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Atypische Antipsychotika – Mittel der Wahl?

19.09.2016 14:00
Atypische Antipsychotika haben die medikamentöse Behandlung psychischer Erkrankungen revolutioniert. Gegenüber den konventionellen Therapieansätzen zeichnen sie sich durch eine nebenwirkungsärmere Beseitigung der Negativsymptome aus. Führt dieser Vorteil zu einer Verordnungspräferenz der atypischen Präparate, oder stellen sie vielmehr eine Behandlungsalternative zu den konventionellen Wirkstoffen dar?

http://doi.org/10.24945/MVF.05.16.1866-0533.1979

>> Antipsychotika, auch Psycholeptika oder Neuroleptika genannt, sind Substanzen, die in erster Linie zur Behandlung der Schizophrenie eingesetzt werden. Sie wirken dämpfend auf Symptome wie Halluzinationen, Angst-, Wahn- und Zwangsvorstellungen, Unruhe- und Erregungszustände und fördern die Schlafbereitschaft. Die erste medikamentöse Behandlung von Psychosen erfolgte Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Wirkstoff Chlorpromazin. Ausgehend von dieser Substanz wurden weitere Antipsychotika entwickelt, wovon Haloperidol bis in die heutige Zeit der prominenteste Vertreter ist. Kennzeichnend für diese als konventionell bezeichnete Therapie „ist die Nebenwirkung der extrapyramidal-motorischen Störungen, die sich in teilweise bizarren Bewegungsabläufen äußern, die der Patient nicht kontrollieren kann. Sie treten dosisabhängig auf und können irreversibel sein. Lange Zeit nahm man an, dass diese extrapyramidal-motorischen Störungen untrennbar mit der antipsychotischen Wirkung der Neuroleptika verbunden seien“ (Arzneimittel-Atlas 2014). Dies änderte sich erst in den 70er Jahren, als mit Clozapin ein Wirkstoff auf den Markt kam, bei dem die beschriebenen Nebenwirkungen deutlich geringer ausfallen. Aufgrund dieser untypischen Eigenschaft wurde Clozapin als atypischer Wirkstoff eingestuft. Der gewonnene Mehrwert für Patienten führte dazu, dass ab 1990 ausschließlich atypische Neuroleptika in den deutschen Markt eingeführt wurden (vgl. Arzneimittel-Atlas, 2014).


Konventionelle oder atypische Therapie?

 

Die oben genannten Vorteile lassen vermuten, dass in den letzten Jahren eine Marktverschiebung von den konventionellen hin zu den atypischen Antipsychotika stattgefunden hat. Vergleicht man jedoch die Anzahl an GKV-Patienten von Juli 2015 bis Juni 2016 (MAT, moving anual total), so ergibt sich mit 1,6 Mio. konventionell zu 1,3 Mio. atypisch behandelten Patienten kein auffälliger Unterschied. Allenfalls zeigt sich eine leichte Tendenz zur konventionellen Behandlungsform (Quelle: Patient INSIGHTS, INSIGHT Health). Ein Studienvergleich zu dieser Wirkstoffgruppe im Arzneiverordnungs-Report 2015 kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die therapeutische Überlegenheit atypischer Antipsychotika nicht überzeugend belegt ist. Neben der Therapieform ist auch die Altersstruktur der Patienten besonders auffällig. Sowohl bei der konventionellen als auch bei der atypischen Therapie weisen die Patienten mit 64 bzw. 58 Jahren ein hohes Durchschnittsalter auf. In beiden Therapieformen sind über 50 Prozent der Betroffenen 60 Jahre oder älter. Knapp 25 Prozent aller Patienten fallen sogar in die Altersklasse der über 80-Jährigen (Quelle: Patient INSIGHTS, INSIGHT Health). Dies deckt sich mit den Erkenntnissen von Gaebel und Klimke zum Einsatz von Neuroleptika bei nicht-psychotischen Störungen, nach denen rund 47 Prozent bei Patienten ab 65 Jahren verordnet werden. Hingegen wird bei der Schizophrenie ein Altershöhepunkt von 29 Jahren angenommen (vgl. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie Band 142). Die beschriebene Altersstruktur der Patienten lässt die Vermutung zu, dass Anti-psychotika in der Geriatrie eingesetzt werden, beispielsweise zur Behandlung von Verwirrtheits- und Unruhezuständen. Zur Annäherung an Patienten mit Schizophrenie konzentrieren sich die folgenden Analysen daher ausschließlich auf die Altersgruppe der 0- bis 39-jährigen GKV-Patienten.
Unterschiedliche Komedikation je nach Therapieansatz

Patienten, die mit Antipsychotika behandelt werden, erhalten häufig weitere Verordnungen aus dem N-Markt. Bei der konventionellen Therapie sind mit 86 Prozent mehr Patienten betroffen, als bei der atypischen (74 Prozent). Die Komedikation unterscheidet sich je nach Behandlungsansatz deutlich. Wie eingangs beschrieben, bringen konventionelle Therapeutika Nebenwirkungen in Form von extrapyramidal-motorischen Störungen mit sich. Diese versuchen Ärzte mit Parkinsonpräparaten zu unterdrücken.
Wie Abbildung 1 zeigt, erhalten bei einer Verordnung von konventionellen Präparaten 21 Prozent der Patienten eine Komedikation aus dem oben genannten Markt. Dass bei atypischen nur 7 Prozent der Patienten zusätzlich Parkinsonpräparate verordnet bekommen, spricht dafür, dass die Nebenwirkung bei dieser Therapieform weitgehend entfällt. Ebenfalls auffällig sind die Unterschiede in der Komedikation mit weiteren Antipsychotika. Während lediglich 35 Prozent der Patienten, die mit atypischen Präparaten behandelt werden, noch ein weiteres Antipsychotikum erhalten, sind es bei den konventionellen bereits 60 Prozent. Damit erhält mehr als jeder zweite Patient, der mit konventionellen Arzneimitteln behandelt wird, ein weiteres Präparat (Quelle: Patient INSIGHTS, INSIGHT Health).


Hausärzte verordnen häufiger konventionell

Weitere Unterschiede werden bei der Betrachtung der behandelnden Fachärzte deutlich. Neben den Neurologen weisen Hausärzte die höchsten Verordnungsanteile bei Antipsychotika auf. Von allen Patienten, die mit konventionellen Antipsychotika behandelt werden, erhalten 34 Prozent ihr Arzneimittel von einem Hausarzt. 39 Prozent haben eine Verordnung vom Neurologen. Die atypische Therapie wird hingegen bei Neurologen häufiger angewendet. 46 Prozent der Patienten erhalten ihre Verordnung bei dieser Facharztgruppe und nur 22 Prozent bei ihrem Hausarzt. Bei der Betrachtung ausschließlich neueingestellter Patienten lässt sich für die konventionelle Therapie eine noch deutlichere Tendenz feststellen: Nahezu jeder zweite Patient in der Altersgruppe der 0- bis 39-Jährigen wird vom Hausarzt initial auf einen konventionellen Wirkstoff eingestellt. Bei Neurologen ist es nur jeder dritte. Der Großteil der Patienten erhält hier erstmalig ein atypisches Antipsychotikum (vgl. Abb. 2).


Viele Einmalverordnungen beim Hausarzt


Erhalten Patienten nach der ersten Verordnung keine Folgeverordnung des Arzneimittels, dann ist dies als Einmalverordnung definiert. Bei der atypischen Therapie fallen ca. 30 Prozent der Verordnungen in diese Kategorie. Im Vergleich dazu weisen die konventionellen Antipsychotika mit knapp 60 Prozent einen deutlich höheren Anteil auf. Besonders viele Einmalverordnungen werden beim Hausarzt ausgestellt: 7 von 10 Patienten, die dort auf Antipsychotika eingestellt werden, erhalten im Anschluss kein weiteres Rezept über Arzneimittel aus diesem Markt und werden in Folge auch nicht von anderen Fachärzten weiterbehandelt. Grundsätzlich ist die hohe Zahl an Einmalverordnungen überraschend, da Antipsychotika über einen längeren Zeitraum eingenommen werden sollten, um ihre volle Wirkung zu entfalten. Allerdings weisen die unterschiedlichen Wirkstoffe starke Varianzen auf. So ist der Anteil der Einmalverordnungen innerhalb der konventionellen Therapie für Fluspirilen mit Abstand am deutlichsten ausgeprägt, bei gleichzeitig eher geringer Verordnungsrelevanz. Umgekehrt weist Haloperidol bei einer sehr hohen Verordnungsintensität eher geringere Einmalverordnungen auf (Quelle: Patient INSIGHTS, INSIGHT Health).

Unterschiede bei Therapiedauer und Compliance


In der Pharmakotherapie mit Antipsychotika, deren therapeutischer Effekt erst nach längerer Einnahme eintritt, ist die Frage nach Behandlungsdauer und Compliance von besonderer Relevanz. Zur Betrachtung der Patienten in Therapie werden für die folgende Analyse alle Einmalverordnungen ausgeschlossen. Da es deutliche Unterschiede zwischen den Wirkstoffen gibt, werden lediglich Haloperidol (konventionell) und Risperidon (atypisch) als zwei zentrale Neuroleptika mit hohem Verordnungsanteil verglichen. Im Untersuchungszeitraum von Januar 2013 bis Juni 2016 waren Haloperidol-Patienten durchschnittlich 412 Tage in Behandlung. Bezüglich der Therapietreue fallen 55 Prozent aller Patienten in die Kategorie „90-100% compliant“. 13 Prozent sind zu „70-89% compliant“ und lediglich jeder dritte Patient ist zu weniger als 70 Prozent durchgehend auf den Wirkstoff eingestellt. Beim atypischen Wirkstoff Risperidon zeigt sich eine leicht höhere Compliance der Patienten. Im Durchschnitt sind sie 436 Tage in Therapie und neigen stärker dazu, den Wirkstoff konsequent einzunehmen. 64 Prozent sind mit 90%-100% durchgängig in Therapie. 16 Prozent fallen in die mittlere Kategorie und nur 20 Prozent zeichnen sich durch eine eher geringe Therapietreue aus (Quelle: Patient INSIGHTS, INSIGHT Health).

Fazit


Die aktuelle Datengrundlage zeigt, dass neue Therapieoptionen bei Antipsychotika die konventionellen Wirkstoffe nicht verdrängen. Vielmehr ist bei jeder medikamentösen Einstellung eine individuelle therapeutische Entscheidung erforderlich. Dies deckt sich mit der S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Nach dieser stellen atypische Neuroleptika das Mittel der Wahl dar, „falls nicht der Patient selbst konventionelle Antipsychotika präferiert oder er darauf bereits ohne relevante Nebenwirkungen remittierte“. Wie die häufige Komedika-
tion mit Parkinsonpräparaten zeigt, führen je nach gewählter Therapieform auftretende Nebenwirkungen zu einer entsprechenden Begleitbehandlung. Unterschiede lassen sich ebenfalls im Verordnungsverhalten zwischen den Fachgruppen feststellen, wobei Hausärzte zu konventionellen und Neurologen zu atypischen Therapieansätzen tendieren. Die gewählte Medikation scheint auch Einfluss auf die Therapietreue zu haben: Patienten, die mit konventionellen Präparaten behandelt werden, erhalten häufiger eine Einmalverordnung und zeigen für die betrachteten Wirkstoffe auch bei langfristiger Therapie eine leicht geringere Compliance. Grundsätzlich ist die Pharmakotherapie bei der Behandlung von Schizophrenie durch weitere Maßnahmen zu unterstützen. Für eine langfristige Stabilisierung und Alltagsbewältigung empfiehlt die oben genannte S3-Leitlinie darüber hinaus eine psycho- und soziotherapeutische Betreuung. Dazu zählen unter anderem die Förderung sozialer und beruflicher (Re-)Integration und Motivation zur Selbsthilfe. <<
Autoren:
Marcel Moser, Kathrin Pieloth, Jana Heiler*

Zitationshinweis: doi: 10.24945/MVF.05.16.1866-0533.1979

Ausgabe 05 / 2016

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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