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Vorschläge zur Priorisierung elektiver Eingriffe unter den Bedingungen der Corona-Pandemie im stationären Bereich

30.03.2021 14:00
Die derzeitige Pandemie hat schon früh eine Diskussion über den Umgang mit der befürchteten Situation nicht (mehr) ausreichender Beatmungsmöglichkeiten auf Intensivstationen ausgelöst. Um hier die Notwendigkeit von Triage-Entscheidungen zu umgehen, muss zunächst versucht werden, durch organisatorische Maßnahmen so viele intensivmedizinische Kapazitäten wie möglich zur Verfügung zu stellen. Durch das Verschieben planbarer, elektiver Operationen und anderer interventioneller Maßnahmen werden intensivmedizinische Kapazitäten frei und es wird außerdem qualifiziertes Personal freigesetzt. Bisher nicht ausreichend geklärt ist, was eigentlich „elektive Eingriffe“ genau sind und nach welchen Kriterien die Priorisierung und die sich daraus ergebende Verschiebung von Operationen erfolgen soll. Das vorliegende Arbeitspapier möchte hierzu eine Diskussionsgrundlage bieten.

http://doi.org/10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2297

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Präambel

Jedes menschliche Leben ist gleichwertig, Leben dürfen nicht gegen andere Leben abgewogen werden. Vorausgesetzt, der Patient* ist mit einer Therapie (mutmaßlich) einverstanden, orientiert sich jede Therapieentscheidung allein am individuellen Einzelfall. Erst im Falle einer unabwendbaren, kritischen Ressourcenknappheit muss gegebenenfalls eine überindividuelle Perspektive hinzutreten.
Wenn es nicht möglich ist, allen Patienten, die eine Behandlung benötigen, diese zukommen zu lassen, wird es unumgänglich zu priorisieren, wer eine Therapie erhält und wer (vorerst) nicht.
Eine solche Entscheidung treffen zu müssen, stellt für die verantwortlichen Ärzte* sowie das gesamte medizinische Team eine enorme emotionale und ethisch-moralische Herausforderung dar. Ärzte sollten im Falle einer besonderen Versorgungssituation, in der eine Priorisierung erfolgen muss, auf möglichst konkrete Vorgaben zurückgreifen können. Diese Entscheidungen sollten nach dem Mehraugen-Prinzip erfolgen, eine interprofessio-nelle Unterstützung, z. B. durch ein Klinisches Ethikkomitee oder eine Ethikberatung, ist wünschenswert.
Es muss sichergestellt sein, dass als Entscheidungskriterien ausschließlich medizinische Aspekte in Betracht gezogen werden, insbesondere die der Behandlungsbedürftigkeit (Indikation) und die der Prognose. Faktoren wie Alter oder Geschlecht, geistige oder körperliche Behinderung, sozialer Status, berufliche Stellung, ökonomische Aspekte, Bekanntheitsgrad oder „Systemrelevanz“ sind abzulehnen, sie dürfen für die Entscheidung keine Rolle spielen.
Wenn es nach Ausschöpfung aller vorhandenen Ressourcen und der Schaffung von zusätzlichen Therapieplätzen/Behandlungsoptionen nicht mehr möglich ist, Gerechtigkeit im Sinn der gleichen Therapiechancen für alle zu erreichen, ist sie zumindest auf der Ebene der strikten Einhaltung gleicher Zuteilungskriterien für alle Patienten zu wahren.

Begriffsbestimmung „Priorisierung“

>> Die Erarbeitung gesellschaftlich akzeptabler Zuteilungskriterien und -maßstäbe setzt neben einer Vertrautheit mit aktuellen Problemen der derzeitigen medizinischen Versorgung, eine klare Terminologie, die Abwägung verschiedener ethischer, rechtlicher und politischer Optionen und eine ständige Überprüfung der aktuellen Versorgungsituation voraus. „Priorisierung meint die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen, Patientengruppen oder Verfahren vor anderen. […] In der Regel beinhaltet Priorisierung die Feststellung einer mehrstufigen Rangreihe. An deren oberen Ende steht das, was nach Datenlage und öffentlichem Konsensus höchste Priorität hat, also als absolut unverzichtbar erscheint. Nach unten zu nimmt die Bedeutung ab; am Ende der Rangreihe stehen geringfügige oder selbstheilende Gesundheitsstörungen bzw. Verfahren, die umstritten sind oder keinen nachweisbaren Nutzen oder mehr Schaden als Nutzen stiften, also teils überflüssig, teils unzweckmäßig sind.“1
In dem hier zitierten Papier der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer1 werden acht Schritte einer Priorisierungsdiskussion innerhalb eines begrenzten Versorgungsbereichs vorgeschlagen:
1. Klärung der zugrunde gelegten ethischen, rechtlichen und politischen Prinzipien
2. Feststellung der Aufgaben und Ziele des Versorgungsbereichs
3. Darstellung und Bewertung der aktuellen Versorgungssituation und ihrer impliziten/expliziten Prioritäten
4. Qualitative und quantitative Merkmale der Krankheitslast (Schweregrad, Prognose, Dringlichkeit)
5. Zweckmäßigkeit der auf sie bezogenen Interventionen (Evidenzgrade?)
6. Alternativen, Risiken und unerwünschte Wirkungen,
7. Direkte und indirekte Kosten, Effizienz
8. Berücksichtigung der Interessen, Erwartungen und Präferenzen aller potenziell Beteiligten.

Begriffsbestimmung „elektiv“

Eine elektive Operation kann definiert werden als nicht notfallmäßiger Eingriff, dessen Durchführung indiziert ist, dessen Termin jedoch im Voraus gewählt werden kann, ohne die Gesundheit des Patienten oder das erwartete Ergebnis des Eingriffs zu beeinträchtigen.2 Eine verbindliche Nomenklatur der operativen Dringlichkeit liegt in Deutschland bisher nicht vor. Die Entscheidung über den Zeitpunkt der Operation basiert auf pathophysiologischen Zusammenhängen und klinischen Erfahrungen. Es ist zu klären, wie gefährdend die Erkrankung des Patienten ist, ob eine Zustandsverschlechterung zu erwarten steht und ob es alternative Behandlungsmöglichkeiten gibt. Im Hinblick auf die Indikationsstellung und die damit einhergehende zeitliche Priorisierung sollte die Symptomausprägung und die Einschränkung der Lebensqualität der betroffenen Patienten berücksichtigt werden.
Die folgende, von uns modifizierte Nomenklatur für eine operative Dringlichkeit haben Hasenberg und Shang (2006) in Anlehnung an die britische NCEPOD-Klassifikation insbesondere für Allgemein- und viszeral-chirurgische Eingriffe vorgeschlagen, um die elektiv von den nicht-elektiv durchführbaren Operationen abgrenzen zu können:
Notfalleingriff: Krankheitszustände, die unmittelbar lebensbedrohlich sind und eine Verzögerung des operativen Eingriffs nicht zulassen. Das Zeitintervall zwischen Indikationsstellung und Operation sollte so kurz wie möglich gehalten werden (max. 2 Stunden)
Dringlicher Eingriff: Es liegt keine akute vitale Gefährdung vor, es muss jedoch eine irreversible Verschlechterung des Zustandes des Patienten befürchtet werden. Der Eingriff sollte daher spätestens 12 Stunden nach der Indikationsstellung erfolgen.
Frühelektiver Eingriff: Dies sind operative Maßnahmen, bei denen eine vitale Gefährdung des Patienten verneint werden kann, jedoch eine operative Sanierung unverzichtbar ist und/oder eine Verschlechterung bzw. ein Rezidiv droht. Die operative Intervention sollte innerhalb von wenigen Tagen erfolgen.
Elektive Operationen: sind alle Eingriffe, bei denen eine vitale Bedrohung ausgeschlossen werden kann. Der Nutzen des operativen Eingriffs ist dennoch erwiesen und für den einzelnen Patienten bei Abwägung von Risiko und Erfolgsaussicht bzw. Nutzen so gelagert, dass eine operative Intervention indiziert und sinnvoll ist. Der OP-Zeitpunkt kann frei gewählt werden.6

Ein besonderer Diskussionspunkt ist die Priorisierung von onkologischen gegenüber nicht-onkologischen Indikationsstellungen für eine operative Maßnahme. Letztlich stellen die meisten Karzinomerkrankungen zum Zeitpunkt ihrer Diagnosestellung keinen medizinischen Notfall im o. g. Sinne dar und sind somit als bedingt-elektiv einzustufen. Zumeist werden diese Eingriffe auch unter Nicht-Pandemie-Bedingungen aus Kapazitätsgründen erst nach einigen Wochen durchgeführt, ohne dass damit eine Verschlechterung der Prognose zu erwarten ist.

Praktische Umsetzung der temporären Priorisierung von Operationen im klinischen Alltag in der Pandemiesituation
Validierte Auswahlkriterien für elektiv/ planbar zu operierende Patienten in einer Situation, in der nicht alle Patienten behandelt werden können, die einer Operation bedürfen, liegen bisher nur vereinzelt vor.
Es erscheint daher notwendig, ein Kriteriensystem aufzustellen, das es ermöglicht, Patienten, die eine elektive Operation benötigen, so auszuwählen, dass einerseits möglichst vielen geholfen werden kann und andererseits möglichst vielen ein permanenter Schaden, dauerhaftes Leiden oder unnötige Schmerzen erspart bleiben.
Wir schlagen in Anlehnung an internationale Publikationen, insbesondere die Publikationen von Prachand et al. und Slidell et al. die Nutzung der Tabelle 1 vor. Diese vereint eine Reihe von operationsbezogenen und patientenseitigen Faktoren, um für den einzelnen Patienten eine Entscheidungsgrundlage für die Priorisierung und Einordnung in eine Rangliste finden zu können. Ausdrücklich sei hier noch einmal festgehalten, dass sie nicht dazu dienen soll, als starres Allokationsschema angewendet zu werden, ohne eine notwendige interdisziplinäre fallbezogene Besprechung jedes einzelnen Patienten. 5 ,7
Anhand der Tabelle 1 können zu 21 Kriterien jeweils Punkte nach Dringlichkeit, Komorbidität und Veränderung der chirurgisch-technischen Schwierigkeiten vergeben werden. Für Patienten, die hier den höchst möglichen Wert (=105 Punkte) erreichen, wird vorhergesagt, dass für sie die Dringlichkeit des Eingriffs sehr hoch, ihr Operationsrisiko sehr niedrig und die Verschlechterung der chirurgisch technischen Möglichkeit durch eine Verschiebung der Operation sehr deutlich gegeben sei. Umgekehrt besteht bei Patienten, die den niedrigsten möglichen Wert (=21 Punkte) erreichen, eine sehr niedrige Dringlichkeit des Eingriffs, der auch durch längeres Warten nicht chirurgisch-technisch schwieriger wird, verbunden mit sehr hoher Komorbidität und sehr hoher Wahrscheinlichkeit, postoperativ einer intensivmedizinischen Behandlung zu bedürfen. Dazwischen wird sich die in einem Punktwert zwischen 22 und 104 Punkten dargestellte Situation jedes einzelnen Patienten mit den unterschiedlichsten Gegebenheiten widerspiegeln. Dies ermöglicht eine transparente und nachvollziehbare Entscheidungsgrundlage im Einzelfall.
Es sollte eine Dokumentation zum Entscheidungsprozess erfolgen.
Die Zuordnung zu einer der jeweils 5 Stufen ist nicht immer eindeutig möglich und birgt Unsicherheiten. Da jedoch die Tabellen anhand vorhandener Daten erstellt und zumindest nachträglich validiert wurden und auch der hier aufgenommene Clinical Frailty Score gut in klinischen Studien mehrerer Länder validiert ist, sehen wir das beschriebene Vorgehen als praktikabel an.

Schlussfolgerungen

• Mit einer Priorisierung soll geklärt werden, welche operativen Eingriffe als „elektiv“ eingestuft und damit temporär zurückgestellt werden können, um intensivmedizinische Kapazitäten und qualifiziertes Personal freizusetzen.
• Eine solche Entscheidung treffen zu müssen, stellt für die verantwortlichen Ärzte sowie das gesamte medizinische Team eine enorme emotionale und ethisch-moralische Herausforderung dar. Ärzte sollten im Falle einer besonderen Versorgungssituation, in der eine Priorisierung erfolgen muss, auf möglichst konkrete Vorgaben zurückgreifen können.
• Als Entscheidungsgrundlage für die Priorisierung jedes einzelnen Patienten und dessen Einordnung in eine Rangliste sollten operationsbezogene und patientenseitige Faktoren Berücksichtigung finden. In den Kliniken sind Gremien für die Festlegung der Prioritäten einzurichten, der Entscheidungsprozess und das -ergebnis sollten dokumentiert werden.


Autoren: Dr. Petra Gehle (1), Prof. Dr. Matthias David (2), Dr. Matthias Albrecht, Prof. Dr. Christiane Erley, Dr. Claudio Freimark, Dr. Susanne von der Heydt, Priv. Doz. Dr. Ahi Sema Issever, Prof. Dr. Jörg Oestmann, Dr. Laura Schaad, Dr. Kai Sostmann, Dr. Klaus Thierse, Prof. Dr. Jörg Weimann, Dr. Thomas Werner, Priv. Doz. Dr. Peter Bobbert

Korrespondierende Autoren:
1 Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Medizinische Klinik m. S. Kardiologie;
2 Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Klinik f. Gynäkologie

Zitationshinweis: Gehle et al.: „Vorschläge zur Priorisierung elektiver Eingriffe unter den Bedingungen der Corona-Pandemie im stationären Bereich“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (02/21), S. 36-38; http://doi.org/10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2297

Literatur

1. (Zentrale Ethikkommission). Prioritäten in der medizinischen Versorgung im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): Müssen und können wir uns entscheiden? Deutsches Ärzteblatt 2000; 97, Heft 15, A1017 – A2023
2. Dox IG, Melloni BJ, Melloni JL, Melloni ML, Eisner GM. Melloni‘s Pocket Medical Dictionary: Illustrated. New York: Parthenon Publishing Group, 2004.
3. Abraham P, Courvoisier DS, Annweiler C, Lenoir C, Millien T, Dalmaz F, et al. Validation of the clinical frailty score (CFS) in French language. BMC Geriatr. 2019; 19 (1):322.
4. Clegg A, Young J, Iliffe S, Rikkert MO, Rockwood K. Frailty in elderly people. Lancet. 2013; 381 (9868): 752-62.
5. Prachand VN, Milner R, Angelos P, Posner MC, Fung JJ, Agrawal N, et al. Medically Necessary, Time-Sensitive Procedures: Scoring System to Ethically and Efficiently Manage Resource Scarcity and Provider Risk During the COVID-19 Pandemic. J Am Coll Surg. 2020; 231 (2): 281-8
6. Hasenberg T, Shang E. Wie dringlich ist dringlich? – Dringlichkeit von Operationen in der Allgemein- und Viszeralchirurgie. Perioperative Medizin 2010; 2(1): 44-48
7. Slidell MB, Kandel JJ, Prachand V, Baroody FM, Gundeti MS, Reid RR, et al. Pediatric Modification of the Medically Necessary, Time-Sensitive Scoring System for Operating Room Procedure Prioritization During the COVID-19 Pandemic. J Am Coll Surg. 2020; 231 (2): 205-15.

Ausgabe 02 / 2021

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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