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Ein Verbesserungsvorschlag zur Bewertung der Gentherapie

02.04.2020 14:00
In Deutschland hat sich innerhalb kurzer Zeit eine nicht emotionsfreie Diskussion über den Zugang zu innovativen Arzneimitteln und deren Kostenerstattung entwickelt. Mit unserem Beitrag möchten wir einen Verbesserungsvorschlag in die Diskussion einbringen, der auf Methoden der sogenannten Künstlichen Intelligenz zurückgreift, obwohl alles ganz einfach zu verstehen ist.

http://doi.org/10.24945/MVF.02.20.1866-0533.2210

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>> In Deutschland hat sich innerhalb kurzer Zeit eine nicht emotionsfreie Diskussion über den Zugang zu innovativen Arzneimitteln und deren Kostenerstattung entwickelt. Mit unserem Beitrag möchten wir einen Verbesserungsvorschlag in die Diskussion einbringen, der auf Methoden der sogenannten Künstlichen Intelligenz zurückgreift, obwohl alles ganz einfach zu verstehen ist.  
Die erste Regel der Architekten und Designer des Dessauer Bauhauses (gegründet 1919) und der hochschule für gestaltung ulm (hfg ulm, gegründet 1953) besagt, dass zuerst festgelegt werden soll, welche Funktion ein Bauwerk erfüllen sollte, bevor über das Design (die Form) des Bauwerks entschieden wird. Diese Sequenz beschreibt ein allgemeingültiges Verfahren, das auch bei der Planung wissenschaftlich klinischer Projekte angewandt werden kann: Zuerst ist zu entscheiden, welche Frage durch ein klinisches Projekt beantwortet werden soll, bevor entschieden wird, welches Werkzeug zur Beantwortung der Frage angewandt werden sollte.  
Wir Gesundheits-Wissenschaftler sind auf dem besten Weg, geradezu das Gegenteil dessen zu tun, was uns die amerikanischen Architekten seit 1899 auf Grund ihrer Erfahrungen empfehlen, die sie beim Bau der ersten Wolkenkratzer in Chicago gesammelt haben (1). Diese und andere Erfahrungen haben die Designer-Schulen in Dessau und Ulm ihren Studenten vermittelt. Wenn man diese Regel auf das Problem der Finanzierung des Fortschritts im Gesundheitssystem anwendet, werden andere Handlungsmöglichkeiten als der aktuell vorgeschlagene Weg zu erwägen sein. Der vorgeschlagene Weg sieht vor, das Kostenproblem im Gesundheitssystem durch klinische Register zu lösen (2, 3).
Wenn man sich die Merkmale eines Registers vor Augen hält, wird klar, dass ein Register das Prinzip einer klinischen Studie umkehrt, weil im Register zuerst die Daten gesammelt und dann die Fragen gestellt werden, während in einer klinischen Studie zuerst die Fragen gestellt und dann entschieden wird, welche Daten zur Beantwortung der Fragen zu sammeln sind (4). Es wird kaum möglich sein, ein Register zu entwickeln, das alle Variablen erfassen kann, die bei allen denkbaren späteren Fragestellungen zu deren Beantwortung benötigt werden. Wer die Frage exakt formulieren kann, die er beantworten will, sollte eine klinische Studie durchführen. Register eignen sich primär zur Generierung, nicht aber zur Prüfung von Hypothesen.
Der Vorschlag, den wir unterbreiten möchten, bezieht sich auf drei Arten von klinischen Studien, die sich durch den Nachweis verschiedener Funktionen einer neuen Intervention unterscheiden. Die Funktionen sind der Nachweis
1) der Efficacy d.h. des Proof of Principle oder
2) der Real World Effectiveness, d.h. der Alltagstauglichkeit oder
3) des subjektiven Wertes, d.h. des Value aus der Sicht individueller Patienten und der Solidargemeinschaft.

Wenn entschieden ist, welche dieser Funktionen einer neuen Intervention nachgewiesen werden soll, kann die nächste Entscheidung, die Wahl der Form dieser Intervention daraus abgeleitet werden. Diese Reihenfolge bei den zu treffenden Entscheidungen einzuhalten, hat uns das Bauhaus in Dessau und die hfg in Ulm vermittelt.
Um einen dieser drei Nachweise erbringen zu können, stehen verschiedene Werkzeuge zur Verfügung:
1) Das Randomized Controlled Trial (RCT),
2) das Pragmatic Controlled Trial (PCT) und letztlich
3) eine Complete Economic Analysis (CEA).

Der erste Nachweis erfordert als Werkzeug ein RCT, der zweite ein PCT und der dritte eine CEA. Zudem ist zu beachten, dass der erste Nachweis nur unter Experimental Study Conditions (ESC) erbracht werden kann, während die beiden anderen Nachweise nur sinnvoll sind, wenn sie unter Real World Conditions (RWC) erbracht werden, weil hier nicht interessiert, was unter Laborbedingungen zu erreichen ist, sondern was in der Alltagsversorgung bestätigt werden kann. Die bei der Anwendung dieser Methoden zu berücksichtigenden Details sind beschrieben (5-7).
Das PCT verwendet an Stelle der Randomisation das Bayes Prinzip (8). Dieses Prinzip berücksichtigt alle Rahmenbedingungen, welche den Eintritt eines definierten Ereignisses beeinflussen. Hier beginnt die Künstliche Intelligenz. Dazu zwei Beispiele. Wenn die Mortalität als Endpunkt eines Projektes gemessen wird, sind alle bestehenden Erkrankungen eines Patienten zu erfassen, welche das Mortalitätsrisiko steigern, z.B. eine ausgeprägte Koronarerkrankung oder ein langjährig bestehendes Metabolisches Syndrom. Wenn ein anderer Endpunkt gemessen wird, z.B. allergische Reaktionen als eine Form einer unerwünschten Arzneimittelnebenwirkung, wäre ein bereits bestehendes allergisches Asthma als Risikofaktor, nicht aber eine Koronarerkrankung zu berücksichtigen. Diese Beispiele zeigen, dass abhängig vom gemessenen Endpunkt unterschiedliche Informationen zu erheben sind, um das „endpunkt-spezifische Risiko“ klassifizieren zu können. Diese Informationen lassen sich mit einem traditionellen Register nicht bereitstellen. Theoretisch könnten diese umfangreichen Informationen mit einem Mega-Register erfasst werden, was aber jeweils um die Daten ergänzt werden müsste, die erforderlich sind, um die endpunkt-spezifischen Risiken beschreiben zu können.
Fazit
Um den Proof of Principle nachzuweisen, genügen im Idealfall zwei valide RCTs mit überzeugenden Effekten. Diese RCTs sollten an einem Krankheitsbild durchgeführt werden, welches a priori die höchste Wahrscheinlichkeit eines Behandlungserfolges beinhaltet. Alle weiteren Details, die eine Vielzahl von Variablen enthalten, sind mit Studien unter Alltagsbedingungen zu erheben.
Mit dem Nachweis von Effekten unter Alltagsbedingungen soll in erster Linie den Patienten geholfen werden, indem Innovationen auf den Markt kommen, die den Patienten nachweislich nützen. Zudem wird die Zahl der (für die Industrie) erforderlichen und damit die Zahl der (für die Patienten) überflüssigen RCTs erheblich reduziert, die Zeit von der Laborbank bis zur Versorgung wird erheblich verkürzt, die Entwicklungskosten werden gesenkt, ebenso wie das Risiko für die Krankenversicherung, zu viel zu bezahlen, und den Herstellern neuer
Interventionen wird garantiert, dass in der Phase der Prüfung der Alltagstauglichkeit, d.h. unmittelbar nach dem Nachweis des Proof of Principle, eine Mischfinanzierung zur Durchführung der PCTs eine gerechte Lösung wäre, weil alle Partner des Systems, die Patienten, die Kassen und die Hersteller davon profitieren.
Die Umsetzung des PCTs erfordert in der Tat die Unterstützung durch die IT, weil die Komplexität der Information zwar nicht übermäßig hoch aber doch zu hoch ist, um sie ohne IT bewältigen zu können. Dazu sind verschiedene Bereiche der Künstlichen Intelligenz zu bedienen. Zum einen ist eine Strategie zu entwickeln, die eine fehlerfreie Lösung des Problems ermöglicht. Zweitens ist ein Algorithmus zu entwickeln, um die erhebliche Vielfalt der unterschiedlichen Gesundheitsprobleme verschiedener Patienten so zu klassifizieren, dass eine überschaubare Zahl verschiedener, aber in sich möglichst homogener Patienten-Gruppen entsteht. Dasselbe ist für die Interventionen vorzubereiten, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Versorgungsalltag manche Therapien mehrfach an einem Tag verändert werden können, während andere über Monate konstant bleiben. Die eingegebenen Daten müssen nach dem Algorithmus aufbereitet und danach durch das System den Anforderungen entsprechend verarbeitet und in lesbarer Form ausgegeben werden. Ohne konkrete Vorstellung jedes einzelnen Detailschritts kann eine Lösung des Problems nicht erwartet werden.
Mit anderen Worten: Grundlage der Analyse ist ein optimiertes Register, welches nicht nur die Daten enthält, sondern auch die Regeln beschreibt, mit welchen die Daten des Registers zusammengefasst werden können. Diese Regel ist als mathematische Beziehung zu beschreiben, welche die Maschine lesen, verstehen und bearbeiten kann (9).
Neben diesem strikt evidenzbasierten Lösungsweg werden für Härtefälle immer Entscheidungen im Stadium der Unsicherheit aus humanitären Gründen zu treffen sein. Hätte man Daten über die Erfolgsrate dieser Härtefall-Entscheidungen – unabhängig von den Details des Einzelfalls – wäre diese Information für alle Beteiligten hilfreich (10).
Wir bemühen uns weiterhin, eine erste Studie gefördert zu bekommen, um in Kooperation mit 16 deutschen Intensivstationen den Nachweis zu erbringen, dass der Mehrwert, die unerwünschten Effekte und die Kosten der Versorgung ohne Verzerrung auch auf Intensivstationen dokumentierbar sind. <<

Zitationshinweis:

Porzsolt, F., Weiß, M., Weiß, C.: „Ein Verbesserungsvorschlag zur Bewertung der Gentherapie“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/20), S. 36-37, doi: 10.24945/MVF.02.20.1866-0533.2210

 

Literatur
1. Sullivan LH. The Tall Office Building Artistically Considered. Lippincott’s Magazine 1896;57: 403-409. Reprinted in Inland Architect and News Record 27 (May 1896), pp. 32-34; Western Architect 31 (January 1922), pp. 3-11; published as “Form and Function Artistically Considered” The Craftsman 8 (July 1905), pp. 453-58. https://www.giarts.org/article/tall-office-building-artistically-considered-excerpt. Last access Oct 22, 2019
2. Maybaum Th, Gießelmann K. Kassen und Ärzte unter Druck. Dtsch Ärztebl 2019;116: C1777
3. Ziegler A, Müller-Felber W, Hahn A, von Moers A, Schara U, Kirschner J. Gentherapie ohne Zulassung. Dtsch Ärztebl 2019;116:C1778-1780
4. Porzsolt F, Geier J. Vorteile und Limitationen von Registern und Klinischen Studien in der Versorgungsforschung. Forum Versorgungsforschung 2013;6:33-37
5. Porzsolt F, Eisemann M, Habs M, Wyer P. Form Follows Function: Pragmatic Controlled Trials (PCTs) have to answer different questions and require different designs than Randomized Controlled Trials (RCTs). J Publ Health 2013;21:307-313. DOI 10.1007/s10389-012-0544-5
6. Porzsolt F, Rocha NG, Toledo-Arruda AC, Thomaz TG, Moraes C, Bessa-Guerra TR, Leão M, Migowski A, Araujo de Silva AR, Weiss C. Efficacy and Effectiveness Trials Have Different Goals, Use Different Tools, and Generate Different Messages. Pragmatic and Observational Research 2015;6:47-54. DOI http://dx.doi.org/10.2147/POR.S89946
7. Porzsolt F, Weiss Ch, Weiss M, Müller AG, Becker SI, Eisemann M, Kaplan RM. Versorgungsforschung braucht dreidímensionale Standards zur Beschreibung von Gesundheitsleistungen [Health services research needs three-dimensional standards for description of health services]. Monitor Versorgungsforschung 2019;04:53-60. http://doi.org/10.24945/MVF.04.19.1866-0533.2163
8. Grayne SB. The Theory That Would Not Die: How Bayes‘ Rule Cracked  the Enigma Code, Hunt-ed Down Russian Submarines, and Emerged Triumphant from Two Centuries of Controversy. Yale University Press 2011. New Haven London.
9. Pearl J, Mackenzie D. The Book of Why: The New Science of Cause and Effect. Basic Books, New York. First edition. 2018
10. Gießelmann K. Gentherapie. Härteprogramm gefordert. Dtsch Ärztebl 2019;116:C1824

Ausgabe 02 / 2020

Editorial

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Reinhold
Roski

 

 

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