Sie sind hier: Startseite Abstracts Kurzfassungen 2021 MVF 02/21 „Eine 95%-Wirksamkeit bedeutet eigentlich recht wenig“
x
Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und fortlaufend verbessern zu können, verwenden wir Cookies. Durch die weitere Nutzung der Webseite stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen zu Cookies erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.

„Eine 95%-Wirksamkeit bedeutet eigentlich recht wenig“

30.03.2021 10:00
Im Titelinterview mit „Monitor Versorgungsforschung“ erklärt Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig, der langjährige Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, sehr detailliert, auf welcher Studienbasis die vier bisher verfügbaren Covid-19-Vakzine zugelassen wurden und was eine 95 Prozent relative Wirksamkeit tatsächlich bedeutet – „eigentlich recht wenig“. Zudem war seiner Ansicht nach die „bisher erfolgte Kommunikation in der Öffentlichkeit zur Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 unzureichend“, wie Ludwig im Interview zu Protokoll gibt. Auch die ursprünglichen Preisvorstellungen von BioNTech/Pfizer hält er angesichts der Milliarden an zu impfenden Menschen für „unseriös“.

doi: http://doi.org/ 10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2284

PDF

>> In nicht einmal einem Jahr seit Ausbruch der Corona-Pandemie in Europa und Deutschland sind inzwischen vier Impfstoffe – BioNTech/Pfizer, Moderna, AstraZeneca und ganz aktuell Johnson & Johnson – zugelassen. Alle sollen sie in der Lage sein, schwere Krankheitsverläufe zu verhindern. Einerseits ist das sicher Grund zur Freude, aber auch zur Vorsicht: Kann es in dieser doch sehr kurzen Zeit trotz des hier angewandten Rolling-Review-Verfahrens schon genügend und vor allem verlässliche Stu-dienergebnisse geben?
In der Öffentlichkeit wird die Sachlage häufig unvollständig dargestellt. Sowohl die in den letzten Jahren entwickelten neuen Technologieplattformen für Impfstoffe als auch das „Rolling-Review“-Verfahren, bei dem bereits vor Einreichen eines Zulassungsantrags durch den pharmazeutischen Hersteller von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) die Ergebnisse der präklinischen Forschung sowie der drei Phasen der klinischen Prüfungen geprüft wurden, ermöglichen beschleunigte Zulassungen. Außerdem sind mit der bisher für alle Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 durch die EMA erteilten bedingten Zulassungen („Conditional Marketing Authorization“ = CMA) spezifische Auflagen für den Zulassungsinhaber verbunden. Grundsätzlich muss für den jeweiligen Impfstoff ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis nachgewiesen werden und umfangreiche Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit aus den meist bei Zulassung noch nicht abgeschlossenen klinischen Studien müssen später nach der Zulassung eingereicht werden. Die CMA ist zunächst ein Jahr gültig und dann jährlich verlängerbar. Bei Vorliegen ausreichender Daten zum Nutzen-Risiko-Verhältnis kann dann eine Umstellung auf eine Standardzulassung erfolgen. Die Kritik an der zu langsamen Zulassung der ersten beiden „messenger“ (m) RNA-Impfstoffe von Seiten der Gesundheitspolitiker in Deutschland halte ich nicht für berechtigt. Diese Zulassungen erfolgten nur wenige Wochen nach den Notfallzulassungen dieser Impfstoffe zum Beispiel in Großbritannien, den USA und Kanada. Außerdem bewirken die bedingten Zulassungen auch, dass der pharmazeutische Hersteller – anders als bei der Notfallzulassung – nicht aus der administrativen und zivilrechtlichen Haftung für seinen Impfstoff ausgeschlossen wird.

Warum das?
Weil es sich bei den Ergebnissen aus der entscheidenden
Phase III der klinischen Prüfungen (Vergleich von Wirksamkeit und Sicherheit des Impfstoffs gegen Placebo bzw. gegen SARS-CoV-2 nicht wirksamen Impfstoff) fast immer um Zwischenauswertungen handelt und eine endgültige Bewertung deshalb noch nicht möglich ist. Das von der EMA gewählte Verfahren einer „bedingten Zulassung“ ist ein durchaus übliches und reguläres Verfahren im Rahmen beschleunigter Zulassungen, das in den letzten Jahren, beispielsweise in der Onkologie, sehr häufig zum Einsatz gekommen ist.

Erwarten Sie, dass das „Rolling-Review“-Verfahren in den kommenden Jahren verstärkt eingesetzt wird, weil man gelernt hat, dass dieses Verfahren funktioniert?
Im Rahmen der Zulassung von Impfstoffen in Krisensituationen vermutlich ja. Doch kann man dieses Zulassungsverfahren nicht ohne weiteres auf neue Arzneimittel übertragen. Es gibt für neue Arzneimittel in Europa bereits unterschiedliche beschleunigte Zulassungsverfahren – neben der CMA eine Zulassung unter außergewöhnlichen Umständen, eine beschleunigte Beurteilung und das sogenannte „PRIORITY
MEDICINES“-Verfahren (PRIME), die an unterschiedliche Bedingungen geknüpft sind. Wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass ein ungedeckter medizinischer Bedarf („unmet medical need“) besteht bzw. die neuen Arzneimittel eingesetzt werden sollen in Krisensituationen gegen eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit. Diese Anforderungen werden glücklicherweise eher selten erfüllt und ich rechne deshalb nicht mit einem verstärkten Einsatz des „Rolling-Review“-Verfahrens in den nächsten Jahren.

Wie steht es um die Qualität der jeweiligen Studienlagen für die bisher verfügbaren Impfstoffe? Zuerst: Mit welcher Alternative wurde verglichen?
Als Vergleichsarm wurden bei den beiden neuen mRNA-Impfstoffen – sowohl bei BioNTech/Pfizer als auch bei Moderna – Placebos gewählt; der adenovirale Vektorimpfstoff von AstraZeneca wurde gegen einen bereits zugelassenen Meningokokken-Impfstoff getestet. Das heißt, dass die Interventionsgruppe in unterschiedlichen zeitlichen Abständen zweimal den Impfstoff bekommen hat, die Kontrollgruppe ein Placebo. Zudem steht hinter der Entwicklung des AstraZeneca-Impfstoffs eine andere Philosophie. Die klinischen Prüfungen wurden bewusst in unterschiedlichen Regionen der Welt (Großbritannien, Südafrika, Brasilien) durchgeführt und die Ergebnisse dieser Studien sind auch aufgrund des Auftauchens stärker ansteckender Virusmutationen in diesen Ländern nicht ohne weiteres mit den Ergebnissen zu den beiden mRNA-Impfstoffen vergleichbar. Außerdem wurde das Design dieser Studien im akademischen Umfeld der Oxford University entwickelt und das Behandlungsprotokoll der für die Zulassung relevanten vier Studien des AstraZeneca-Impfstoffs war nicht einheitlich. Versehentlich hatte eine kleinere Gruppe von geimpften Probanden eine geringere Erstdosis des Impfstoffs erhalten, die überraschenderweise zu einer besseren Wirksamkeit führte – möglicherweise, weil die Immunantwort gegen das bei diesem Impfstoff verwendete
Adenovirus schwächer war und dadurch der Effekt der zweiten Impfung verstärkt wurde.

Zum zweiten: Wie beurteilen Sie die Studienlage nach der Anzahl der Probanden?
Die Zahl der jeweils eingeschlossenen Probanden ist für Zulassungsstudien zu einem neuen Impfstoff sicher ausreichend. Das gilt übrigens für alle, sowohl für die Vakzine von BioNTech/Pfizer, von Moderna als auch von AstraZeneca, obwohl in den vier klinischen Studien zum AstraZeneca-Impfstoff weniger Probanden (etwas mehr als 25.000) getestet wurden. Zweifelsfrei ist die rasche Entwicklung dieser Impfstoffe, für die früher 10-15 Jahre benötigt wurde, als großer
Erfolg der Wissenschaft zu bezeichnen. Dass man überhaupt in der Lage war, in derart kurzen Zeiträumen vor allem die mRNA-Impfstoffe, die bisher noch nie zugelassen wurden, in klinischen Studien zu prüfen und dann auch noch relativ rasch und in großer Menge verfügbar zu machen, ist sehr erfreulich. Verantwortlich hierfür ist sicher auch, dass sich die Wissenschaft mit diesen neuen Impfstoff-Generationen zur Behandlung viraler Infektionen bereits seit einigen Jahren beschäftigt und für deren Herstellung neue Technologieplattformen entwickelt hat.

Wie steht es, zum dritten, um die bei den bisher zugelassenen Impf-stoffen angewandten Studiendesigns?
Alle oben genannten Impfstoffe wurden im Rahmen der Phase III in randomisierten kontrollierten Studien untersucht. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung, um aussagekräftige Ergebnisse zum klinischen Nutzen und den Risiken dieser Impfstoffe zu erhalten.

Die Gründer von BioNTech wollten übrigens eigentlich einen Impfstoff gegen Krebserkrankungen entwickeln.
Was jedoch bisher nicht erfolgreich war. Dies war für mich als Hämatologen und Onkologen nicht überraschend. Wichtig im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Impfstoffs gegen SARS-CoV-2 ist vor allem, dass die Sequenzierung des für die Infektion menschlicher Zellen entscheidenden Spike-Gly-koproteins von SARS-CoV-2 so rasch, nämlich bereits Anfang 2020 gelang, und die benötigten Technologieplattformen zur Verfügung standen, um die oben genannten mRNA- bzw. DNA-Impfstoffe zu entwickeln. Interessant wäre trotzdem gewesen, dass BioNTech in diesem Zusammenhang die Gründe genannt hätte, weshalb die Entwicklung von mRNA-Impfstoffen gegen Krebserkrankungen bisher nicht erfolgreich war. Dies hätte auch Vertrauen der Öffentlichkeit in diese neue Technologie zur Herstellung von mRNA-Impfstoffen gestärkt. Sicher ist die Herstellung eines mRNA-Impfstoffes gegen ein molekular gut charakterisiertes Spike-Glykoprotein, das entscheidend ist für die Infektion humaner Zellen mit SARS-CoV-2, nicht vergleichbar mit der komplexen Pathogenese von Krebserkrankungen, die meist nicht eine, sondern multiple genetische Veränderungen aufweisen.

Wie sehen die Zwischenergebnisse der Zulassungsstudien der bisher zugelassenen Covid-19-Vakzine insgesamt aus?
Alle bisher publizierten und für die Zulassung relevanten klinischen Studien der Phase III haben hinsichtlich Wirksamkeit der drei zuvor genannten Impfstoffe Ergebnisse erbracht, die man für Impfstoffe generell fordert: 50 Prozent Wirksamkeit und mehr. Dies gilt auch für die Vakzine von AstraZeneca.

Nun stehen Ärzte vor der Situation, ihre Patienten beraten zu müssen, welchen von den zugelassenen Impfstoffen sie nehmen sollen, wenn sie denn die Wahl haben.
Die Wahl war bekanntlich bis vor kurzem durch die „Empfehlungen zur Covid-19-Impfung“ der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut (RKI) eingeschränkt, da der AstraZeneca-Impfstoff zunächst nur für die Altersgruppe unter 65 Jahre empfohlen wurde. Dabei handelt es sich übrigens um einen sehr ungewöhnlichen Vorgang: Von der EMA erhielt der AstraZeneca-Impfstoff eine bedingte Zulassung ohne Altersbegrenzung, von der STIKO beim RKI jedoch eine Impfempfehlung mit Altersbegrenzung. Das Vertrauen in diese Vakzine ist allerdings durch die Altersbegrenzung der STIKO und aktuell auch durch die Meldungen zu Gerinnungsstörungen (z. B. Thrombosen, Lungenembolien) beeinträchtigt worden. Natürlich müssen die aktuellen Sicherheitssignale nach Impfung mit der AstraZeneca-Vakzine sorgfältig analysiert werden. Allerdings entsprechen die bisher bekannten 22 Fälle mit thromboembolischen Komplikationen bei vielen Millionen mit der AstraZenca-Vakzine geimpften Personen in etwa der Häufigkeit derartiger Komplikationen in der Gesamtbevölkerung und ein kausaler Zusammenhang ist nicht bewiesen. Ich selbst würde mich auch mit dem AstraZeneca-Impfstoff impfen lassen, wenn ich an der Reihe bin.

Mitte März hatten diverse Länder die Impfung mit AstraZeneca gestoppt. Der Grund dafür waren neue Meldungen über die Bildung von Blutgerinnseln in Hirnvenen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung. Die Rede war Mitte März in Deutschland von 13 Fällen einer sehr seltenen Form der Hirnvenenthrombosen, der sogenannten Sinusvenenthrombosen. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA empfiehlt nach einer schnellen Überprüfung den AstraZeneca-Impfstoff trotzdem weiterhin. Wie sehen Sie diese neuerliche Entscheidung der EMA? Zeigt sich hier auch, dass die bedingte Zulassung ganz richtig war?
Natürlich mussten diese in der EU aufgetretenen schweren Nebenwirkungen – sowohl die allerdings sehr seltenen und vorwiegend bei Frauen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren aufgetretenen Blutgerinnsel im Gehirn (Sinusvenenthrombose), teilweise verbunden mit einer Verminderung der Blutplättchen (Thrombozytopenie), als auch die Thrombosen in den peripheren Venen, die vereinzelt zu Lungenembolien geführt hatten – sehr gründlich vom Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz der EMA (PRAC) untersucht werden. Dies ist inzwischen geschehen und der Ausschuss hat am 18.3.2021 erneut festgestellt, dass der Nutzen des AstraZeneca-Impfstoffs das Risiko von Nebenwirkungen überwiegt. Darüber hinaus wurde als Maßnahme der Risikominimierung beschlossen, entsprechende Warnhinweise in die Fach- und Gebrauchsinformation dieses Impfstoffs aufzunehmen. Überdies wurde gezielt auf bestimmte Symptome (z.B. Kopfschmerzen, Sehstörungen, Arm- oder Beinschwellungen, Kurzatmigkeit) hingewiesen, die bei Auftreten in einem Zeitraum von etwa 7 bis 14 Tagen nach der Impfung Personen veranlassen sollten, sich umgehend bei einer Ärztin oder Arzt vorzustellen.

Hat die Politik, hat Gesundheitsminister Spahn richtig gehandelt, als er den vorsorglichen Impfstopp verkündete?
Aus meiner Sicht wäre die Politik gut beraten gewesen, wenn sie die Entscheidung der EMA abgewartet und die Öffentlichkeit dann entsprechend informiert hätte. Angesichts der Zahl der inzwischen im Europäischen Wirtschaftsraum mit AstraZeneca geimpften Personen (etwa 20 Mio.) handelt es sich um äußerst seltene Nebenwirkungen, bei denen auch keine Hinweise auf Qualitätsmängel (z. B. Auftreten nur bei bestimmten Chargen) festgestellt werden konnten.

Welcher der zugelassenen Impfstoffe ist aus Ihrer Sicht der
geeignetste? Wohlwissend, dass sie nicht vergleichend untersucht worden sind und auch die so oft im Fokus des medialen Interesses
stehende Wirksamkeit nur recht wenig aussagefähig ist.
Diese Frage ist aufgrund der o. g. Studiendesigns – es erfolgte kein direkter Vergleich der Impfstoffe – nicht sicher zu beantworten. Unbedingt sollte die zu impfende Person gründlich über Vor- und Nachteile der bisher zugelassenen Impfstoffe informiert werden, um eine individuelle Entscheidung zu ermöglichen.

Was bedeutet denn 95 Prozent Wirksamkeit?
Diese in der Laienpresse häufig erwähnte und leider nur selten erklärte Angabe zur Wirksamkeit bedeutet eigentlich recht wenig. Es handelt sich hier um eine relative Wirksamkeit, die sich beispielsweise beim Impfstoff von BioNTech/Pfizer aus folgendem errechneten Vergleich ergibt: In der geimpften Interventionsgruppe wurden bei 8 Probanden die vorher definierten Kriterien für Covid-19 erfüllt; hierzu zählen beispielsweise Fieber, Husten, Atemnot, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Verlust des Geschmacks- oder Geruchssinns. In der nicht geimpften Kontrollgruppe gab es hingegen 162 Probanden, die für Covid-19 charakteristische Symptome gezeigt haben. Aus dem Verhältnis von 8 zu 162 ergibt sich eine relative Wirksamkeit von 95 Prozent. Wohlgemerkt: bei einer Gesamtzahl von etwa 36.500 Studienteilnehmern. Schon an diesem Wert sieht man, dass die Zahl der erkrankten Studienteilnehmer – das primäre Zielkriterium – in beiden Gruppen gering war. Man sollte deshalb immer die zugrundeliegenden Zahlen kommunizieren.

Was sagen uns also die Ergebnisse der Studien?
Leider eher wenig. Sicher ist, dass die Impfungen nutzen, da die Zahl der nach Infektion mit SARS-CoV-2 an Covid-19 erkrankten Personen reduziert werden konnte und auch schwere Verläufe von Covid-19 verhindert wurden. Unklar bleibt jedoch – da eine systematische Testung aller Probanden mittels PCR auf SARS-CoV-2 Infektion nicht erfolgte –, ob eventuell mit BioNTech/Pfizer geimpfte Probanden z. B. Fieber und/oder Muskelschmerzen seltener gemeldet haben, weil sie von ihnen als Nebenwirkungen der Impfung und nicht als Symptome von Covid-19 erachtet wurden. Dies könnte bedeuten, dass die relative Wirksamkeit weniger als 95% beträgt.

Gilt dieser Einwand denn für alle zugelassenen Covid-19-Impfstoffe?
Für die bisher zugelassenen Impfstoffe auf jeden Fall. Für den Impfstoff von AstraZeneca wurde ein kombiniertes Zwischenergebnis – basierend auf Zwischenergebnissen von 2 der 4 Studien, die in Großbritannien und Brasilien insgesamt 11.636 Probanden rekrutierten – errechnet. Abhängig vom Dosierungsschema ergab sich eine relative Wirksamkeit von 70 bis 90 Prozent. Aus meiner Sicht sind indirekte Vergleiche der AstraZeneca-Vakzine mit den Ergebnissen der mRNA-Impfstoffe jedoch unzulässig, weil die klinischen Studien Probanden in unterschiedlichen Regionen der Welt eingeschlossen haben, in denen (z.B. Südafrika, Brasilien) möglicherweise bereits auch stärker ansteckende Virusvarianten kursierten.

Klaus Cichutek, der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), sprach in diesem Zusammenhang vom Einsatz eines „Game Changers“.
Diesen Begriff würde ich momentan nicht verwenden: einerseits aufgrund der noch bestehenden Unsicherheiten zu den Impfstoffen und andererseits angesichts der in Deutschland eher langsam angelaufenen Impfkampagne. Es war seitens der Politik und der für Impfstoffe zuständigen Bundesoberbehörde (PEI) meines Erachtens unklug, so früh derart hohe Erwartungen mit der Impfkampagne zu verknüpfen.

Zurück zur bedingten Zulassung und dem angewandten „Rolling-Review“-Verfahren. Im Laufe der Zeit werden von den die Impfstoffe in den Markt bringenden pharmazeutischen Unternehmen Zusatzdaten gefordert, bei denen es sich tatsächlich um Real-World-Data handelt, die Nebenwirkungen, Verträglichkeit und Wirkung beinhalten werden.
Natürlich brauchen wir solche „Real-World-Daten“ dringend. Zunächst aber benötigen wir finale Auswertungen der randomisierten kontrollierten Studien. Alle bisherigen Aussagen zu Corona-Impfstoffen beziehen sich auf Zwischenanalysen publizierter Studien, die auf einer medianen Nachbeobachtungzeit von wenigen Monaten nach der 2. Impfung beruhen. Diese Zeit ist zwar ausreichend, um ungefähr zu sagen, wie viele Probanden die Kriterien für den primären Endpunkt – Wirksamkeit des Impfstoffes gegen eine bestätigte Erkrankung
(Covid-19) nach SARS-CoV-Infektion, die wenigstens 7 Tage nach der 2. Impfung begonnen hatte – erfüllt haben. Leider ist aber in Deutschland versäumt worden, während der jetzt begonnenen Impfkampagne Kohortenstudien durchzuführen, um bei gewissen Risikogruppen (z.B. alte Menschen mit Begleiterkrankungen, Menschen mit erhöhter Thrombosegefährdung, Menschen mit das Immunsystem beeinträchtigenden Erkrankungen oder Medikamenten, Menschen mit Allergien) in Registern systematisch „Real-World-Daten“ zu erfassen, um mehr Erkenntnisse der Impfstoffe in Bezug auf Wirksamkeit, Sicherheit und Immunogenität in den zuvor genannten Risikogruppen zu erhalten. Dies wäre eine wichtige Aufgabe der Gesundheitspolitik gewesen, die leider diesbezüglich untätig war.

Heißt das: Achtung möglicher Bias?
Ja! Ebenso wichtig ist, dass auf Basis der vorliegenden Daten natürlich nichts zur Langzeitsicherheit gesagt werden kann. Immerhin wissen wir, dass sich bei allen zugelassenen Impfstoffen eine recht gute Immunität entwickelt, was sowohl neutralisierende IgG Antikörper betrifft als auch die zelluläre – also durch T-Lymphozyten vermittelte – Immunität. Wir wissen aber nichts darüber, wie sich die Immunität nach sechs oder gar zwölf Monaten verhält.

Es gibt in Medien berichtete Daten, die bezweifeln, dass eine Immunität sehr viel länger als sechs Monate dauern wird.
Dies wissen wir nicht genau aufgrund der kurzen Nachbeobachtung in den klinischen Studien. Wir benötigen aber hierzu gesicherte Erkenntnisse, um eine sehr wahrscheinlich nötige zweite Impfkampagne rechtzeitig planen können. Nur eine ausreichend lange Nachbeobachtung wird diese wichtige Frage beantworten können. Auch möglicherweise verzögert auftretende Nebenwirkungen könnten dann zuverlässig erfasst werden. Dies halte ich vor allem angesichts der bisher noch nie verabreichten mRNA-Impfstoffe für wichtig.

Auch hat das PEI verschiedene Sicherheitsstudien zur aktiven Überwachung der Impfstoffsicherheit aufgelegt und die App „SafeVac“ zur Erhebung der Verträglichkeit von Covid-19-Impfstoffen entwickelt (1).
Eine App wie „SafeVac“ ist zweifelsfrei sinnvoll. Sie muss allerdings ihre Praxistauglichkeit noch nachweisen. Genauso wichtig ist, dass die Ärzteschaft konsequent alle unerwünschten Arzneimittelereignisse (UAE), die nach den Impfungen auftreten, an die zuständigen Institutionen meldet, und zwar nicht nur schwerwiegende UAE, sondern auch Verdachtsfälle von UAE.

Was sagen uns die Todesfälle in Norwegen, die nach Impfungen auftraten?
Die dokumentierten Todesfälle im Rahmen der Impfaktionen in Norwegen darf man nicht überbewerten. In Norwegen sterben, wie auch bei uns, ältere gebrechliche Menschen – um die es sich bei den berichteten Fällen meist gehandelt hat – aus unterschiedlichen Gründen. Daher muss man sehr sorgfältig analysieren, ob der Tod natürlich oder womöglich in Folge einer Impfung aufgetreten ist. Letzteres kann möglicherweise auch auftreten, weil über 80 Jahre alte, gebrechliche Personen mit schweren Begleiterkrankungen durch systemisch auftretende Impfnebenwirkungen (z. B. Fieber, Erbrechen, Diarrhö) akut sehr gefährdet sein können. Grundsätzlich müssen die zuständigen Ärzte in Seniorenheimen sehr sorgfältig abwägen: Was ist trotz aller Vorsichtsmaßnahmen für einen alten Menschen (> 80 Jahre) mit schweren Begleiterkrankungen wahrscheinlicher: sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren und vermutlich einen schweren Verlauf von Covid-19 zu erleiden oder infolge schwerwiegender Impfnebenwirkungen ernsthaft zu erkranken?

Das Problem, mit statistischen Größen umzugehen und sie an die Bevölkerung und auch an Fachgruppen zu vermitteln, damit diese sie auch richtig interpretieren können, ist also alles andere als trivial. Gäbe es denn überhaupt einen guten Weg so zu kommunizieren, dass die Bevölkerung in der Lage ist, eine wirklich gut begründete Bereitschaft zur Impfung zu erreichen?
Die bisher erfolgte Kommunikation in der Öffentlichkeit zur Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 war aus meiner Sicht unzureichend. Anstatt die zuvor genannten Werte zur Berechnung der relativen Wirksamkeit verständlich darzustellen, wurde in den öffentlichen Medien und häufig auch in Talkshows ausführlich über den Aufbau von Impfzentren, Probleme bei der Beschaffung und Verabreichung von Impfstoffen sowie über die Sinnhaftigkeit der Lockdown-Maßnahmen diskutiert. Gewünscht hätte ich mir verstärkt eine für die Öffentlichkeit verständliche Darstellung, was Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 bewirken sollen (z. B. sterile Immunität in der Bevölkerung), was wir zu ihrer Wirksamkeit und Sicherheit momentan wissen und vor allem, welche Fragen hierzu derzeit noch nicht beantwortet werden können. Es gibt aus den USA, aber auch beispielsweise vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin interessante Publikationen zur geeigneten Information der Öffentlichkeit. Diese zeigen, wie man die Bevölkerung auch über vorhandene Unsicherheiten hinsichtlich der Impfungen gegen SARS-CoV-2 adäquat informieren kann. Wenn man dies richtig tut, sind Menschen eher bereit, die derzeit notwendigen Maßnahmen zu akzeptieren – sei es die eines Lockdowns oder die einer Impfung.

Wer hat die Verantwortung dafür?
Ich denke, dass die Verantwortlichen für die Gesundheitspolitik in Deutschland und die Experten, die sich derzeit regelmäßig in den öffentlichen Medien zu Wort melden, diese offene Kommunikation über Studienergebnisse zu den Impfungen mehr hätten beherzigen sollen. Eindeutiges Ziel dieser Kommunikation war und ist, die zugelassenen Impfstoffe in der Öffentlichkeit so darzustellen, dass eine möglichst hohe Impfbereitschaft entsteht – jedoch immer auf Basis zuverlässiger und transparenter Daten. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hätte aus meiner Sicht in diese Kommunikation stärker eingebunden werden müssen, da dort Experten sitzen, die über große Erfahrung in der unabhängigen, evidenzbasierten Nutzenbewertung von Arzneimitteln und Impfstoffen verfügen.

Was ist mit dem RKI?
Im RKI sitzen ohne Zweifel sehr kompetente Virologen bzw. Infektiologen. Die dort angesiedelte STIKO ist verantwortlich für die in der Regel einmal jährlich im Epidemiologischen Bulletin des RKI veröffentlichten Standardempfehlungen zu den Impfstoffen und aktuell vor allem für die Covid-19-Impfempfehlungen. Ich denke, dass die gründliche Interpretation klinischer Studiendaten zu den Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 und entsprechende Kommunikation nicht zu ihrem Kerngebiet gehören.

Ein anderer Punkt ist die Kosten-Nutzen-Analyse der zugelassenen Impfstoffe. Der Ursprungspreis des BioNTech/Pfizer-Vakzins soll mit 54 Euro pro Dosis ziemlich hoch angesetzt gewesen sein.
Ja, dies hat eine Netzwerkrecherche von ARD und Süddeutscher Zeitung aufgedeckt. Dabei handelte es sich offensichtlich um ein vertrauliches Erstangebot an die Europäische Kommission. Kürzlich ist eine sehr informative Publikation unter der Rubrik „Public Health“ im „Lancet“ (2) erschienen, in der man genau sieht, welche Preise für die Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 in den sogenannten „High Income-Countries“ – den Industrienationen, also auch in Deutschland – bezahlt werden. Sowohl für die Vakzine, die bereits zugelassen sind, als auch für diejenigen, die sich noch in der Forschung und Entwicklung befinden. Angegeben wurde jeweils der niedrigste Preis, der für die meisten Impfstoffe zwischen 5 und 30 US-Dollar lag.

Das Ursprungsangebot von 54 Euro, mit dem BioNTech/Pfizer in die Verhandlungen gestartet ist, war jedoch ein Erstangebot in der Preisverhandlung an die EU.
Absolut richtig. Mich stört es, dass dieses ursprüngliche Angebot zunächst geheim gehalten worden ist. Und: Ich halte es in Relation zu dem, was die meisten anderen Impfstoffhersteller für eine Dosis verlangen, rückblickend für unseriös.

Woran sollte sich der Preis eines Impfstoffes oder eines Arzneimittels orientieren?
In erster Linie natürlich an den tatsächlichen Forschungs- und Entwicklungskosten und deren finanzielle Unterstützung durch staatliche Organisationen, aber auch an den Kosten für die Herstellung der Impfstoffe und den für die weltweiten Impfkampagnen benötig-
ten großen Volumina der Impfstoffe. Bei den aktuell diskutierten Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 kommt hinzu, dass Staaten in Vorleistungen gegangen sind. Was auch wichtig und absolut richtig war, weil schnell Impfstoffe benötigt wurden und werden. BioNTech zum Beispiel hat nach Aussage eines „Lancet“-Artikels (2) etwa 445 Millionen US-Dollar an staatlicher Unterstützung bekommen – alleine aus Deutschland. Auch andere Impfstoffe haben erhebliche finanzielle Unterstützung durch nationale Regierungen beziehungsweise „Non-Profit“-Organisationen (wie etwa die Bill & Melinda Gates-Foundation oder die „Coalition for Epidemic Preparedness Innovations“, kurz CEPI, erhalten. Nach Angaben in dem „Lancet“-Artikel variiert diese Finanzierung deutlich zwischen 3 Millionen US-Dollar von „Non-Profit“-Organisationen bis hin zu 2,1 Milliarden US-Dollar von der Regierung in den USA sowie der Bill & Melinda Gates-Foundation. Wenn man nun hochrechnet, dass mit diesen Impfstoffen nicht wie bei Medikamenten tausende oder zehntausende an Patienten behandelt werden, sondern viele Millionen, ja Milliarden an Menschen, wird rasch deutlich, dass infolge der Pandemie ein enormer Umsatz und damit auch Börsenwert für die in der Impfstoffherstellung führenden pharmazeutischen Unternehmen realisiert wird.

Dennoch werden die Ausgaben für Impfungen immer noch billiger sein als Lockdowns, abgesehen davon, dass damit jede Menge Leben gerettet und Folgeschäden von Corona vermieden werden.
Darum wurden weltweit richtigerweise Impfkampagnen gestartet, um so die Pandemie zurückzudrängen. Das muss uns jedoch nicht nur in den reichen Staaten, sondern auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern gelingen. Wenn wir nur die Industrienationen nach dem Motto „Europe first“ oder „America first“ impfen, werden wir nur schwer eine tatsächliche Herdenimmunität erzielen können. In den sehr mobilen Gesellschaften, in denen wir heutzutage leben, werden ansonsten immer wieder aufs Neue Viren von außerhalb Europas oder Amerika eingetragen und damit zwangsläufig auch immer wieder neue Mutanten.

Sie haben die Intransparenz der Preise und der Verhandlungen kritisiert. Kann man solche Verhandlungen transparent führen?
Eine europäische Initiative aus immerhin insgesamt 39 Institutionen hat frühzeitig gefordert, dass die gesamten Beschaffungsvereinbarungen von Impfstoffen transparent gestaltet werden. Es wurde jedoch nicht gefordert, dass die Preisverhandlungen transparent gestaltet werden. Das halte ich auch – obwohl es wünschenswert wäre – für ziemlich unrealistisch. Transparent hätte man hingegen machen können, um welche Größenordnung es bei Preisen und Mengen geht und zu welcher Zeit, welche Mengen zur Verfügung stehen können. Dann hätte man der Öffentlichkeit ein viel besseres Bild vermitteln können, vor welchen Problemen eine vernünftige Impfkampagne in Deutschland wirklich steht. Vollmundige Versprechen nutzen niemanden, am wenigsten dann, wenn man sie nicht halten kann.

Wie steht es denn um die Frage der ärztlichen Aufklärung?
Dieses Thema liegt mir sehr am Herzen. Wenn ich höre, was meine bereits geimpften Patienten, fast alle mit malignen Erkrankungen, über die ihnen gegebene Aufklärung in den Impfzentren berichten, dann wird deutlich, dass diese Form der Aufklärung mit Video, umfangreichen Papieren und kurzem Gespräch mit dem Arzt nur selten die Anforderung an eine gründliche ärztliche Sicherungs- und Selbstbestimmungsaufklärung erfüllt. Das halte ich für nicht akzeptabel.

Für was plädieren Sie?
Die vielen Leute, die kurzfristig als Impf-ärzte rekrutiert wurden, können die Ergebnisse der klinischen Studien im Einzelnen gar nicht kennen bzw. so kommunizieren, dass sie eine impfbereite Person versteht. Eine sachgerechte ärztliche Aufklärung zur Impfung gegen SARS-CoV-2 – besonders hinsichtlich der Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe, aber auch der Notwendigkeit der Impfung – kann am besten in Hausarztpraxen erfolgen. Die hier tätigen Kollegen kennen ihre Patienten und deren Vor- bzw. Begleiterkrankungen und wissen meist auch sehr gut, wie diese Informationen vermittelt werden sollten, sodass man sie auch versteht.

Herr Professor Ludwig, Danke für das Gespräch. <<    

Das Interview führten MVF-Herausgeber Prof. Dr Reinhold Roski und MVF-Chefredakteur Peter Stegmaier.

Zitationshinweis:Ludwig, W.-D., Roski, R., Stegmaier, P.: „Eine 95%-Wirksamkeit bedeutet eigentlich recht wenig“, in „Monitor Versorgungsforschung“ (02/21), S. 6-11. doi: http://doi.org/ 10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2284

Vita

Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig

ist seit 2006 Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Der Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und internistische Onkologie, Zusatzbezeichnung Transfusionsmedizin ist bereits seit 1999 Ordentliches Mitglied der Arzneimittelkommission und seit 2000 Vorstandsmitglied. Zudem ist er seit 1988 Mitglied verschiedener nationaler und internationaler Fachgesellschaften (u. a. Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie, European Hematology Association, American Society of Hematology) sowie seit 2006 Mither-ausgeber des unabhängigen Informationsblattes „DER ARZNEIMITTELBRIEF“ und seit 2010 Mitglied im Beirat von „Monitor Versorgungsforschung“. Ebenso ist er seit 2013 als Vertreter des „Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte“ (CPME) Mitglied im Management-Board der EMA.

Ausgabe 02 / 2021

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

Gemeinsamer Priorisierungskatalog

« Dezember 2022 »
Dezember
MoDiMiDoFrSaSo
1234
567891011
12131415161718
19202122232425
262728293031