möglichen Fehl- oder Unterversorgung anhand unserer Ergebnisse nicht möglich. Hierzu wäre eine vergleichende Analyse mit den Daten des stationären Sektors notwendig, um die Versorgungssituation umfassend bewerten zu können. <<

Ausgabe 05 / 2020

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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