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Nonnemacher: „Bereitschaft, Versorgung neu zu denken“

07.12.2020 09:00
Bei der Online-Fachtagung „Strukturmigration mittels komplexer Intervention“ von IGiB StimMT wurde mehr als deutlich, wie hochkomplex großangelegte Innovationsfonds-Projekte mit dem Anspruch, nicht nur ein Add-On zur Regelversorgung zu schaffen, sondern sie zum Besseren zu verändern, sind. In drei Workshops wurde nach einem Impulsvortrag von Lutz O. Freiberg, Geschäftsführer der IGiB StimMT gGmbH, und einer Videobotschaft von Ursula Nonnemacher, der Ministerin für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg, mit dem Online-Plenum, dem teilweise über 100 Online-Teilnehmer folgten, diskutiert. Die Themen: „Ökonomische Dimensionen der Ambulantisierung“, „Sonnen- und Schattenseiten bei der Führung von Großprojekten des Innovationsfonds“ und die „Evaluation komplexer Interventionen“. Diese drei Themenbereiche stellt „Monitor Versorgungsforschung“ in einem Berichtskanon in den kommenden Ausgaben vor.

http://doi.org/10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2259

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>> Ministerin Nonnemacher beschrieb in ihrem Grußwort die Probleme einer alternden Gesellschaft, insbesondere in einem ländlichen Raum mit einem wachsenden Strukturdefizit in entfernteren Regionen. Hier gelte es, die Versorgung im ländlichen Raum zu sichern und bei der Krankenhaus-Planung im engeren Sinn „mutig und sektorenübergreifend“ vorzugehen. Dazu gehört nach Worten der brandenburgischen Gesundheitsministerin nicht nur die Weiterentwicklung der Grundversorgungs-Krankenhäuser zur ambulant stationären Versorgung, auch die wohnortnahe Sicherstellung einer sicheren Erstdiagnose sei ein wichtiges Element. Zu all diesen Facetten sammele das Modellprojekt in Templin wertvolle Erfahrungen. Wie etwa im Projekt „Innovative Gesundheitsversorgung in Brandenburg“, das in den vergangenen vier Jahren wesentliche Maßnahmen für ein Ambulant-Stationäres Zentrum auf den Weg gebracht habe.
Dazu gehört für Nonnemacher indes auch die Re-Organisation der Akut- und Notfallversorgung mit einer Triage, einer Bereitschaftsdienst-Praxis und einer Überwachungseinheit. Mit den wichtigsten Partnern, den Ärzten im Mittelbereich Templin, seien zudem ambulante Sprechstunden und Behandlungspfade eingerichtet worden. Auch
hätten sich vor Ort ansässige Ärzte zum Netz-
werk „Gesund in Templin“ zusammengeschlos-
sen, um so gemeinsam an der Gesundheitsversorgung zu arbeiten. Jedoch werde es künf-
tig nicht weniger ärztliche Leistungen geben, vielmehr würden sich Leistungen vom statio-
nären in den ambulanten Bereich verlagern.
Dies habe die brandenburgische Landesregierung schon in ihrem Koalitionsvertrag vorgesehen, indem sie sich nicht nur dazu verpflichtet habe, die Krankenhäuser der ländlichen Grundversorgung zu modernen Ambulant-Stationären Gesundheitszentren weiterzuentwickeln, und sich zudem ganz speziell für den Fortbestand des Gesundheitszentrums Templin einzusetzen und zudem vergleichbare Ansätze in anderen Regio-nen zu unterstützen. Nonnemacher zeigte sich in ihrer Grußbotschaft überzeugt davon, dass das Ambulant-Stationäre Zentrum Templin, das am Ende des Projekts IGiB StimMT entstanden sei, hier „als Blaupause dienen“ kann. Auch würden die aus dem Projekt gewonnenen Erkenntnisse und angewandten Methoden die Übertragbarkeit in andere Regionen und Krankenhäuser mit einem vergleichbaren Setting“ ermöglichen. Doch weiß die Ministerin auch, dass es selbst mit ausreichenden finanziellen Ressourcen und vorhandenem Organisationsgeschick alleine nicht getan ist. Nonnemacher: „Sie brauchen dazu auch den Mut, Widerstände zu überwinden und die Bereitschaft, Versorgung neu zu denken und neue Wege zu gehen, dazu wünsche ich uns allen viel Kraft.“
Was ist bedarfsgerechte
medizinische Versorgung?
Schon bei dieser – aus der politischen Makroebene erfolgten – Auflistung von ineinander greifenden und obendrein interdependenten Maßnahmen wird deutlich, wie komplex die Führung eines derartigen Großprojekts ist. Was dahintersteht, kennt niemand besser als Lutz O. Freiberg, der Geschäftsführer der IGiB StimMT gGmbH, die als Konsortialführer das Innovationsfonds-Projekt mit der laufenden Nummer 0001 – damit sozusagen mit der damit einhergehenden Lizenz zur besseren Versorgung – vor inzwischen vier Jahren gestartet hat und seitdem führt. Beim Großprojekt für die Strukturmigration in Templin im brandenburgischen Landkreis Uckermark geht es Freibergs Worten zufolge um nicht weniger als um die grundlegende Frage, wie „bedarfsgerechte medizinische Versorgung in ländlichen Regionen unter Beachtung der demografischen Entwicklung und der Krankheitslast“ künftig aussehen kann.
Dazu müsste die Frage beantwortet werden, welche Menschen in einer Region leben und zudem die, welche Bedarfe sie tatsächlich haben? Wie werden sie aktuell versorgt? Und: Wie kann man sie durch geeignete Instrumente ambulant vor stationär und zudem wohnortnah vor wohnortfern versorgen?
Laut Freiberg gehören dazu auch Unterstützungsleistungen wie Telemedizin, aber vor allem eine bessere Versorgung mit den vorhandenen Ressourcen, doch anders allokiert als in der klassischen sektoralen Versorgungs-Istsituation, wie sie vielfach in Deutschland zu finden sei. Freiberg: „Ein Ambulant-Stationäres Zentrum ist aber mehr als ein Krankenhaus und ein medizinisches Versorgungszentrum, man muss bereit sein, ambulant und stationär zusammen zu denken und zu entwickeln.“
Eine „Akzentverschiebung“
Genau das umschreibt den Grundgedanken, der hinter der Strukturmigration, exemplarisch gezeigt am Beispiel des Mittelbereichs Templin, steht: die Ambulantisierung. Diese sei, so Workshop-Leiter Harald Möhlmann, Berater des Vorstands der AOK Nordost, eine „Akzentverschiebung in Richtung auf eine prioritär ambulante Versorgung“. Als Ökonom ergebe sich für ihn sofort nach der vordringlichen Klärung der Versorgungsqualität die Frage der ökonomischen Dimensionen dieser
Akzentverschiebung. Die Grundfrage der öko-
nomischen Dimensionen sei unmittelbar zu erkennen: Betrachte man die Kosten der Ver-
sorgung in einem Koordinatensystem, zeige sich, dass eine stetige Zunahme der stationären Versorgung mit einem überproportionalen Anstieg der damit verbundenen Kosten einhergehe (blaue Kurve); dies sei bei einer stetigen Erhöhung der ambulanten Versorgung ebenso (rote Kurve). Aus diesen eher trivialen Zusammenhängen werde bei der Addition der beiden einzelnen Kurven zu den Kosten des Versorgungsmixes (grüne Kurve) deutlich, dass „es einen Punkt gibt, bei dem der Versorgungsmix optimal ist“. Da nicht wenige Stimmen den heute bestehenden Versorgungsmix als suboptimal bewerten würden, sei es die große Kunst, den Punkt des heutigen Versorgungsmixes zu verschieben; und zwar in Richtung des Optimums, das wohl „ein bisschen mehr in Richtung einer Erhöhung des Anteils der ambulanten Versorgung liege“ – so lasse sich die Versorgung durch „Ambulantisierung“ verbessern.
Allein schon anhand dieser doch recht vor-
sichtigen Wortwahl Möhlmanns wird deutlich, dass die hier durchzuführende Verschiebung des Versorgungsmixes alles andere
als trivial ist, denn sie muss nun einmal „ge-
meinsam erarbeitet werden“. Möhlmann: „Bei
dieser Erarbeitung ist man dann gleich mitten in den ökonomischen Dimensionen, die die Verbesserung der Versorgung durch Ambulantisierung bei den Krankenhäusern, den niedergelassenen Ärzten und vielen anderen an der Versorgung Beteiligten auslöst.“
Der weite Weg zu langfristig
bedarfsgerechten Strukturen
Einer dieser Hauptbeteiligten ist Christian Quack, Geschäftsführer der Sana Kliniken Berlin-Brandenburg GmbH, dessen Konzern, wie er in seinem Vortrag ausführte, seit vielen Jahren in Templin ein kleines und zudem „hochdefizitäres Krankenhaus der Regelversorgung“ gehört, das innerhalb des Innova-
tionsfonds-Projekts als Nukleus des Ambulant-Stationären Zentrums fungiert. „Unab-hängig von Trägerschaft und Ökonomie“ müssen laut Quack, wenn denn das Haus einen vom Bundesland gesetzten Versorgungsauftrag zu erfüllen habe, langfristig bedarfsgerechte Strukturen geschaffen werden.
Generell sei vor Projektbeginn im Jahre 2016 in der Fläche des Landes Brandenburg ein hohes ambulantes Potenzial analysiert worden. Dies sei bedingt zum einen durch einen nachweisbaren Fachkräftemangel im Bereich der gesundheitlichen Versorgung, gepaart mit einem Bevölkerungsschwund und einer Überalterung der Gesellschaft in dieser Region, die zu geringeren stationären Auslastungen führen, wodurch wiederum aufgrund hoher Vorhaltekosten Defizite entstünden.
Dennoch seien solche Krankenhäuser in ländlichen Regionen wichtig, weil sie mit ihrem stationären Setting auch in die ambulante Versorgung eingebunden sind. Ohne sie würde in den Nicht-Regelarbeitszeiten am Wochenende und nachts keine fachärztliche Versorgung zur Verfügung stehen. Dennoch scheint nach Worten von Quack das Weiterbestehen eines solchen Hauses bei sinkender Bevölkerungszahl und damit auch der Nachfrage „zunehmend fragwürdig“ zu sein. Wenn es denn keine Alternative gäbe, bei der im Zentrum „eine intersektorale Anpassung der Angebote nach der regionalen Nachfrage“ steht.
Es mag etwas verwundern, dass ein Krankenhaus-Manager wie Quack einer „Stärkung des ambulanten Angebotes“ das Wort redet, wenn er auch gleich darauf hinweist, dass dies nur mit einer Schnittstelle und der Erhaltung des stationären Sektors funktionieren würde. Quack: „Dafür braucht es vor allem eine Koordinierungsstelle, welche die Patienten so steuert, dass sie bedarfsgerecht der jeweiligen Versorgung zugeführt werden, um so eine wohnortnahe Grundversorgung bei gleichzeitiger regionaler Notfallversorgung zu gewährleisten.“
Beim Templiner Projekt stehe das sogenannte Ambulant-Stationäre Zentrum in der Mitte. Unter Beibehaltung des stationären Parts gebe es jedoch unterschiedliche ambulante Leistungsangebote, im Notfall als auch elektiv über Sprechstunden und über ein Case- und Entlassmanagement gesteuert, das von einer eigens dafür aufgebauten Koordinierungsstelle übernommen wird. Dazu gehört aber auch eine Notfall-
überwachung durch eine „Decision Unit“, die sicherstellen soll, dass Patienten bis zu 24 Stunden pro Tag betreut werden können. Zum Beispiel werden pädiatrische Notfallpatienten über eine telemedizinische Anbindung, die 24 Stunden 7 Tage die Woche mit einer Facharztpräsenz zur Verfügung steht, betreut. Sofern eine weitere stationäre Behandlung nötig ist, wird der Patient in ein Krankenhaus nach Eberswalde verlegt, wobei jedoch immer gelte: „wohnortnah ambulant vor stationär“. Und das funktioniert anscheinend, und zwar viel öfters als gemeinhin angenommen wird. Quack: „Viele der Patienten, die sicher in großen Teilen früher stationär versorgt worden wären, können im Rahmen der ,Decision Unit‘ ambulant versorgt werden.“ Dem folgend sanken die stationären Fälle um rund 18 Prozent über einen Betrachtungszeitraum von drei Jahren.
Doch liegt es denn eigentlich überhaupt im ökonomischen Interesse eines Krankenhauskonzerns, abweichend – so Möhlmann – „von der These, dass nur ein gefülltes Bett ein gutes Bett ist“, ambulant tätig zu werden? Die salomonische Antwort von Quack: „Da muss man unterscheiden zwischen Ballungsräumen und Flächenländern mit einer abnehmenden Bevölkerungsstruktur.“ Hier seien Projekte wie jenes in Templin genau der richtige Weg. Wenn denn – und das ist wie so oft das große Aber – eine adäquate Kostendeckung hergestellt wird. Generell sei nun einmal die ambulante Vergütung deutlich geringer als die stationäre. Das könne, so Quack, „in der Folge nur bedeuten, die Kostenstruktur dahingehend anzupassen, um ähnlich wie Praxen agieren können.“
Der Rechtsrahmen darf die
Innovation nicht einschränken
Die Antwort von Michael Zaske, Abteilungsleiter Gesundheit im Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg, ist da recht eindeutig. Er sagte: „In Zeiten des Fachkräftemangels und in Zeiten, in denen wir uns überlegen müssen, wo die Budgets am besten eingesetzt sind, werden wir es uns auf Dauer nicht leisten können, mehrere Angebote unverbunden nebeneinanderher weiter zu betreiben.“ Dazu gehöre nun einmal auch, erst einmal zu lernen, dass es Ansätze gibt, wie die ambulante und stationäre Leistungserbringung physisch zusammen gedacht, an einem Ort erbracht und wie sie qualitativ abgestimmt erfolgen könne. Aber auch, wie man – selbst wenn sie „sehr mühevoll waren“, Wege findet, die Budgets, wenn schon „noch nicht zusammen zu führen“, so sie zumindest „zusammen zu denken“ und sie – wie beispielsweise in der Kindermedizin – „stationär und ambulant durchlässig zu gestalten“.
Das Templiner Projekt habe aber auch gezeigt, wo der Reformbedarf auf der Rahmenregelungsebene liege. Zaske: „Der Rechtsrahmen darf die Innovation nicht einschränken, sondern muss sie befördern. Das ist die Überschrift und die Leitlinie, wie wir hier weiter vorangehen.“ Er denkt dabei nicht nur an eine gemeinsame Budgetierung, sondern auch an eine regionale Budgetierung, vereint mit einer „gemeinsamen Beplanung“ der nötigen Leistungen, welche der Notwendigkeit folgt, das „Planungssystem auf die Leistungsebene weiterzuführen“. Hier sei man dann bei dem Punkt, wie eine einheitliche Vergütung für Leistungen aussehen könne, bei – so Zaske – einem „EBM plus“ oder einem „DRG minus“ oder Ähnlichem; gleich gefolgt von der Frage, wie der „Rechtsrahmen so gestaltet werden kann, dass er Innovation an der Stelle nicht einschränkt“. Möglich wäre, dies durch ein 90b-Gremium auf Landesebene zu regeln, das eine erweiterte Planungs- und verbindliche Verabredungsverantwortung wahrnehmen könne. Genau an so etwas werde derzeit im Bund-Länder-Gremium zur sektorübergreifenden Versorgung unter der Leitung des Bundesgesundheitsministers gedacht. Doch leider habe das Gremium zu diesem Themenkreis eine kleine Arbeitspause eingelegt, weil nachvollziehbarerweise in Corona-Zeiten andere Prioritäten gesetzt wurden.
Dennoch ist sich Zaske sicher, dass dieses Thema wieder aufgegriffen werde. Auch weil „Corona unterm Brennglas“ zeige, welch
hoher Innovationsdruck im System sei. Man müsse auf der Bundesebene festlegen, dass es nicht nur eine gemeinsame ambulant-stationäre Leistungserbringung geben, sondern wie diese – unabhängig vom physischen Betreiber – regional festgelegt werden kann. Beispielsweise könnten die Bundesländer in Kooperation mit den Kassenärztlichen Vereinigungen diejenigen Regionen festlegen, wo solche Modelle grundsätzlich überlegenswert sind. In diesem Zusammenhang könnte auch das Thema der innovativen Gesundheitsregionen sinnvoll weitergedacht werden und einige Ideen des Templiner Projekts aufnehmen. Zaske: „Das Thema wird in der bundesweiten Debatte vor und nach der nächsten Bundestagswahl eine große Rolle spielen.“
Die Logik der Versorgung
verstehen und erkennen
Wenn man das möchte, muss man jedoch wissen, wo eine derartige Ambulantisierung überhaupt sinnvoll ist. Das weiß wiederum Dr. Dominik von Stillfried, der Vorstands­vorsitzende des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), sehr genau. Um mögliche Ambulantisierungs-Potenziale ausschöpfen zu können, müsse man zuallererst die Logik der Versorgung verstehen und erkennen, dass die stationäre und ambulante Versorgung wie kommunizierende Röhren funktionieren.
Generell gelte, dass eine hohe stationäre Inanspruchnahme ein Indikator für hohe oder
niedrige Leistungsausgaben sei. So hat das Zi im Vorfeld des IGiB-Projekts beispielsweise analysiert, wo derartige Regionen im Land Brandenburg zu finden sind. Das sind zum einen Regionen, in denen deutlich überproportionale Belegungstage im Vergleich zum Bundesdurchschnitt zu verzeichnen sind, wie etwa in der Region Ostprignitz, in der die Belegungstage etwa 40 Prozent über dem Bundesdurchschnitt liegen. In der Region Prignitz sind es laut von Stillfried noch fast 30 Prozent und in der Uckermark rund 25 Prozent, ebenso wie in Frankfurt (Oder), der Oder-Spree-Region und der Stadt Brandenburg. Anders gesagt: Ambulantisierungs-Potenziale sind nicht überall in Brandenburg zu finden. Die Regionen Potsdam-Mittelmark und Cottbus liegen beispielsweise unter dem Bundesdurchschnitt, weshalb es sich lohne, sich „auf bestimmte Regionen zu fokussieren“. Das gilt nun nicht nur für das Land Brandenburg, sondern auch auf der Bundesebene. Von Stillfried: „Wenn wir die Problematik alleine durch die Demografie steigenden Gesundheitsausgaben irgendwie in den Griff bekommen möchten, müssen wir als Gegengewicht Ambulantisierungs-Potenziale ausschöpfen.“
Eine hohe stationäre Inanspruchnahme ist aber nur ein möglicher Indikator: Wahre Ambulantisierungs-Potenziale kann es immer nur dann geben, wenn einem (altersstandardisierten) stationären Inanspruchnahme-Niveau ein niedriges ambulantes Inanspruchnahme-Niveau gegenübersteht. Dazu hat das Zi in einem Koordinatensystem auf der x-Achse den standardisierten ambulanten Leistungsbedarf pro Kreis abgetragen und auf der y-Achse die Belegungstage im Krankenhaus dargestellt. Von Stillfried: „Daraus ergeben sich Verhältnisse.“ Wie zum Beispiel in der Region Ostprignitz, die schon als Problembereich bei den stationären Belegungstagen auftaucht – bundesweit fast als Spitzenreiter.
Der Blick auf niedrige ambulante und hohe stationäre Versorgungs-Niveaus, die ein generell „ausgeprägtes Ambulantisierungs-Potenzial“ vermuten lassen, muss laut von Stillfried jedoch erweitert werden. Und zwar um das Wissen um all jene Leistungen, die normalerweise stationär erbracht werden, die man aber gegebenenfalls auch in den ambulanten Bereich verlagern könnte. Diese recht komplexen Vorgänge beschreiben sogenannte „ambulant-sensitive Konditionen“, zu dem Prof. Dr. Leonie Sundmacher in einem von Zi geförderten Projekt bereits vor fünf Jahren einen aussagekräftigen Katalog für Deutschland veröffentlicht hat, in dem all diejenigen Indikationen beschrieben wurden, die „bei guter ambulanter Behandlung nicht viel oder nur selten im Krankenhaus behandelt werden“ müssen. Sundmacher hat in dieser Arbeit aber auch abgeschätzt, welcher Anteil der tatsächlich beobachteten stationären Fälle möglicherweise vermeidbar ist. So werden bei häufigen Indikationen, wie ischämischen Herzkrankheiten und Herzinsuffizienz – so von Stillfried – rund „zwei Drittel bis drei Viertel der heutigen Fälle als potenziell vermeidbar angesehen, wenn eine entsprechende ambulante Versorgung verfügbar“ ist.
Dies unterstreicht eine im Auftrag des Zi erstellte Untersuchung des IGES Instituts. Hier wurde herausgefunden, dass im Krankenhaus 80, 90 und sogar 95 Prozent diagnostische und nichtoperative Maßnahmen stattfinden, die zu einem großen Anteil auch ambulant erbracht werden könnten. Wenn man sich nun im IGES-Gutachten die Verteilung dieser ASK-Fälle in Brandenburg ansieht, tauchen erneut die bereits bekannten Problemregionen auf: Ostprignitz, Prignitz, Uckermark, ergänzt noch von der Region
Elbe-Elster. „Auch das spricht dafür, dass hier tatsächlich ein ambulantes Versorgungsdefizit vorliegt, das gehoben werden könnte, in dem die stationären Fälle reduziert werden“, sagte dazu von Stillfried.
Um den besonderen ambulanten Versorgungsbedarf noch besser quantifizieren und um bessere Hinweise geben zu können, wo und wie man in den ambulanten Bereich investieren müsste, hat eine gesonderte Zi-Analyse für das Projekt in Templin herausgefunden, dass in Templin zum Beispiel ein hoher kardiologischer Versorgungsbedarf besteht. Dieser wurde abgebildet durch den Indikator Schrittmacherkontrolle, der ein Drittel höher als im Bundesdurchschnitt liegt und fast dreimal so hoch wie in bundesdeutschen Best-Practice-Regionen wie etwa in Baden-Württemberg, die – so von Stillfried – „das ambulante Potenzial in Deutschland schon sehr weit ausgeschöpft haben“.
Wie kann man nun das ökonomische Potenzial der Ambulantisierung quantifizieren? Von Stillfrieds Antwort: „Wenn wir in Brandenburg die Versorgung auf das ambulant-stationäre Niveau bringen würden, wie es im Bundesdurchschnitt vorliegt, hätten wir ein potenzielles Einsparvolumen von rund 125 Millionen Euro.“ Nähme man jedoch das Niveau der Best-Practice-Region Baden-Württemberg wären es fast dreimal so viel, was nichts anderes heißt, als dass es durchaus „ein deutlich ausgeprägtes ökonomisches Einsparpotenzial“ gibt, das auch gewisse Investitionen in den ambulanten Bereich rechtfertigen würde. Aber auch eine gemeinsame Kapazitätsplanung und eine Krankenhaus-Budgetverhandlung, die laut von Stillfried „tatsächlich das Mandat hat, die Ambulantisierung voranzutreiben“, inklusive einer einheitlichen Vergütung ambulant erbringbarer Leistungen. <<
von: MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier

Zitationshinweis:
Stegmaier, P.: „Nonnemacher: ,Bereitschaft, Versorgung neu zu denken‘“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (06/20), S. 24-29; doi: 10.24945/MVF.06.20.1866-0533.2259

Ausgabe 06 / 2020

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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