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„Keine Digital-Placebos, sondern echte Verbesserungen“

07.12.2020 09:00
„Wir werden 2021 weiter hart daran arbeiten, mit dieser Dynamik die Versorgungs- und Servicethemen im Nordosten zusammen mit unseren Partnern voranzubringen.“ Das sagt Daniela Teichert, Vorsitzende des Vorstandes der AOK Nordost, im Interview mit „Monitor Versorgungsforschung“. Das erste Jahr ihrer im Januar dieses Jahres begonnenen Amtszeit war – anders als die vielen Jahre ihres Vorgängers, Frank Michalak – geprägt von der Corona-Pandemie. Dennoch durfte das Tagesgeschäft, vielseitige Projekte und auch andere große Herausforderungen wie die Digitalisierung nicht hintanstehen. Teichert: „Digitale Anwendungen sind kein Selbstzweck und dürfen auch nicht als separate Säule in der gesundheitlichen Versorgung betrachtet werden.“

http://doi.org/10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2255

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>> Frau Teichert, wir haben das Interview zu einer Zeit vereinbart, als wir in Deutschland den Eindruck hatten, die Corona-Krise doch ganz gut in den Griff zu bekommen. Jetzt sind wir mitten in der zweiten Welle. Was lernen Sie aus der Krise?
Wenn man etwas Gutes aus der Krise ziehen will, dann das: Wir verfügen in Deutschland über eines der leistungsfähigsten und stabilsten Gesundheitssysteme der Welt. Auch wenn Pfleger und Ärzte, denen übrigens aktuell nicht genug gedankt werden kann, nach einem trügerisch ruhigen Sommer jetzt wieder gefordert und belastet sind, auch wenn die Gesundheitsbehörden bei der Eindämmung der Infektionen an unzähligen Fronten kämpfen müssen und vor allem auch wenn viele Menschen nachvollziehbar Sorgen und Ängste haben: Das solidarisch verfasste Gesundheitssystem in Deutschland hat den größten Stresstest seit Jahrzehnten bestanden. Dass wir als gesetzliche Krankenkassen das System finanziell entscheidend am Laufen gehalten haben, hat mir gezeigt, wie sehr wir gebraucht werden. Zugleich zeigt uns die Krise, wie vielen anderen Unternehmen und Branchen auch, dass wir liebgewonnene Strukturen oder Geschäftsmodelle im Gesundheitssystem stärker hinterfragen müssen. Daran arbeiten wir bei der AOK Nordost übrigens nicht erst seit Corona. Seit der Krise hat sich aber die Geschwindigkeit vervielfacht, in der wir an Strukturfragen arbeiten. Die Corona-Krise hat wie ein Teilchenbeschleuniger gewirkt und wird es weiter tun. Vor allem in Bezug auf die Digitalisierung.

Anlässlich des MVF-Fachkongresses „Real-World-Evidenz“, der im November letzten Jahres im Scharoun-Saal der AOK Nordost stattfand, erklärte Ihr Amtsvorgänger, dass die in den kommenden Jahren in Rente gehenden Mitarbeiter der AOK Nordost „nicht personell ersetzt, sondern durch digitale Lösungen substituiert“ würden.
Uns verlässt bis 2025 altersbedingt rund ein Drittel unserer Mitarbeitenden. Wir haben deshalb bereits vor Längerem damit begonnen, arbeitsintensive Prozesse zu automatisieren und zu optimieren, was uns natürlich auch in der Corona-Krise zugutekommt. Den Versicherten wiederum spart es Zeit und unnötige Wege, wenn sie Bescheinigungen oder Anträge einfach über unser Online-Portal „Meine AOK“ oder die dazugehörige App einreichen können.

Funktioniert das?
Die Pandemie hat gezeigt: Wir sind, was digitale Lösungen betrifft, auf einem guten Weg. Auch was etwa das flexible Arbeiten betrifft: So konnten bei uns bisher schon 2.500 Mitarbeitende mobil oder von zu Hause arbeiten. In der Krise haben wir ad hoc noch einmal für rund 500 weitere Mitarbeitende Homeoffice-Arbeitsplätze eingerichtet. Die Arbeit von zu Hause funktioniert aber auch nur, weil etwa die Eingangspost mittlerweile überwiegend digital erfasst und bearbeitet wird. So waren wir gut vorbereitet, auch in der Krise alle wichtigen Prozesse wie gewohnt am Laufen zu halten. Unsere Versicherten sowie Leistungspartner mussten deshalb keine Abstriche bei der Betreuung durch ihre Krankenkasse hinnehmen. Im Gegenteil: Wir haben viel Feedback erhalten, dass wir uns in der Krise als verlässlicher Partner erwiesen haben.  

Vor diesem Hintergrund gefragt: Gibt es eine formulierte Transformationsstrategie?
Wir haben ein klares Ziel vor Augen und natürlich auch eine Strategie, wie wir dieses erreichen wollen. Allerdings umfasst diese Transformationsstrategie weitaus mehr als die angesprochene personelle Umstrukturierung. Natürlich müssen wir uns der Frage stellen, wie wir damit umgehen, dass wir in den nächsten Jahren viele Mitarbeitende in ihren wohlverdienten Ruhestand verabschieden. Aber das ist nur ein Aspekt einer übergreifenden Leitfrage, die meiner Meinung nach vielmehr lautet: „Wie stellen wir uns als Krankenkasse auf in einer Zeit, in der der kontinuierliche Wandel die einzige wirkliche Konstante ist?“

Und wie wollen Sie das machen?
Als größte regionale Krankenkasse im Nordosten sehen wir uns in der Rolle einer aktiven Gestalterin des Gesundheitssystems – und damit auch als erste Ansprechpartnerin für die Politik. Unser Ziel ist es, gemeinsam mit unseren Vertragspartnern auch in Zukunft eine gute Versorgung unserer Versicherten zu gewährleisten – wohnortnah, effizient und bedarfsgerecht. Dafür müssen wir alle Bereiche in den Blick nehmen: Vertragspartner, Mitbewerber, Politik und eben unsere Versicherten und deren Bedürfnisse in der Versorgung.
Dabei werden wir von mehreren Faktoren beeinflusst: Zum einen durch den demografischen Wandel, der sich nicht nur bei unseren Versicherten bemerkbar macht. Von der Demografie ist natürlich auch das medizinische Personal betroffen, fehlender Nachwuchs wird das Fachkräfteproblem in vielen Bereichen massiv verschärfen. Diese Herausforderungen müssen wir in einer Zeit bewältigen, in der der Gesetzgeber den gesetzlichen Krankenkassen nicht nur stetig neue Mehrausgaben aufbürdet, sondern auch unverhältnismäßig in die Selbstverwaltung eingreift und verantwortungsvoll erwirtschaftete Reserven abkassieren will. Das ist vor allem auch ein Thema für die ostdeutschen Bundesländer: Neben dem erzwungenen Rücklagen-Abbau zur Sicherung der „Sozialgarantie“ wird Ostdeutschland zugleich auch beim Finanzausgleich über Gebühr benachteiligt. Durch die sogenannte Regionalkomponente beim Risikostrukturausgleich (RSA) fließen Gelder künftig vom Land in die Stadt – Stichwort Metropolenzuschlag. Die eher ländlich geprägten ostdeutschen Länder verlieren allein durch diese RSA-Mechanik im Jahr 2021 voraussichtlich 400 Millionen Euro.
Das ist umso unverständlicher, da wir uns seit Jahren mit regionalen Partnern in Programmen und Projekten engagieren, die die Versorgung vor allem im ländlichen Raum nachweislich verbessern. Die AOK-Initiative Stadt.Land.Gesund. zeigt eindrücklich, wie vielfältig dieses Engagement ist. Da wollen wir keine Abstriche machen, sondern es ausbauen und weiterentwickeln.

Sie spielen sicher auf das Innovationsfonds-Projekt „StimMT“ in der Uckermark an, bei dem ein Ambulant-Stationäres Zentrum eine sektorenübergreifende Versorgung gewährleisten soll.
Nicht nur, aber richtig, StimMT ist eines der Projekte, für die wir uns engagieren. Wir denken aber schon weiter. Deshalb habe ich in unserem Haus das Projekt „Gesundheitsversorgung – Strukturmigration
2030“ ins Leben gerufen. In diesem Projekt geht es darum, wie wir gemeinsam mit den Akteuren vor Ort die Gesundheitsversorgung am besten organisieren können. Das heißt, Versorgungskonzepte müssen auf die tatsächlichen Bedarfe in der Region zugeschnitten sein und die vorhandenen finanziellen und personellen Ressourcen müssen wirtschaftlich klug so eingesetzt werden, dass ein größtmöglicher Nutzen für die Bevölkerung daraus entsteht. Aus unserer Sicht bedarf es dazu vor allem in den dünn besiedelten und demografisch herausgeforderten ländlichen Regionen einer Strukturmigration, basierend auf kooperationsfördernden Organisationsmodellen, Trägerschaften und Finanzierungssystemen. Alle Akteure des Gesundheitssystems in der Region tragen dabei die gemeinsame Verantwortung.
Die Digitalisierung bildet das Dach über all dem. Wir wissen aus der Praxis, dass sich mit zunehmender Digitalisierung in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen die Erwartungen der Menschen verändert haben. Was im privaten Bereich selbstverständlich ist, etwa Online-Banking rund um die Uhr, ist im deutschen Gesundheitswesen noch Zukunftsmusik. Das betrifft die Bereiche Information, Interaktion, Service und Ergebnisqualität, aber auch den Bereich der Gesundheitsversorgung. Wir haben deshalb bei uns den Bereich Digitale Innovationen und Change eingerichtet, der dieses Querschnittsthema in enger Zusammenarbeit mit allen Bereichen der AOK Nordost begleitet und vorantreibt.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Nehmen wir das Beispiel Service: Da haben die Menschen ganz genaue Vorstellungen. Wenn ein Versicherter etwas von seiner Krankenkasse möchte – sei es Beratung, eine Leistung oder beispielsweise Unterstützung bei einem Antrag – dann möchte er den für sich besten und bequemsten Weg nutzen. Unsere Versicherten wollen eben oft nicht mehr ins Servicecenter kommen müssen, sondern ihre Angelegenheiten schnell und sicher vom Sofa aus erledigen können. Neben dem Servicetelefon, an dem unsere Kundenberater bereits heute 9 von 10 Anliegen fallabschließend klären können, stehen hier digitale Kanäle im Vordergrund. Bereits in der ersten Corona-Welle haben wir eine stärkere Nutzung durch unsere Versicherten verzeichnet. Allein im vergangenen März stieg etwa der Anteil der elektronischen Krankmeldungen online um rund 50 Prozent: Der Trend setzt sich fort.
Auch im Bereich der Leistungspartnerkommunikation setzen wir auf digitale Kanäle, die gerade auch unter Krisenbedingungen funktionieren: So wickeln wir in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern die Beantragung der Corona-Prämien über unser im Frühjahr aufgesetztes Marktpartnerportal ab. Pflegeeinrichtungen können darüber schnell und unkompliziert ihre Anträge auf finanzielle Unterstützung stellen. Von April bis November flossen von der AOK Nordost auf diesem Weg 37 Millionen Euro aus dem Schutzschirm Pflege an rund 1.000 Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.

Sie haben sich in der Vergangenheit auch immer wieder für eine Förderung digitaler Lösungen in der Gesundheitsversorgung ausgesprochen.
Ein Punkt ist mir dabei wichtig: Wir wollen in der Versorgung keine digitalen Placebos schaffen, sondern echte Verbesserungen. Digitale Anwendungen sind kein Selbstzweck und dürfen auch nicht als separate Säule in der gesundheitlichen Versorgung betrachtet werden – wie das etwa nach der Einführung der ersten „Apps auf Rezept“ vielfach diskutiert wurde. Sie müssen vielmehr als Teil des Behandlungspfades integriert eingesetzt werden. Im Idealfall können Digitale Anwendungen Versorgungslücken schließen und Versorgungsansätze patientennäher gestalten. Den wirklich entscheidenden Schritt auf diesem Weg werden wir mit der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) gehen. Unter dem Namen „AOK Mein Leben“ wird die AOK-Gemeinschaft ihre ePA ab 2021 anbieten und schrittweise ausbauen. Unsere sehr frühen Projekterfahrungen bei der Vernetzung der Sektoren und Leistungspartner sind in die Entwicklung der bundesweiten AOK-Lösung eingeflossen. Wir sind überzeugt, dass die ePA als sicherer Datenspeicher für Diagnosen, Befunde und Notfalldaten eine bedeutende Entwicklung sein wird. Auch wenn das aktuell noch nicht alle am Entwicklungsprozess Beteiligten so sehen. Alle Potenziale wird die ePA aber erst entfalten, wenn wir mit der digitalen Vernetzung der Behandler und Leistungspartner einen schnellen und sicheren Austausch von Daten im Gesundheitswesen organisieren.

Warum engagieren Sie sich in dem Bereich so stark?
Weil wir davon überzeugt sind, dass mithilfe digitaler Unterstützung noch mehr Transparenz in den Versorgungsprozess gebracht werden kann, der Austausch unter den Beteiligten erleichtert sowie die Information und Einbindung der Patienten gefördert wird. Wie die Menschen selbst ihren Heilungsprozess unterstützen und aktiv eingebunden werden können, sind hierbei wichtige Fragen. Auf diesem Feld leisten wir als AOK Nordost seit Jahren vorausschauende Arbeit und haben digitale Ansätze frühzeitig mitentwickelt. Anfangs etwa in Telemedizin-Projekten, die als Forschungsprojekte angeschoben wurden. Mittlerweile gibt es etablierte telemedizinische Ansätze in der Regelversorgung, die beispielsweise helfen, Herzinsuffizienz-Patienten zu betreuen. An unserem Centrum für Gesundheit gibt es die Videosprechstunde bereits seit einigen Jahren, die Pandemie hat die Nachfrage rasant ansteigen lassen. Übrigens haben wir dies bereits umgesetzt, als manche Landesärztekammer noch am Fernbehandlungsverbot festhielt. Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, wie digitale Ansätze uns helfen, das Gesundheitswesen am Laufen zu halten – und besser zu machen.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Haben Sie sich so Ihr erstes Jahr als Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost vorgestellt?
Natürlich hatte ich einen Plan, den ich aber aufgrund der Pandemie nicht genau so umsetzen konnte. Ich hatte mich natürlich schon darauf eingestellt, dass es nicht einfach werden würde angesichts vieler Anforderungen durch den Gesetzgeber, den sich in der Folge abzeichnenden finanziellen Rahmenbedingungen und der generellen demografischen Herausforderung, vor der wir im deutschen Gesundheitswesen stehen. Die Geschwindigkeit, mit der mein Team und ich sowie überhaupt das gesamte Unternehmen in diesem Jahr unter Krisenbedingungen an diesen Fragen gearbeitet haben, war enorm und schien bis vor einiger Zeit kaum realistisch. Wir werden 2021 weiter hart daran arbeiten, mit dieser Dynamik die Versorgungs- und Servicethemen im Nordosten zusammen mit unseren Partnern voranzubringen. Unser Ziel sind passgenaue Lösungen für die Region und ihre Menschen.

Frau Teichert, vielen Dank für das Gespräch. <<

Das Interview führte MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Zitationshinweis:
Teichert, D., Stegmaier, P.: „Keine Digital-Placebos, sondern echte Verbesserungen“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/20), S. 6-8; doi: 10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2255

Ausgabe 06 / 2020

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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