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OA MVF 03/11: Zum Stand der Präventionspolitik

04.10.2012 17:40
Die derzeitigen Debatten in der Gesundheitspolitik werden stets mit Blick auf die Einnahmen- und Ausgabenseite des Gesundheitswesens geführt. Im Fokus sollte jedoch vielmehr das erklärte EU-Ziel „Steigerung gesunder Lebensjahre“ stehen. Aufgabe der Politik ist es, Prävention und Gesundheitsförderung zur vierten Säule des Gesundheitssystems auszubauen. Hierbei muss den Ansätzen in Lebenswelten eine herausragende Rolle zukommen. Gesundheit sollte als Querschnittsaufgabe in alle Politikbereiche implementiert werden. Unser Nachbarland zeigt mit seiner Stiftungslösung „Gesundheitsförderung Schweiz“, wie der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe erfolgreich nachgekommen werden kann. Diesem Positivbeispiel sollte Deutschland folgen. Auch hierzulande gibt es bereits eine Reihe guter Maßnahmen, Ansätze, Praxisbeispiele sowie zahlreiche Akteure auf dem Feld der Gesundheitsförderung. Es fehlt jedoch an einer strategischen Ausrichtung, an der Zielorientierung, Vernetzung, flächendeckender Umsetzung sowie deren Evaluation. Ein institutionelles Design in Form eines Public-Health-Instituts ist notwendig.

>> „Wenn ich krank werde oder sterbe, dann passiert das eben. Ich kann es nicht beeinflussen.“ Dieser Aussage stimmte mehr als die Hälfte der Befragten einer aktuellen Studie der Sporthochschule Köln zu. Ein weiteres Ergebnis: Nur 14 Prozent der Deutschen leben rundum gesund (DKV/Zentrum für Gesundheit der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) 2010: 22). Haben sämtliche Präventionsmaßnahmen, Kampagnen, Initiativen in Deutschland versagt? Wie kann es sein, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmer einer repräsentativen Umfrage das Schicksal für die eigene Gesundheit und Lebensdauer verantwortlich machen und somit eine eigentlich vollkommen überholte Schicksalstheorie (bspw. Faltermeier 2002) vertreten? Dieses Ergebnis ist mehr als bedenklich und kann nur als Aufforderung verstanden werden, dringend zu handeln.


Gesundheit als Prozess
Mittlerweile ist es vielfach belegt, dass der Grad an Gesundheitsbewusstsein (darunter auch das Bewusstsein über die Beeinflussbarkeit der Gesundheit durch eigenes Tun) mit der objektiv messbaren Gesundheit zusammenhängt, von wirksamen Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung einmal ganz zu schweigen (bspw. Bandura 2010 oder Steinmann 2005). Häufig ist die Rede von Gesundheit als einem Kapital des Lebens. Nach dieser Auffassung wird einem die Gesundheit in die Wiege gelegt und ab diesem Zeitpunkt verwaltet. Dem muss entschieden widersprochen werden. Gesundheit ist kein einmal erworbenes Gut, das nach und nach – beim einen schneller als beim anderen – abgetragen wird. Vielmehr ist Gesundheit ein Prozess, den man durch die eigene Lebensweise, das eigene Verhalten maßgeblich beeinflussen kann (insb. Antonovsky 1979). So kann jeder Einzelne jeden Tag etwas für seine eigene Gesundheit tun. Nicht umsonst besteht national wie international Konsens darüber, dass ein hohes Maß an Gesundheit und Lebensqualität nicht nur für die Einzelperson essenziell ist, sondern sogar für das Funktionieren ganzer Gesellschaften (bspw. Europäischer Rat 2000).


Explosion von Volkskrankheiten
Dank moderner Technik und verbesserter Lebensverhältnisse werden die Menschen hierzulande immer älter; durchschnittlich „um zwei bis drei Jahre pro Dekade“, prognostizieren Forscher des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (2007: o.S.). In der Natur der Sache liegt es, dass damit auch der Bedarf an medizinischen und pflegerischen Leistungen wächst. Mit den Veränderungen der Lebensbedingungen sowie dem demografischen Wandel hat sich auch das Krankheitspanorama verändert, und zwar weg von Infektionskrankheiten und hin zu oft sehr kostenintensiven chronisch-degenerativen Erkrankungen (Busse/Riesberg 2005). So sind 86 Prozent der Todesfälle und 77 Prozent der Krankheitslast in Europa verursacht durch nicht übertragbare Krankheiten (WHO 2010: 3). Hierunter sind sämtliche, auch als Volkskrankheiten bezeichnete, Krankheiten zu verstehen, beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, psychische Störungen, Diabetes Typ II, Atemwegserkrankungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen. Zum Vergleich: International verursachen diese Erkrankungen nur 50 Prozent der Krankheitslast. Gewissermaßen steht Europa somit vor einem Luxusproblem, denn es ist bekannt, dass ein Großteil dieser nicht übertragbaren Krankheiten durch die Lebensführung beeinflussbar ist.


Einsparpotenzial der Prävention
Mit der hohen Krankheitslast gehen auch hohe und teils vermeidbare Kosten einher. Etwa die Hälfte der Krankheitskosten von 254,3 Milliarden wurde im Jahr 2008 hierzulande von nur vier Krankheitsklassen verursacht. Mit 37 Milliarden Euro verursachten Herz-Kreislauf-Leiden den größten Anteil; gefolgt von Krankheiten des Verdauungssystems mit 34,8 Milliarden Euro. Die psychischen und Verhaltensstörungen mit 28,7 Milliarden Euro sowie die Muskel-Skelett-Erkrankungen mit 28,5 Milliarden Euro stellten ebenfalls große Ausgabenposten dar (Statistisches Bundesamt 2010). Auffällig ist, dass es sich hierbei um Krankheitsklassen handelt, deren Ausmaß und Auftretenszeitpunkt stark beeinflussbar sind – durch den Lebensstil aber auch durch verhältnispräventive Maßnahmen. Die durch solche Interventionen vermeidbaren Kosten sind nur schwer zu beziffern, das Einsparpotenzial also unbekannt. Gern zitiert wird ein Bericht des britischen Unterhauses, nach denen allein durch „falsche“ Ernährung und dadurch entstehende Folgeerkrankungen in Deutschland jedes Jahr etwa 70 Milliarden (!!!) Euro Kosten entstehen und letztlich vermieden werden könnten (bspw. Künast 2004). Der eklatante Zusammenhang von Gesundheitsverhalten, Erkrankungen und Folgekosten ist der Fachwelt durchaus bekannt; die Umsetzung in die Praxis hingegen unzulänglich, wie das Ergebnis der zu Beginn des Artikels zitierten Studie der Sporthochschule Köln verdeutlicht.


EU-Ziel: Steigerung gesunder Lebensjahre
Die zentrale Frage lautet: Wie können insbesondere chronische Erkrankungen verhindert, verkürzt oder hinausgezögert werden? Ziel ist also die Steigerung gesunder Lebensjahre („healthy life years“). Dieser Faktor beschreibt, wie viele Jahre eine Person ab Geburt wahrscheinlich ohne Aktivitätseinschränkungen zu leben hat. Damit wird die Lebenserwartung mit der Lebensqualität zusammengenommen und gilt in der EU als ein wichtiger Indikator für die Überwachung der Gesundheit als Produktivitäts- und Wirtschaftsfaktor eines Landes. Die Steigerung gesunder Lebensjahre ist ein erklärtes EU-Ziel. Das in der Lissabon-Strategie festgehaltene Ziel der erhöhten Wettbewerbsfähigkeit wird hierdurch verfolgt, da gesunde Personen zum einen das Arbeitskräftepotenzial stärken und zum anderen die soziale Sicherungssysteme entlasten (Europäischer Rat 2000). Ziel ist ein „lebenszyklusorientiertes Gesundheitskonzept“, welches bereits bei den Kindern ansetzt, um die Anzahl gesunder Lebensjahre zu steigern. Auch die direkten Gesundheitsausgaben werden in einem hohen Maße durch die Anzahl gesunder Lebensjahre bestimmt (Scheftlein 2008).


Zukunftssicherung des Gesundheitssystems
Zu lange hat die Politik die Augen vor dem demografischen Wandel verschlossen, zu lange wurde der Anstieg chronisch-degenerativer und damit teurer Erkrankungen ignoriert. Wir werden uns der Herausforderung stellen müssen, unser Gesundheitssystem zukunftssicher zu machen und eine nachhaltige Finanzierung zu garantieren (bspw. Busse/Riesberg 2005). Dies kann zwar auch durch die Erhöhung von Beitragssätzen, die Einführung von Zusatzbeiträgen oder Leistungskürzungen und damit zu Lasten der Versicherten erfolgen. Nachhaltig wird es dadurch nicht. Das enge Korsett der Kassen darf aber nicht dazu führen, dass weiterhin an falscher Stelle gespart und die Krankheitslast in die Zukunft verschoben wird. Der bessere Weg ist also dafür zu sorgen, dass die hohen Krankheitskosten erst gar nicht entstehen. Prävention und Gesundheitsförderung sind hierzu die Mittel der Wahl.


Stiefkind Prävention
Eine Binsenweisheit ist, dass die Gesunderhaltung ein zentrales Thema der künftigen Gesundheitspolitik sein muss. Aber nach wie vor legt das Gesundheitssystem vor allem Wert auf die Behandlung von Krankheiten. Fast 3.000 Euro pro Versicherten und Jahr wenden die Kassen dafür auf (BMG 2010). Für Prävention hingegen sollen nicht mal 5 Euro ausreichen? Die Ausgaben für Prävention und Gesundheitsförderung nach § 20 SGB V machen nach Angaben der Gesetzlichen Krankenversicherung mit 311 Millionen Euro nur einen Promilleteil der Kassenausgaben aus (MDS/GKV-Spitzenverband 2010: 9). Die seit Jahren immer wieder gestellte Forderung, die Prävention als gleichberechtige vierte Säule unseres Gesundheitssystems neben Kuration, Pflege und Rehabilitation zu etablieren, ist nicht ansatzweise erfolgt. Im Gegenteil: Erzielt ist bislang nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein (bspw. SVR 2007).


Was ist zu tun?
Die Forderungen, Prävention und Gesundheitsförderung zu stärken ist die eine Seite. Die andere ist die Frage: Wie geht man denn tatsächlich vor, um möglichst viele gesunde Lebensjahre in einer Gesellschaft zu erreichen? Aktivitäten im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention werden im Grundsatz bekanntlich unterschieden zwischen individuellen und lebensweltbezogenen Maßnahmen. Die erstgenannten Aktivitäten setzen vor allem am Gesundheitsverhalten einer Person an. So sollen Risikoverhalten vermieden und gesundheitsförderliche Verhaltensweisen gestärkt werden, zum Beispiel durch Gesundheitskurse, Verhaltenstrainings etc. Lebenswelt- oder umweltbezogene Maßnahmen zielen hingegen auf eine Umstrukturierung und Verbesserung der Lebensbedingungen ab; hier sollen die Verhältnisse, in denen Menschen leben, gesundheitsfördernd gestaltet werden. Beispiele für diese Lebenswelten, auch Settings genannt, sind Kindertageseinrichtungen (KiTas), Kommunen, der Arbeitsplatz oder auch Vereine (bspw. Rosenbrock/Gerlinger 2006; Naidoo/Wills 2003).
Die individuellen und vorwiegend verhaltensorientierten Angebote sind – bei Betrachtung der Ausgaben insgesamt sowie je Versicherten – stark überrepräsentiert, obwohl sie weniger effektiv sind als die lebenswelt- bzw. verhältnisbezogenen Ansätze. Der durch die Individualangebote erwartete Marketingeffekt für die Krankenkassen erscheint den Anbietern oft wichtiger zu sein als der erzielbare Gesundheitseffekt. Mit den Ausgaben von 4,44 Euro je Versicherten wurde der Richtwert der GKV-Ausgaben für Primärprävention und Gesundheitsförderung nach § 20 SGB V insgesamt zwar deutlich überschritten. Mit nur 0,27 Euro je Versicherten werden die angestrebten 0,50 Euro je Versicherten für Settingausgaben jedoch gerademal zur Hälfte erreicht (MDS/GKV-Spitzenverband 2010: 23).


Gesunde Lebenswelten
In sämtlichen Bestrebungen zur politischen Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung wird der Settingansatz – erstmals erwähnt in der Ottawa-Charta der WHO (1986) – gefordert. In der Umsetzung durch die Gesetzliche Krankenversicherung werden sowohl nicht-betriebliche Settings wie Kindertagesstätten, Schulen und Kommunen als auch betriebliche Settings berücksichtigt. In Hinsicht auf die internationale Sichtweise der Weltgesundheitsorganisation, die den Lebensweltansatz fordert, sind mit den oben genannten Bereichen bereits wesentliche Lebenswelten berücksichtigt. Bezieht man dies jedoch auf Deutschland, lässt sich feststellen, dass ein anderer wesentlicher Bereich außer Acht gelassen wurde: die Vereine. Schätzungsweise sind mehr als 60 Prozent der Deutschen in mehr als einer halben Million eingetragener Vereine organisiert. Allein dieses spricht schon für die Einbeziehung dieser Form gesellschaftlichen Lebens. Aber noch mehr spricht dafür, wenn man bedenkt, dass ein Großteil dieser Vereine einen sportlichen Hintergrund und in den häufigsten Fällen auch einen direkten Gesundheitsbezug hat; allein der Deutsche Olympische Sportbund zählte in seiner letzten Statistik 27,5 Millionen Mitglieder (DOSB 2008). Neben den gesundheitsfördernden Einflüssen, die das Vereinsleben durch soziale Netzwerke (Stichwort „Sozialkapital“) mit sich bringt, ist dies DER ORT, an dem aktiv Prävention und Gesundheitsförderung betrieben werden können. Diese Rolle der Vereine stärker als bisher zu unterstützen, muss auch Aufgabe der (Gesundheits-)Politik sein; ihr gebührt im Rahmen der Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung eine besondere Aufmerksamkeit! Wie die Vereinslandschaft ist auch das deutsche Kur- und Heilbäderwesen ein Lebensbereich, der maßgeblich und aktiv an der Gestaltung von Prävention und Gesundheitsförderung beteiligt ist. Auch sie stellen eine deutschlandspezifische und eine gewachsene Struktur dar, die es als Alleinstellungsmerkmal in besonderem Maße zu stärken gilt. Vorrang bei diesen Bestrebungen muss die systematische Vernetzung von Kur und Reha mit dem Alltag haben. Werden in der Zeit des Aufenthaltes gesunde Verhaltensweisen erlernt und auch als durchaus positiv und wohltuend empfunden, verfallen viele Personen in die alten Verhaltensmuster zurück, sobald sie wieder im Alltag angelangt sind. So besteht ein Problem der stationären Kur- und Reha-Aufenthalte in der mangelnden Nachhaltigkeit (bspw. Klein-Lange et al. 2003). Ziel sollte es sein, den Kurgästen und Reha-Patienten Gesundheitsangebote an ihrem Heimatort bereitzustellen, um eine gewisse Nachhaltigkeit zu erzielen; Sport- und Gesundheitsvereine sind hier besonders geeignete Anlaufstellen.


Mehr Mittel für Präventionsforschung
Ein Kernproblem der Prävention ist der Nutzennachweis. Die Kosten für Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention fallen jetzt und heute an, während der zu erwartende Nutzen erst in der Zukunft sichtbar wird. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist also schwierig zu messen (Plamper et al. 2009). Naturgemäß erscheinen Investitionen, die einen schnellen und kurzfristig sichtbaren „Return on Investment“ (ROI) versprechen, als lukrativ und vor allem gut kommunizierbar. Insbesondere in der Politik ist es – gerade in Zeiten leerer Kassen – nur schwer vermittelbar, für Prävention und Gesundheitsförderung hohe Ausgaben zu veranschlagen, wenn diese erst langfristig – und möglicherweise erst nach Ablauf der eigenen Amtszeit – den gewünschten Erfolg bringen. Aber auch die Erfolgsmessung selbst ist schwierig; die Studienlage unzulänglich (SVR 2002). Sprichwörtlich beißt sich hier die Katze in den Schwanz: Auf der einen Seite werden Wirksamkeitsnachweise gefordert, auf der anderen Seite ist kaum jemand dazu bereit, diese zu finanzieren. Das muss sich ändern. Denn zur Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung gehört auch, dass endlich ausreichend Forschungsgelder in die Hand genommen werden: Forschungen im Präventionsbereich müssen also ausgebaut und notwendige Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Die Schieflage in der Ressourcenverteilung zugunsten klinischer Forschung muss endlich beseitigt werden (Schmacke 2009). Dennoch: einige Untersuchungen gibt es. Nach einer Studie aus der Schweiz wurde beispielsweise im Bereich der Tabakprävention ein ROI der Präventionsausgaben bis zu 48; in der Alkoholprävention bis zu 29 gemessen (Fueglister-Dousse et al. 2009: 12). Ein Großteil des ökonomischen Nutzens ist auf die vermiedenen Kosten in Folge nicht benötigter medizinischer Leistungen zurückzuführen. Neben dem hohen intangiblen Nutzen für den Einzelnen, können aber auch andere Zweige auf einen enormen monetären Nutzen hoffen. Dieser kann sich in unterschiedlicher Weise niederschlagen. Zum einen sind da die Sozialversicherungsträger, die von Senkungen des medizinischen Behandlungsbedarfes und damit verbundenen verminderten Krankheitsausgaben, weniger Frühberentungen, Unfällen und einer geringeren Pflegebedürftigkeit profitieren. Zum anderen sind Unternehmen als Nutznießer anzuführen; gerade im betrieblichen Setting werden mit einem Verhältnis von sogar bis zu 1:10 äußerst günstige Kosten-Nutzen-Relationen präventiver und gesundheitsfördernder Maßnahmen berichtet (Kreis/Bödeker 2003: 34). Neben diesem unternehmerischen Nutzen durch eine höhere Produktivität infolge weniger Ausfälle auf der einen und der höheren Arbeitsmotivation auf der anderen Seite profitiert hiervon auch die Volkswirtschaft eines Landes.


Institut für Public Health
In Deutschland fehlt eine Struktur, die es bereits in vielen anderen Ländern seit Jahren gibt: ein Institut für Public Health. Benötigt wird eine Stelle, die nicht nur epidemiologische Daten verwaltet, sondern auch Forschungsaktivitäten bündelt und die systematische Evaluation und Qualitätssicherung flächendeckender Präventionsprogramme leistet.
Gesundheitsförderung und Prävention werden hierzulande in einer nicht überschaubaren Anzahl von Projekten gelebt und sind auch in zahlreichen Gesetzen verankert. Es gibt jedoch leider keinerlei systematische Übersicht, welche die Aktivitäten von Bund, Ländern, Kommunen, Sozialversicherungen, Stiftungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren darstellt. Lediglich gibt es eine Übersicht, die die Präventionsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung darstellt. Längst überfällig ist es also, mittels eines Präventionsberichts Transparenz über das Geschehen im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland zu schaffen.


Vernetzung und Kooperation
Ein weiteres Problem der Präventionslandschaft in Deutschland ist die fehlende Vernetzung der Akteure. Gesundheitsförderung und Prävention sind essenzielle Themen nicht nur der Gesundheitspolitik, sondern auch der allgemeinen Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik. Als solche müssen sie auch behandelt werden. Letztendlich muss der Staat die Rahmenbedingungen bieten, damit sich das Individuum eigenverantwortlich und gesundheitskompetent verhalten kann und gesunde Lebenswelten schaffen. Die Anbieter sind über die öffentliche Hand hinaus Stiftungen, Verbände, Vereine etc. Die Träger der Angebote sind ebenfalls auf den verschiedensten Ebenen zu finden; den größten finanziellen Anteil übernehmen bislang die Sozialversicherungsträger, insbesondere die Gesetzliche Krankenversicherung.
Viele Player – wenige Payer
Festzuhalten ist: Es gibt zwar viele Player in der Prävention, jedoch viel zu wenige Payer! Es fehlt aber auch eine Vernetzung der Aktivitäten, es fehlt an Koordination und Kooperation. Es sollten zentrale Anlaufstellen geschaffen werden, die die Maßnahmen koordinieren. Als Beispiel hierfür kann die Umsetzung des § 21 SGB V zur Zahngesundheit dienen. Jedem bekannt sind die regelmäßigen Besuche des Zahnarztes in KiTas und Schulen. Hier zahlen Länder, Öffentlicher Gesundheitsdienst und Gesetzliche Krankenversicherung in einen Topf ein, aus dem flächendeckende Prophylaxeuntersuchungen finanziert werden. Dieses Vorgehen hat zu einer enormen Verbesserung der Zahngesundheit im Kindes- und Jugendalter geführt (Strippel 2009). An derartige Präventionsstellen sollten sich Kindergärten, Schulen, Betriebe, Senioreneinrichtungen, Vereine und Verbände wenden können, um Maßnahmen zu beantragen oder anzubieten. Es kann nicht sein, dass jede KiTa erst prüfen muss, wie viele ihrer Kinder bei welcher Krankenkasse versichert sind, um dann darüber zu entscheiden, an welche der Kassen in Deutschland man sich nun wendet, um die Gesundheit in der Lebenswelt KiTa zu fördern. Idealerweise würde diese Aufgabe eine zu errichtende Stiftung für Gesundheitsförderung oder Präventionsstiftung nach dem Beispiel des Nachbarlandes Schweiz erfüllen.
Health in all policies
Wie vorangehend erläutert, gibt es viele Baustellen in der „Präventionspolitik“ – aber auch gute Vorschläge, Prävention und Gesundheitsförderung zu stärken und systematisch in die verschiedenen Politikbereiche zu implementieren. Dies ist nötig, um die Gesundheit des Einzelnen zu stärken, das Gesundheitswesen nachhaltig finanzierbar zu gestalten, eine wettbewerbsfähige Wirtschaft zu erhalten und letztlich eine Gesellschaft mit vielen gesunden Lebensjahren zu fördern. Deutschland hat zweifelsohne ein gutes Gesundheitswesen, es krankt jedoch an der Unterversorgung im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung. Dies wird auch im europaweiten Vergleich ersichtlich. Dort gibt es eine ganze Fülle erfolgreicher Modelle und Ansätze. Das EU-weite „Gesunde-Städte-Netzwerk“, die Salzstrategie der Schweiz oder die Präventionsstiftungen in Österreich und der Schweiz sind dafür nur einige Beispiele (u.a. Kickbusch 2010). Good-Practice-Modelle existieren also zu Hauf, ihr eigentliches Ziel, also ihre Nachahmung, wird nur leider zu selten erreicht. Durchgeführt werden ständig neue Projekte anstatt erst einmal für gut befundene und erfolgreiche Ansätze zu verbessern und für einen „roll-out“ in der Fläche zu sorgen. Deutschland hat bei der Prävention einen Platz im unteren Mittelfeld und kann noch etwas von seinen Nachbarländern lernen und muss dies auch. Die Politik ist hier gefordert, das Gesundheitssystem auch im Bereich Prävention nach vorne zu bringen und die Führung zu übernehmen. Der Sachverstand und das Potenzial sind hierfür vorhanden.
Die Bundesregierung versprach zu Beginn ihrer Legislaturperiode nicht nur eine Strukturreform des Gesundheitswesens, sondern auch eine umfassende nationale Präventionsstrategie (CDU et al 2009). Außer Ankündigungen ist bislang noch nichts passiert.
Abschließend festzuhalten ist: Es gibt genügend Positivbeispiele, durch die mit Ideen, Geld, vor allem aber mit politischem Willen, die Gesundheit gefördert und damit ein gesellschaftlicher Nutzen erzielt wurde. Hieran muss angeknüpft und erfolgreiche Projekte endlich flächendeckend und systematisch durchgeführt werden. <<


von:

Marion Caspers-Merk, Judith Rennkamp

 

Open Access-PDF zum Zitieren (Zitationshinweis: Caspers-Merk, M., Rennkamp, J.: „Zum Stand der Präventionspolitik“. In: "Monitor Versorgungsforschung" (MVF) 04/11, S. 29 ff.)

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Ausgabe 03 / 2011

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
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