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Evidenzbasierte Entscheidungen statt Tunnelblick

Berichte über seltene schwere Komplikationen im Zusammenhang mit der Verwendung des „Vaxzevria“-Impfstoffes von AstraZeneca haben zu einer erheblichen Verunsicherung der Impflinge geführt. Dazu schreibt das renommierte „Winton Centre for Risk and Evidence Communication“ der Universität Cambridge (Prof. David Spiegelhalter): „Alle medizinischen Behandlungen haben sowohl potenzielle Schäden als auch potenziellen Nutzen, und es ist wichtig, diese gegeneinander abwägen zu können“. In dem Artikel „Communicating the potential benefits and harms of the Astra-Zeneca Covid-19-vaccine“ (1) berichtet das Winton Centre über den potenziellen Nutzen und Schaden des Covid-19-Impfstoffs von AstraZeneca in Abhängigkeit von Alter und Expositionsrisiko. Demnach überwiegt der potenzielle Nutzen (vermiedene Aufnahme in die Intensivstation) die potenziellen Schäden (Blutgerinnsel) bei weitem. Nur bei Menschen unter 30, die ein geringes Expositionsrisiko haben, bringt das Impfen keinen Vorteil. Dazu meint Prof. Woods, ehemaliger Chef der Britischen Zulassungsbehörde, nach einem Bericht der „Financial Times“ (2), dass es „auf dem Kontinent keine solche evidenzbasierte Analyse“ gäbe und er den Eindruck habe, dass man dort „die Zahlen aus der Luft gegriffen“ habe.

http://doi.org/10.24945/MVF.03.21.1866-0533.2307

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>> Das Winton Centre verglich den potenziellen Nutzen und Schaden der „Vaxzevria“-Impfung für insgesamt 15 verschiedene Gruppen von Menschen, die sich in ihrem Risiko unterscheiden: Fünf Altersgruppen mit jeweils drei Gruppen unterschiedlichen Expositionsrisikos (niedrig, mittel, hoch). Die Gruppe mit dem niedrigsten Risiko einer ernsthaften Erkrankung an Covid-19 bilden junge Menschen (unter 30 Jahre alt) mit geringer Exposition, die das Winton Centre mit einer Inzidenz von 2 auf 10.000 pro Tag ansetzt, was in etwa der von Großbritannien im März 2021 entspricht. Nur diese Subpopulation hat nach der Berechnung des Instituts „ein größeres Risiko, nach der Impfung durch ein Blutgerinnsel ernsthaft geschädigt zu werden, als ohne Impfung auf eine Intensivstation (ICU) aufgenommen zu werden.“ Alle anderen Risikogruppen profitieren hingegen in hohem Maße von einer Impfung mit dem nicht nur in Deutschland viel diskutierten Impfstoff von AstraZeneca (Abb. 2).
Ähnliches könnte nicht nur „Vaxzevria“ (AstraZeneca), sondern auch für das „Janssen Covid-19 Vaccine“ (Ad26.COV2.S) von Janssen-Cilag/Johnson & Johnson, „Convidecia“ (CanSino Biologics) oder „Sputnik V“ (Biocad) sowie weitere Kandidaten (3) gelten. Dies gilt dann, wenn – was diskutiert wird – die seltene, schwere Komplikation einer „Vaccine-induced immune thrombotic thrombocytopenia“ (VITT) als Klasseneffekt aller Impfungen mit (Adenovirus-)Vektorvakzinen anzusehen ist (4, 5). Im Übrigen werden Hirn-
venenthrombosen auch nach Covid-19-Diagnose beschrieben (6).

Eine Risiko-Abwägung

Das Winton Centre konnte zeigen, dass Menschen in der Altersgruppe 30-40 Jahre, die nur ein moderates Risiko haben, mit  SARS-CoV-2 in Kontakt zu kommen, ein 10-mal höheres Risiko haben, mit der Krankheit auf die Intensivstation eingeliefert zu werden, als durch „Vaxzevria“ geschädigt zu werden.
Für Menschen in der Altersgruppe von 60-70 Jahren hingegen ist das Risiko eines schweren Covid-19-Verlaufs rund 600-mal größer als ein ernsthafter Schaden durch die Impfung (7). Nur für Erwachsene unter 30 Jahren seien die Risiken von Covid-19 und der Impfung je nach Infektionsrate vergleichbar (Abb. 1), jedoch bei unter 30-Jährigen in einer Umgebung mit geringer Exposition leicht negativ.
Als Basis ihrer Aussagen haben die Risikoforscher des „Winton Centre for Risk and Evidence Communication“ folgende Annahmen getroffen:
• Als Maß für den Nutzen der Impfung wird die Aufnahme auf eine Intensivstation wegen Erkrankung an Covid-19 genommen.
• Dabei wird für alle Altersgruppen eine Impfstoff-Wirksamkeit von 80% zu Grunde gelegt.
• Ebenso wird von einer konstanten Virusexposition über 16 Wochen ausgegangen, wobei – wie die Forscher des Winton Centre mit britischem Humor schreiben – „wahrscheinlich nur sehr wenige Menschen in Großbritannien 16 Wochen mit der höchsten Expositionsrate erleben“ würden.
• Zudem sei bei diesen Annahmen zu beachten, dass eine geimpfte Person den Nutzen über die gesamte Dauer des Impfschutzes ansammelt, das Risiko der Impfung indes nur zum Zeitpunkt der Impfung auftrete. Das bedeute, dass mit der Zeit der Nutzen zunimmt, das Risiko jedoch nicht.
• Wichtig sei es auch, dass nur die vermiedene Aufnahme auf eine Intensivstation aufgrund von Covid-19 als Nutzen angenommen wurde. Für jede Person, die vor einer Einweisung auf die Intensivstation bewahrt werde, gebe es viele weitere, die vor einem Krankenhausaufenthalt und einer „Long Covid“-Erkrankung bewahrt werden könnten. Auch werde nicht jener Nutzen dargestellt, den die Nichtverbreitung des Virus auf andere habe.
Weiters wurde als Grundannahme der mathematischen Berechnung der Anteil der Krankenhausaufenthalte in einer Kohorte anhand der Schätzungen der Covid-19-Hospitalisierungsraten für die untersuchten 10-Jahres-Alterskohorten angenommen. Diese seien der Tabelle 1 des Berichts der „Scientific Pandemic Influenza Group on Modelling, Operational sub-group“ (SPI-M-O) vom 29. Juli 2020 entnommen  worden (8).

Die politische Dimension

„Die Entscheidung, die Impfung nur für Personen unter 30 Jahren zuzulassen, steht im Gegensatz zu einer strengeren Haltung in anderen Ländern“. Das schreiben die „Financial Times“-Autoren (1), die in ihrem Beitrag insbesondere die unterschiedliche Art und Weise thematisieren, wie europäische Länder mit dem Impfstoff von AstraZeneca umgehen.
Großbritannien würde sich bei seiner Entscheidung, bei welcher Altersgruppe dieser Impfstoff am besten zu verabreichen sei, auf Untersuchungen des „Winton Centre for Risk and Evidence Communication“ stützen, während es „auf dem Kontinent keine solche evidenzbasierte Analyse“ gebe und man den Eindruck habe, „dass sie die Zahlen aus der Luft gegriffen“ hätten.
Mit dieser Aussage zitiert das Autorentrio niemand anderen als Prof. Kent Woods, den ehemaligen Leiter der britischen Arzneimit­telbehörde „Medicines and Healthcare products Regulatory Agency“ (MHRA). Dieser sei „sehr überzeugt“ von der „sorgfältig und klar argumentierten“ Präsentation der früher von ihm geleiteten Aufsichtsbehörde und der anschließenden Erklärung des „Joint Committee on Vaccination and Immunisation“ (JVCI). Deren Beschluss sieht vor, dass in Großbritannien nur für unter 30-Jährige eine alternative Impfung zu AstraZeneca zu empfehlen sei. In vielen anderen Ländern – von Spanien über Deutschland, Italien bis zu den Philippinen – wäre die Anwendung hingegen auf Menschen über 60 beschränkt worden.
Woods kritisierte weiter, dass der Entscheidungsprozess in Frankreich, Deutschland und anderswo in „vielerlei Hinsicht ungeordnet“ abgelaufen sei. Ebenso hätte es „eine Trennung zwischen der Europäischen Arzneimittelagentur und den Aktivitäten der nationalen Mitgliedstaaten“ gegeben. Dies, obwohl MHRA und EMA zu ähnlichen Schlussfolgerungen über die Nebenwirkungen des Impfstoffs von AstraZeneca gekommen seien.

Auswirkung auf die Impfkampagnen

Warum ist das so? Eine mögliche Antwort gibt in dem FT-Beitrag Simon Kroll, Professor für Pädiatrie und molekulare Infekti­onskrankheiten am Imperial College London und Mitglied des JCVI. Er geht davon aus, dass „die Entscheidungen der Behörden in anderen Ländern die unterschiedliche Wahrnehmung des Risikos dort widerspiegeln“ könnten. Kroll wird so zitiert: „Wir haben einen National Health Service, dem sehr viel Vertrauen entgegengebracht wird und von dem man glaubt, dass er im Interesse der Menschen handelt. Es ist ein NHS, der hinter der Impfung steht, was uns im Großen und Ganzen eine Bevölkerung beschert hat, die Ratschläge akzeptiert, die gewissenhaft gegeben werden.“
Wenn nun andere Länder mit den gleichen Daten arbeiten, die in Großbritannien präsentiert werden, so vermutet er, „müssen wir davon ausgehen, dass ihre Schlussfolgerungen von anderen Überlegungen geleitet wurden als nur von den Zahlen des Risikos“.
Das Flußdiagramm (Abb. 3) der prognostizierten britischen Impfungen (Erstdosen) zeigt deutlich auf, dass das britische Impfprogramm weit mehr als das deutsche auf ein bestimmtes Vakzin angewiesen ist – eben das von AstraZeneca. Die Grafik zeigt, dass der Impfstoff von AstraZeneca ein ganz wesentlicher Bestandteil des britischen Impfstoffportfolios ist, das von 6,8 Mio. Dosen im Januar auf 24,3 Mio. Dosen im Juli  2021 anwachsen wird. Im Juni, wenn die unter 30-Jährigen geimpft werden sollen, wird er – so die Autoren – bereits über 40% der britischen Impfstofflieferungen ausmachen.
Zum Vergleich: In Deutschland machte der Impfstoff von AstraZeneca im 1. Quartal 2021 einen Anteil von 28,7% und im 2. Quartal von nur noch 19,3% und im 4. Quartal 17,4% (Abb. 4 und Tab. 1).
Sollte auch auf das „Covid-19 Vaccine Janssen“ von Janssen-Cilag/Johnson & Johnson eine Anwendungsbeschränkung auf Menschen über 60 hinzukommen, würde die Impfkampagne 2021 in Deutschland sicherlich etwas, aber nicht so gravierend wie in Großbritannien beeinträchtigt werden, da für das Impfziel (vollständige Impfung bis 31. Juli 2021) ausreichend Impfstoff verfügbar ist (Abb. 4) und anders als in Großbritannien hierzulande die Altersgruppe über 60 Jahre noch nicht durchgeimpft ist.
In Großbritannien hingegen würde laut FT-Artikel die Impfkampagne „völlig aus dem Ruder laufen“, wenn die Impfung von AstraZeneca nur bei Menschen über 55 oder 60 Jahren erlaubt wäre. Eben deshalb, weil in dieser Altersgruppe die meisten in Großbritannien ohnedies bereits geimpft wurden.
Das Redakteurstrio zitiert in seinem Beitrag in der „Financial Times“ nicht näher genannte „Beobachter“. Diese würden sagen, dass die „vorsichtige Herangehensweise“
Großbritanniens „nicht nur die Risiken und Vorteile des Impfstoffs von AstraZeneca selbst“ berück­sichtige, sondern „auch die Notwendigkeit, das Impfprogramm auf Kurs zu halten, um jedem Erwachsenen bis Ende Juli eine Impfung anzubieten“.

Komplexe Entscheidung verständlich kommunizieren

In einer aktuelleren Publikation (10) weist das Winton Centre darauf hin, dass neue Daten der MHRA und die sinkende Inzidenz von Covid-19 in Großbritannien bedeuten, dass die Aussagen vom April 2021 (Abb. 2) zwischenzeitlich nicht mehr aktuell sind. Wegen der erfolgreichen Impfkampagne hat das Expositionsrisiko in Großbritannien  zwischenzeitlich stark abgenommen und die Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff bringt daher für die meisten Menschen erst ab einem Alter von über 40 Jahren einen Vorteil gegenüber der Nicht-Impfung (Stand: Mai 2021). Dementsprechend hat die britische Impfkommission ihre Empfehlung seither angepasst: Menschen unter 40 sollten „Vaxzevria“ nur noch bekommen, wenn sich der Impfzeitpunkt dadurch nicht substanziell verzögert (11).
Man sieht: Die Entscheidung über die Verwendung eines Impfstoffes ist eine komplexe Angelegenheit – das Risiko-Nutzen-Verhältnis variiert zwischen verschiedenen Menschen und hängt ab von der sich ändernden Inzidenz sowie der Verfügbarkeit alternativer Impfstoffe. Das Beispiel zeigt aber auch, dass evidenzbasierte Entscheidungen und deren Kommunikation durchaus möglich sind.
Auf Anfrage eines Wissenschaftsreporters in Italien hat das Winton Centre eine ähnliche Grafik für Italien erstellt, um den potenziellen Nutzen und Schaden des Covid-19-Impfstoffs von AstraZeneca zu veranschaulichen (12). Vergleichbares hätte man sich auch hierzulande gewünscht.

Der Tunnelblick

Das Hin und Her von STIKO, PEI und BMG in Bezug auf den AstraZeneca-Impfstoff (erst nur für Jüngere wegen angeblich geringerer Wirksamkeit bei Älteren, dann nur für Ältere wegen Risikos für Jüngere, aktuell wohl eher nach Belieben) hat in der Bevölkerung sicher den Eindruck ungeordneter Entscheidungsprozesse hinterlassen. Dies hängt möglicherweise mit einem Tunnelblick der Bürokratie zusammen: Der Fokus lag auf den möglichen Risiken des Produktes – ohne Betrachtung des Risikos durch die unterlassene Impfung. Ähnlich fatal war bereits der Tunnelblick bei der Impfstoffbestellung auf europäischer Ebene: Der Fokus lag auf Haftungsrisiken und Produktkosten – ohne Betrachtung auch der volkswirtschaftlichen Kosten einer verspäteten Impfkampagne. In beiden Fällen fehlte das systematische Abwägen von Kosten/Risiko und Nutzen aus einer übergeordneten Gesamtperspektive (13). <<
von: Dr. Josef Leiter (1) und Peter Stegmaier (2)

1: Leiter & Cie; 2: Monitor Versorgungsforschung

Literatur

1: https://wintoncentre.maths.cam.ac.uk/news/communicating-potential-benefits-and-harms-astra-zeneca-covid-19-vaccine/
2: https://www.ft.com/content/5db4a13f-11b1-4f1e-891b-9f68c639a6f9
3: https://www.who.int/publications/m/item/draft-landscape-of-covid-19-candidate-vaccines
4: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2104882
5: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa21048403
6: https://osf.io/a9jdq/
7: https://podcasts.google.com/feed/aHR0cHM6Ly93d3cubmRyLmRlL25hY2hyaWNodGVuL2luZm8vcG9kY2FzdDQ2ODQueG1s/episode/QVUtMjAyMTA0MjAtMTczNi01NTAwLUE?hl=de&ved=2ahUKEwj4vOON45HwAhUahP0HHZzPANYQieUEegQIDhAF&ep=6
8: https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/958856/S0662_SPI-M-O_update_on_reasonable_worst_case_scenarios.pdf
9: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Impfstoff/Lieferprognosen_verschiedene_Hersteller_2021.pdf
10: https://wintoncentre.maths.cam.ac.uk/news/latest-data-mhra-blood-clots-associated-astra-zeneca-covid-19-vaccine/
11: https://www.gov.uk/government/news/jcvi-advises-on-covid-19-vaccine-for-people-aged-under-40
12: https://wintoncentre.maths.cam.ac.uk/coronavirus/using-italian-data-illustrate-potential-harms-and-benefits-astrazeneca-vaccine/
13: https://www.monitor-versorgungsforschung.de/Abstracts/Kurzfassungen-2021/MVF-02-21/MVF0221_Impfstoffkapazitaet-erweitern

 

Zitationshinweis:
Leiter, J., Stegmaier, P.: „Corona: Evidenzbasierte Kommunikation ist möglich“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (03/21), S. 16-19. http://doi.org/10.24945/MVF.03.21.1866-2307

Ausgabe 03 / 2021

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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