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Medikamentöse und nicht-medikamentöse Vergiftungen in Deutschland: eine Analyse von Krankenhausdiagnosedaten aus der GBE-Datenbank

30.03.2021 15:00
Eine Vergiftung oder Intoxikation wird als Kontakt mit einer Substanz bzw. Noxe definiert, die bei einem Lebewesen zu einer schädlichen Wirkung führt (O’Malley & O’Malley, 2018). Nach aktueller Klassifikation (ICD-10) wird unter anderem unterschieden zwischen • Intoxikationen mit Arzneimitteln und Drogen (exklusive Alkoholrausch, Trunkenheit und Suizide durch Vergiftung), T36.* bis T50.* und • Intoxikationen mit nicht-medikamentösen Substanzen (z.B. Lösungsmittel, Kohlenwasserstoffe, Gase, Metalle, Kosmetika, Insektenstiche, Nahrungsmittel, z.B. Pilze), ICD-10 Codes T51.* bis T65.* • sowie Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (z.B. Alkoholrausch, Alkoholabhängigkeit, Opioid-intoxikation), F10.* bis F19.* • und vorsätzliche Selbstvergiftungen mit Arzneimitteln (X60–X64) Oft erfolgen Vergiftungen unbeabsichtigt, beispielsweise bei Kindern, mit Medikamenten oder mit Produkten aus dem Alltag. Neben der Risikogruppe der Kinder gewinnen auch Vergiftungen bei kognitiv eingeschränkten Menschen an Bedeutung (Hahn & Feistkorn, 2019). Für die verschiedenen Arten der Intoxikation liegen in Deutschland vereinzelt Daten zur Häufigkeit vor und als Datenquellen hierzu können beispielsweise neben den Statistiken der Giftinformationszentralen auch Krankenhaus- oder Todesstatistiken des Bundes dienen (GIZ, 2020; GBEa,b,c,d). Es liegen allerdings kaum vergleichbare Analysen dieser verschiedenen Quellen und verhältnismäßig wenige statistische Analysen zur Häufigkeit von Vergiftungen sowie Korrelationen mit sozioökonomischen Faktoren aus Deutschland vor. Vergiftungsunfälle in Deutschland werden im Vergleich zu anderen Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht zusammenfassend dokumentiert und ausgewertet, was die Ableitung präventiver Maßnahmen behindert (Hahn et al. 2014).

doi: http://doi.org/10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2302

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Abstract

Ziel war die Häufigkeit von Krankenhausdiagnosen medikamentöser (T36.*–T50.*) und nicht-medikamentöser Vergiftungen (T51.*– T65.*) in Deutschland über die Jahre 2008 bis 2017 zu untersuchen. Dazu wurde eine Analyse mit den altersstandardisierten Diagnoseraten zu den ICD-10-Codes T36.*– T50 und ICD-10-Codes T51.* – T65 aus der Datenbank der Gesundheitsberichterstat-tung des Bundes durchgeführt und bzgl. alters- und geschlechtsspezifischer Unterschiede sowie Korrelationen mit sozioökonomischen Faktoren untersucht. Neben einer Abnahme der medikamentösen und nicht-medikamentösen Vergiftungen seit 2008, zeigen Frauen das höhere Risiko für medikamentöse Vergiftungen im Vergleich zu Männern, allerdings ein numerisch geringeres Risiko bei den nicht-medikamentösen Vergiftungen. In der Altersgruppe der 15-24-Jährigen traten in 2017 signifikant höhere Raten medikamentöser Vergiftungen (OR: 2,31 [95% KI: 1,41; 3,76]; p=0,001) im Vergleich zur Referenzaltersgruppe der 45-54-Jährigen auf. Korrelationen zwischen der Abnahme der Vergiftungsfälle wurden mit dem Pro-Kopf-Einkommen, der Arbeitslosenquote, der Anzahl der Haushalte mit Wohngeld sowie der Schulbildung für die Jahre 2008 bis 2017 ermittelt. Präventive Maßnahmen in Bezug auf medikamentöse Vergiftungen erscheinen insbesondere in der Altersgruppe der 15-24-Jährigen sowie bei Frauen und finanziell- und bildungsbenachteiligten Gruppen angebracht.

Pharmacological and non-pharmacological intoxications in Germany: An analysis of hospital
diagnose numbers from the GBE database

The objective was to analyze the prevalence of hospital related diagnoses of pharmacological (T36.*-T50. *) and non-pharmacological intoxications (T51.*-T65. *)
in Germany between 2008 and 2017. A retrospective analysis of age-adjusted diagnosis rates of ICD-10 codes T36.*-T50.* and T51.*-T65.* from the Information System of the Federal Health Monitoring was performed. Besides analysis of age- and gender-specific differences in intoxications, correlations with socioeconomic factors were analyzed. Despite a decrease from pharmacological as well as non-pharmacological intoxications since 2008 women are at higher risk of a pharmacological poisoning in comparison to men and of numerically lower risk in terms of non-pharmacological intoxications. The age group 15-24-years (OR: 2,31 [95% KI: 1,41; 3,76]; p=0,001) indicated a significantly higher risk compared to the reference age group of 45-54-years for pharmacological intoxications in 2017. Significant correlations were observed between the decrease of intoxications in the years 2008 to 2017 and the income per capita, the unemploymentrate, the number of supported households as well as the level of education. Preventive interventions concerning pharmacological intoxications appear appropriate in the age group of 15-24-years as well as in women and financially as well as educationally underprivileged people.

Keywords
Pharmacological intoxications, non-pharmacological intoxications, prevalence, prevention

Prof. Dr. rer. nat. Luis Möckel / Prof. Dr. phil. Yvonne Treusch

Literatur
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DESTATISc – Statistisches Bundesamt. Wohngeld – Wohngeldhaushalte im Zeitvergleich. In: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Wohngeld/Tabellen/liste-wohngeld-zeitvergleich.html (abgerufen am 20.5.2020)
DGPM (2019). Pressemitteilung. Alleinerziehende unter Druck. In: https://www.dgpm.de/de/presse/presse-informationen/presse-information/alleinerziehende-unter-druck/ (abgerufen am 12.06.2020)
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DHS, Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen. Frauen und Männer. In: https://www.medikamente-und-sucht.de/interessierte-und-betroffene/risiken-in-lebenslagen-situationen/frauen-und-maenner.html (abgerufen am 13.6.2020)
GBEa, Diagnosedaten der Krankenhäuser ab 2000 (Fälle/Sterbefälle, Fälle je 100.000 Einwohner). Gliederungsmerkmale: Jahre, Wohnsitz, Alter, Geschlecht, Verweildauer, ICD-4-Steller, Art der Standardisierung. (Primärquelle: Krankenhausstatistik – Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern, Statistisches Bundesamt). In: www.gbe-bund.de (Suche mittels der ICD-10 Codes: T36 bis T50). (abgerufen am 20.5.2020)
GBEb, Diagnosedaten der Krankenhäuser ab 2000 (Fälle/Sterbefälle, Fälle je 100.000 Einwohner). Gliederungsmerkmale: Jahre, Wohnsitz, Alter, Geschlecht, Verweildauer, ICD-4-Steller, Art der Standardisierung. (Primärquelle: Krankenhausstatistik – Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern, Statistisches Bundesamt). In: www.gbe-bund.de (Suche mittels der ICD-10 Codes: T51 bis T65). (abgerufen am 20.5.2020)
GBEc, Diagnosedaten der Krankenhäuser ab 2000 (Fälle/Sterbefälle, Fälle je 100.000 Einwohner). Gliederungsmerkmale: Jahre, Wohnsitz, Alter, Geschlecht, Verweildauer, ICD-4-Steller, Art der Standardisierung. (Primärquelle: Krankenhausstatistik – Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern, Statistisches Bundesamt). In: www.gbe-bund.de (Suche mittels des ICD-10 Codes: F10) (abgerufen am 20.5.2020)
GBEd, Diagnosedaten der Krankenhäuser ab 2000 (Fälle/Sterbefälle, Fälle je 100.000 Einwohner). Gliederungsmerkmale: Jahre, Wohnsitz, Alter, Geschlecht, Verweildauer, ICD-4-Steller, Art der Standardisierung. (Primärquelle: Krankenhausstatistik – Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern, Statistisches Bundesamt). In: www.gbe-bund.de (Suche mittels der ICD-10 Codes: F10 bis F19) (abgerufen am 20.5.2020)
GBEe, Diagnosedaten der Krankenhäuser ab 2000 (Fälle/Sterbefälle, Fälle je 100.000 Einwohner). Gliederungsmerkmale: Jahre, Wohnsitz, Alter, Geschlecht, Verweildauer, ICD-4-Steller, Art der Standardisierung. (Primärquelle: Krankenhausstatistik – Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern, Statistisches Bundesamt). In: www.gbe-bund.de (Suche mittels des ICD-10 Codes: F32) (abgerufen am 20.5.2020)
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Robert Koch-Institut (Hrsg) (2014): Gesundheitliche Lage der Männer in Deutschland. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. RKI, Berlin 2014.
Wollenschläger IC (2008): Unerwünschte Arzneimittelreaktionen und Intoxikationen als Ursachen für eine intensivmedizinische Behandlung-Ergebnisse einer einjährigen prospektiven Kohortenstudie. In: Archiv der Universität Heidelberg, 2008.

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Zitationshinweis: Möckel, L., Treusch, Y.: „Medikamentöse und nicht-medikamentöse Vergiftungen in Deutschland: eine Analyse von Krankenhausdiagnosedaten aus der GBE-Datenbank“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (02/21), S. 81-86. http://doi.org/10.24945/MVF.02.21.1866-0533.2302

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Medikamentöse und nicht-medikamentöse Vergiftungen in Deutschland: eine Analyse von Krankenhausdiagnosedaten aus der GBE-Datenbank

Eine Vergiftung oder Intoxikation wird als Kontakt mit einer Substanz bzw. Noxe definiert, die bei einem Lebewesen zu einer schädlichen Wirkung führt (O’Malley & O’Malley, 2018). Nach aktueller Klassifikation (ICD-10) wird unter anderem unterschieden zwischen
• Intoxikationen mit Arzneimitteln und Drogen (exklusive Alkoholrausch, Trunkenheit und Suizide durch Vergiftung), T36.* bis T50.* und  
• Intoxikationen mit nicht-medikamentösen Substanzen (z.B. Lösungsmittel, Kohlenwasserstoffe, Gase, Metalle, Kosmetika, Insektenstiche, Nahrungsmittel, z.B. Pilze), ICD-10 Codes T51.* bis T65.*
• sowie Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (z.B. Alkoholrausch, Alkoholabhängigkeit, Opioid-intoxikation), F10.* bis F19.*
• und vorsätzliche Selbstvergiftungen mit Arzneimitteln (X60–X64)
Oft erfolgen Vergiftungen unbeabsichtigt, beispielsweise bei Kindern, mit Medikamenten oder mit Produkten aus dem Alltag. Neben der Risikogruppe der Kinder gewinnen auch Vergiftungen bei kognitiv eingeschränkten Menschen an Bedeutung (Hahn & Feistkorn, 2019). Für die verschiedenen Arten der Intoxikation liegen in Deutschland vereinzelt Daten zur Häufigkeit vor und als Datenquellen hierzu können beispielsweise neben den Statistiken der Giftinformationszentralen auch Krankenhaus- oder Todesstatistiken des Bundes dienen (GIZ, 2020; GBEa,b,c,d). Es liegen allerdings kaum vergleichbare Analysen dieser verschiedenen Quellen und verhältnismäßig wenige statistische Analysen zur Häufigkeit von Vergiftungen sowie Korrelationen mit sozioökonomischen Faktoren aus Deutschland vor. Vergiftungsunfälle in Deutschland werden im Vergleich zu anderen Gesundheitsbeeinträchtigungen nicht zusammenfassend dokumentiert und ausgewertet, was die Ableitung präventiver Maßnahmen behindert (Hahn et al. 2014).
>> Bereits publizierte internationale Analysen zeigen beispielsweise Zusammenhänge zwischen dem Bildungsstand der Eltern, dem Geschlecht, dem Alter, dem Berufsstatus sowie der Ethnie mit un-gewollten Vergiftungen von Kindern, Überdosierungen von Medikamenten bzw. risikoreichem Trinken (Paljärvi et al. 2013, Ayubi et al. 2016, Brady et al. 2017)
Die Häufigkeit verschiedener Intoxikationen kann regionalen und zeitlichen Änderungen unterliegen. So unterscheidet sich das Noxenspektrum bei Vergiftungsanfragen/-fällen zwischen den Mit-gliedsländern der Europäischen Union (EU) (Hahn & Feistkorn, 2019). Die Gruppe der unerwünschten Arzneimittelreaktionen und Intoxikationen mit Alkohol und Drogen stellt seit Jahren die häufigste Ursache für giftinduzierte Krankenhausaufenthalte in Deutschland dar (Wollenschläger, 2008; Hahn & Feistkorn, 2019). Giftinformationszentren und das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) können Nebenwirkungs- und Vergiftungsfälle bei neuen Medikamenten im Rahmen der Pharmakovigilanz registrieren. Bislang fehlt aber in Deutschland ein tragfähiges systematisches nationales Monitoring im Rahmen eines Toxikovigilanzsystems (Hahn & Feistkorn, 2019).
Vor dem Hintergrund einer oft starken Fokussierung auf Vergiftungen durch Alkohol und Drogen sowie wenigen vorliegende statistischen Auswertungen zu Vergiftungen, war das Ziel die Verände-rungen in der Häufigkeit von Krankenhausdiagnosen medikamentöser (T36.*– T50.*) und nicht-medikamentöser Vergiftungen (T51.*–T65.*) in Deutschland für die Jahre 2008-2017 zu analysieren. Es sollten mögliche Unterschiede auf Ebene der Bundesländer, in Bezug auf das Geschlecht sowie zwischen verschiedenen Altersgruppen untersucht werden. Zusätzlich sollten potenzielle Korrelationen zwischen Veränderungen in der Anzahl der Vergiftungen und soziodemografischen Daten in den betrachteten Jahren analysiert werden.
Methoden
Datenquellen
Bei dieser Studie handelte es sich um eine retrospektive Analyse von Krankenhausdiagnosedaten zu Vergiftungen mit medikamentösen und nicht-medikamentösen Substanzen. Die medikamentösen Vergiftungen basierten auf den ICD-10-Codes T36.*– T50.* (Vergiftungen durch Arzneimittel, Drogen und biologisch aktive Substanzen) (GBEa) und die nicht-medikamentösen Vergiftungen auf den ICD-10 Codes T51.* – T65.* (Toxische Wirkungen von vorwiegend nicht medizinisch verwendeten Substanzen) (GBEb). Die entsprechenden altersstandardisierten Fallzahlen zu den medikamentösen als auch nicht-medikamentösen Vergiftungen pro 100.000 Einwohner wurden dem Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE-Datenbank) entnommen (GBEa,b).
Es wurden jeweils die Daten für die Jahre 2008-2017 nach Geschlecht und nach Altersgruppen abgerufen. Des Weiteren wurden für das Jahr 2017 die altersstandardisierten Fallzahlen pro 100.000 Einwohner medikamentöser und nicht-medikamentöser Vergiftungen sowohl für Deutschland gesamt als auch für die einzelnen Bundesländer genutzt (GBEa,b). Es wurden nur Diagnosedaten von Personen mit Wohnsitz in Deutschland verwendet.
Alle folgenden Daten wurden jeweils für die Jahre 2008-2017 den entsprechend genannten Quellen entnommen. Das Einkommen pro Kopf wurde von der Seite der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder abgerufen (BW). Die Anzahl der Todesursachen durch vorsätzliche Selbstbeschädigung (Suizide) wurden der GENESIS-Datenbank des statistischen Bundesamtes entnommen (GENESIS).
Die Arbeitslosenquoten, der Anteil der Personen im Alter von ≥15 Jahren nach allgemeinem Bildungsabschluss sowie die Anzahl der Haushalte mit Wohngeld in den entsprechend untersuchten Jahren, konnte dem Statistischen Bundesamt entnommen werden (DESTATISa,b,c). Die Krankenhausdiagnosedaten (altersstandardisierter Fälle/100.000 Einwohner) zu den ICD-10-Codes F10.* (Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol), F10.*– F19.*(Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen) und F32.* (Depressive Episode) wurden ebenfalls der GBE-Datenbank entnommen (GBEc,d,e).
Da es sich bei dieser Studie um eine retrospektive Analyse veröffentlichter Diagnosedaten handelte, war eine Zustimmung der Ethikkommission der HSD Hochschule Döpfer für die Durchführung nicht notwendig.
Statistische Auswertung
Für die Analyse der Veränderung der altersstandardisierten Krankenhausfälle pro 100.000 Einwohner (Rate) medikamentöser sowie nicht-medikamentöser Vergiftungen über die Jahre 2008-2017 wurde der Chi-Quadrat-Test angewendet. Es wurden Odds Ratios (OR) sowie die dazugehörigen 95%-Konfidenzintervalle (95% KI) für die Jahre 2009 bis 2017 im Vergleich zur altersstandardisierten Rate des Referenzjahres 2008 berechnet. Auch für die Analyse Geschlechts-spezifischer Unterschiede in den Jahren 2008 bis 2017, den altersspezifischen Unterschieden in den Jahren 2008 und 2017 sowie den Bundesland-spezifischen Unterschieden in 2017 wurde der Chi-Quadrat-Test verwendet. Als entsprechende Referenzen wurden die altersstandardisierten Diagnoseraten der Männer, der 45-54-Jährigen bzw. die Diagnoserate für Deutschland insgesamt festgelegt.
Für die Bestimmung von Korrelationen zwischen Veränderungen der altersstandardisierten Diagnoseraten medikamentöser und nicht-medikamentöser Vergiftungen über die Jahre 2008 bis 2017 und sozio-
ökonomischen sowie gesundheitlichen Faktoren der entsprechenden Jahren wurde die Spearman Korrelation (rho) verwendet.
Für alle Analysen wurde ein p-Wert von ≤0,05 als statistisch signifikant angesehen. Die Analysen erfolgten mit Hilfe der Programme PSPP und JASP (GNU 2015, JASP 2020).
Ergebnisse
Vergiftungen in den Jahren 2008 bis 2017
Im Falle der medikamentösen Vergiftungen konnte, mit Ausnahmen des Jahres 2011, eine stetige Abnahme der altersstandardisierten Diagnoseraten von 2008-2017 beobachtet werden (Abb. 1). In den Jahren 2015 (OR: 0,60 [95% KI: 0,39; 0,94]; p=0,023), 2016 (OR: 0,55 [95% KI: 0,35; 0,86]; p=0,008) und 2017 (OR: 0,51 [95% KI: 0,32; 0,81]; p=0,004) waren die Unterschiede in den Raten signifikant geringer im Vergleich zur Diagnoserate in 2008. In allen betrachteten Kalenderjahren zeigten Frauen das höhere Risiko einer medikamentösen Vergiftung im Vergleich zu Männern, wobei das Risiko nur in den 2008 bis 2013 signifikant höher war (Tab. 1).
Bei den nicht-medikamentösen Vergiftungen kam es ab 2012 ebenfalls zu einer stetigen Abnahme der altersstandardisierten Diagnoseraten pro 100.000 Einwohnern im Vergleich zu 2008 (Abb. 1).
Allerdings bestand in keinem Jahr ein signifikanter Unterschied im Vergleich zum Referenzjahr 2008. Frauen hatten bei den nicht-medikamentösen Vergiftungen in jedem Jahr ein numerisch geringeres Risiko als Männer, wobei der Unterschied in keinem Jahr signifikant zwischen den beiden Geschlechtern war (Tab. 1).
Die Analyse der altersstandardisierten Raten nach Altersgruppen zeigte, dass bei den medikamentösen Vergiftungen in 2008 in den Altersgruppen der 15-24-Jährigen (OR: 1,67 [95% KI: 1,17; 2,38]; p=0,005) sowie der 75+-Jährigen (OR: 2,02 [95% KI: 1,43; 2,86]; p≤0,001) signifikant höhere Raten im Vergleich zur Referenzaltersgruppe der 45-54-Jährigen auftraten. Bei den unter 15-Jährigen war die Rate dagegen signifikant geringer (OR: 0,60 [0,38; 0,96]; p=0,03) (Tab. 2).
Im Jahr 2017 war nur noch bei den 15-24-Jährigen (OR: 2,31 [95% KI: 1,41; 3,76]; p=0,001) die altersstandardisierte Diagnoserate signifikant höher im Vergleich zur Referenzaltersgruppe. Bei den nichtmedikamentösen Vergiftungen traten keine signifikanten Unterschiede in den Altersgruppen in den beiden betrachteten Jahren 2008 und 2017 auf (Tab. 2).
Im Jahr 2017 waren die altersstandardisierten Diagnoseraten medikamentöser Vergiftung in allen Bundesländern vergleichbar mit der Rate in Deutschland insgesamt (Abb. 2). Auch bei der Analyse der altersstandardisierten Diagnoseraten nicht-medikamentöser Vergiftung zeigte sich, dass, mit einer Ausnahme, alle Bundesländer nicht-signifikante Unterschiede und somit vergleichbare Raten zu der Rate für Deutschland insgesamt zeigten. Die angesprochene Ausnahme wurde für Berlin ermittelt, wo das Risiko einer nicht-medikamentösen Vergiftung auf Basis der analysierten Krankenhaus-Diagnosedaten und basierend auf dem p-Wert des Chi-Quadrat Tests signifikant um 52% (OR: 0,48 [95% KI: 0,22; 1,01) p=0,048] geringer war im Vergleich zu Deutschland insgesamt.

Korrelationen zwischen Vergiftungen und sozioökonomischen/gesundheitlichen Faktoren
Eine signifikante inverse Korrelation zwischen der Abnahme der altersstandardisierten Fälle pro 100.000 Einwohner konnte sowohl für die medikamentösen (rho: -0,924; p<0,001) sowie nicht-medikamentösen (rho: -0,894; p<0,001) Vergiftungen mit dem Anstieg des Einkommens pro Kopf in den Jahren 2008 bis 2017 bestimmt werden (Tab. 3). Auch mit dem Anteil von Personen mit mittlerer Reife (rho: -0,911; p<0,001 bzw. rho: -0,868; p=0,001) und Fachhochschul-/Hochschulreife (rho: -0,924; p<0,001 bzw. rho: -0,881; p<0,001) wurden signifikante inverse Korrelationen mit der Abnahme der Vergiftungen ermittelt. Der Anteil der Personen mit Hauptschulabschluss in den betrachteten Kalenderjahren korrelierte dagegen nicht-invers mit der Abnahme medikamentöser (rho: 0,924; p<0.001) und nicht-medikamentöser (rho: 0,881; p<0.001) Vergiftungen. Auch die Arbeitslosenquoten in den Jahren 2008 bis 2017 korrelierte signifikant mit den altersstandardisierten Raten medikamentöser (rho: 0,912; p<0.001) als auch nicht-medikamentöser (rho: 0,875; p<0,001) Vergiftungen. Eine signifikante Korrelation konnte auch für die Anzahl der Haushalte mit Wohngeld in den Jahren 2008 bis 2017 sowie den medikamentösen (rho: 0,736; p=0,015) als auch nicht-medikamentösen (rho: 0,705; p=0,023) Vergiftungen berechnet werden.
Die Abnahme der altersstandardisierten Raten Krankenhausdiagnostizierter medikamentöser und nicht-medikamentöser Vergiftungen zeigte dagegen keine signifikanten Korrelationen mit der Anzahl der Suizide, dem Anteil der Personen ohne Schulabschluss sowie den altersstandardisierten F10.*–, F10.*– F19.*– und F32.*-Fällen pro 100.000 Einwohnern in den betrachteten Kalenderjahren.
Diskussion
Diese Analyse altersstandardisierter Krankenhausdiagnoseraten medikamentöser und nicht-medikamentöser Vergiftungen in Deutschland zeigt, dass die Fälle von 2008 bis 2017 signifikant abgenommen haben und dass Unterschiede zwischen bestimmten Altersgruppen bestehen. Des Weiteren konnten mögliche Korrelationen zwischen der Abnahme der Fälle und sozioökonomischen Faktoren identifiziert werden.
So bestehen Korrelationen zwischen der Zunahme des Einkommens sowie dem Anstieg des Anteils von Menschen in den höheren Bildungsgruppen mit der Abnahme der Vergiftungen in den be-trachteten Jahren. Zuvor publizierte Daten zeigen vergleichbare Ergebnisse in Bezug auf risikoreichen Alkoholkonsum sowie ungewollte Vergiftungen bei Kindern (Paljärvi et al. 2013; Ayubi et al. 2016). So ist bekannt, dass mit längerer Ausbildung der Eltern ein geringeres Risiko für eine ungewollte Vergiftung von Kindern einhergeht im Vergleich zu Eltern mit kürzerer oder gar keiner Aus-bildung (Ayubi et al. 2016). Diese Daten werden unterstützt durch eine weitere Analyse, welche zeigte, dass je stärker die soziale Benachteiligung ist, desto höher ist das Risiko für eine medikamentöse (T36.*– T50.*) als auch nicht-medikamentöse (T51.*– T65.*) Vergiftung (Groom et al. 2006).
Basierend auf unserer Analyse war in 2017 nur die Population der 15-24-Jährigen signifikant häufiger von medikamentösen Vergiftungen basierend auf Krankenhausdiagnosedaten betroffen, obwohl in 2008 noch die <15-Jährigen, 15-24-Jährigen sowie 75+-Jährigen signifikante Unterschiede zur Referenzgruppe der 45-54-Jährigen zeigten. Des Weiteren ist die OR der 15-24-Jährigen zwischen den Jahren 2008 bis 2017 von 1,67 auf 2,31 angestiegen, obwohl die Fallzahlen medikamentöser Vergiftungen insgesamt gesunken sind, was auf einen relativen Anstieg des Risikos in dieser Altersgruppe von 64% hindeutet. In einer Meta-Analyse zu medikamentösen Vergiftungen hatte dagegen die Populationen der 35-44- sowie 45-54-Jährigen das höchste Risiko für eine medikamentöse Überdosierung (Brady et al. 2017). Eine weitere Analyse aus Australien zeigte, dass ältere Menschen mit Demenz ein höheres Risiko für Vergiftungen haben (Mitchell et al. 2015).
Publizierte Daten zeigen auch, dass Männer ein signifikant höheres Risiko für eine medikamentöse Überdosierung haben sollen (Brady et al. 2017). Die Daten der hier vorliegenden Analyse deuten darauf hin, dass in den Jahren 2008 bis 2013 das Vergiftungsrisiko für Frauen signifikant höher war als für Männer. Dies ist kongruent mit dem Befund, dass von den etwa 1,9 Millionen Medikamentenabhängigen in Deutschland ca. zwei Drittel Frauen sind. Als Ursachen werden neben multifaktoriellen Bedingungsfaktoren, häufigere Arztbesuche im Vergleich zu Männern und der seltenere Konsum von Alkohol angenommen (DHS, 2020). Die dokumentierten Anfragen bei der GIZ (2020) nach erfassten Vergiftungs-Stoffen zeigen eine deutliche Häufung für Vergiftungen durch psychotrop wirkende Arzneimittel bspw. in 2011 (z.B. Doxepin, Diazepam, Zopliclon, Lorazepam). Männer dagegen zeigten in unserer Analyse ein numerisch höheres Risiko für nicht-medikamentöse Vergiftungen, was ggf. auf berufsbedingte Vergiftungen zurückzuführen sein könnte. Viele Metalle sind beispielsweise Auslöser für Vergiftungen und finden Verwendung in der Industrie (z.B. Quecksilber, Blei, Chrom oder Cadmium), im Bergbau und dem verarbeitendem Gewerbe sowie im Baugewerbe, in dem Männer überproportional häufig tätig sind (Statistisches Bundesamt, 2012; RKI, 2014).
Unterschiede zwischen den Bundesländern in der Häufigkeit Krankenhaus-diagnostizierter Vergiftungen bestehen nicht, auch wenn in Berlin signifikant weniger nicht-medikamentöse Vergiftungen auftraten. Unseres Erachtens nach waren die Fallzahlen sowie das Niveau der Signifikanz gemessen am 95% KI zu gering, um endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Basierend auf den Ergebnissen dieser Analyse könnte ein von Hahn & Feist (2019) angesprochenes tragfähiges systematisches nationales Monitoring im Rahmen eines Toxikovigilanzsystems bei der Prävention von Vergiftungen, bspw. durch eine schnelle Feststellung von Trends, helfen. Des Weiteren sollten sich präventive Maßnahmen, insbesondere bezogen auf die medikamentösen Vergiftungen, verstärkt auf die Altersgruppe der 15-24-Jährigen, auf Frauen sowie finanziell und bildungsbenachteiligte Gruppen richten. Interventionen sollten hier einerseits auf eine Vernetzung der an der Medikamentendistribution beteiligten Akteure der Gesundheitsversorgung abzielen (verschreibende Ärzteschaft, Apotheken, Pharmaindustrie, Suchtberatungsstellen), aber auch die gesellschaftlichsoziale Verantwortung für die beschriebenen Risikogruppen nicht außer Acht lassen.
Diese Analyse hat mehrere Limitationen:
• Erstens, es wurde nur auf die Diagnosedaten aus Krankenhäusern zurückgegriffen, sodass die eigentlichen Raten medikamentöser und nicht-medikamentöse Vergiftungen höher sein könnten.
• Zweitens, die altersstandardisierten Raten waren relativ gering, was sich an den breiten 95%-Konfidenzintervallen erkennen lässt.
• Drittens, es wurden nur einige sozioökonomische Faktoren für die Berechnung von Korrelationen verwendet und es besteht die Möglichkeit, dass noch andere Faktoren mit der Abnahme der Vergiftungen korrelieren.
Schlussfolgerungen
Das Geschlecht, das Alter sowie der soziale Status spielen bei der Häufigkeit medikamentöser und nicht-medikamentöser Vergiftungen eine Rolle. Trotz einer signifikanten Abnahme der Krankenhaus-dia-gnostizierten Vergiftungen sollten sich präventive Maßnahmen, insbesondere bezogen auf die medikamentösen Vergiftungen, verstärkt auf die Altersgruppe der 15-24-Jährigen, auf Frauen sowie finanziell und bildungsbenachteiligte Gruppen richten. <<

Ausgabe 02 / 2021

Editorial

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