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Zukunftsstrategien gegen „Stadt, Land, Kluft“

03.04.2017 14:00
Nach dem Eingangsreferat von Ministerialdirektor Dr. Ulrich Orlowski (BMG), der das Thema „Regionalität – Das neue Paradigma der Versorgung“ erläuterte, wurde auf dem MVF-Kongress „Regionale Versorgung“ klar, dass Regionalität schon bei dem Thema beginnt, wie es definiert wird und jenseits jedweder Qualitätsdimension der Erfolg aller Projekte vor allem davon abhängig sein wird, wie schnell die Finanzierungsfrage geklärt ist (s. MVF 02/17). Zu diesen Themenfeldern führte ein vielschichtiges Vortragsprogramm durch die Themenfelder Analyse, Modellprojekte und Translation.

>> „Statt Region ist der Begriff der Population vorzuziehen“, erklärte Prof. Dr. Matthias Schrappe (Köln) in seinem Vortrag, der sechs Fragen zum Thema der Regionalität stellte und dann auch beantwortete. Schon auf die Kernfrage, welche Notwendigkeiten denn eigentlich dazu führen, Regionalität überhaupt und in einem solch hohen Maße zu betonen, nannte er vier Punkte: Zum einen sei die zentrale Regulation nicht hinreichend, zum zweiten die Mengenausweitung nicht zu kontrollieren, drittens sei eine Differenzierung des Bedarfs nötig, weil der Zugang und Sicherstellung in Frage stehen, zudem die demografische Entwicklung und die Differenzierung der Morbidität die Entwicklung neuer Versorgungsstrukturen erforderten und schließlich viertens: Dass mehr und mehr auch der Zugang und die Sicherstellung in Frage stehen. Oder wie es die CDU im Wahlkampf auf den Punkt gebracht hätte: „Stadt, Land, Kluft“.
Skalierung und Translation
In seinem Vortrag „Skalierung von regionalen Versorgungsmodellen: Gesundes Kinzigtal, Billstedt-Horn“ warf  dann Dr. Alexander Pimperl (OptiMedis, Hamburg) einen Blick auf die Gegenwart und die Zukunft derartiger und neuerdings auch vom Innovationsfonds geförderter Modelle. Ausgehend von dem im „Gesunden Kinzigtal“ gemachten Erfahrungen mit einem dort seit 2006 vereinbarten populationsorientierten Shared Savings-Vertrag, bei dem die medizinische wie ökonomische Verantwortung durch einen sogenannten Integrator – in diesem Falle die Gesundes Kinzigtal GmbH – übernommen wird, würde der Weg hin zu einem „sozial verantwortlichen Gesundheitssystem“ beschritten, wie Pimperl ausführte. Im „Gesunden Kinzigtal“ (GK) hätte das geklappt: So lebten die im GK-Modell betreuten Mitglieder im Schnitt 1,2 Jahre länger im Vergleich zu ihrer individuellen Lebenserwartung als eine Kontrollgruppe, zudem hätte sich der Deckungsbeitrag für die beiden beteiligten Krankenkassen um bisher insgesamt fast 30 Millionen Euro verbessert. Die Kernfrage laute nun: „Ist Kinzigtal so besonders, dass Ähnliches nicht in anderen Regionen umgesetzt werden kann?“ Pimperls simple Antwort: „Nein.“ Es gäbe eine Vielzahl ruraler Arztnetze, dazu von Gebietskörperschaften, Krankenhäusern und Universitäten mit Interesse an regionaler populationsorientierter Integrierter Versorgung – mit in Frage kommenden Populationen von 71.000 in Calw, über 106.000 in Billsted/Horn bis hin zu rund 1,7 Millionen, die von sieben Berliner Arztnetzen betreut werden oder gar die Metropolregion Rhein Neckar mit 2,3 Milllionen Einwohnern.
Das Modellvorhaben namens „INVEST“ in den beiden Hamburger Stadtteilen Billstedt/Horn
(siehe dazu auch das Interview mit Dr. Helmut Hildebrandt in MVF 02/17) macht den Anfang, immerhin mit einer Förderung des Innovationsfonds in Höhe von 6,3 Millionen Euro, um hier nach dem Vorbild des Kinzigtals eine innovative Versorgungsform in einer sozial benachteiligten Region zu etablieren. Laut einer Hochrechnung von OptiMedis wären die Einsparmöglichkeiten enorm, würde man derartige Modellprojekte skalieren, wie es bei positiver Evaluation der Innovationsfonds vorgibt: Wenn derzeit schon das Modell Kinzigtal mit seinen 0,047 % an der Gesamtheit aller deutschen Versicherten ein Einsparpotenzial pro Jahr von 2,3 Millionen Euro heben würde, könne man davon ausgehen, dass bei 20-prozentiger Abdeckung rund 1 Milliarde Euro Einparungen realisiert werden könnten – bei gleichzeitig besserer Versorgung wohlgemerkt. Pimperl: „Die Zeit ist reif: Wir sind bereit für die Skalierung und Translation.“
Populationsbezogene Versorgung
Ein zweites regionales Versorgungsmodell stellte Dr. med. Hans-Joachim Helming, der Geschäftsführer der IGiB-StimMT gGmbH, in seinem Vorrtag vor, den der Ex-Vorsitzende der KV Brandenburg mit dem Titel „Von der Sektorfixiertheit zur regionalen Versorgung“ versah. Die Herausforderungen im Mittelbereich Templin bestünden durch die hier deutlich spürbare Alterung der Gesellschaft in einer schier dramatischen Morbiditätsentwicklung, vor allem bei Hypertonie, Diabetes und dem Herzinfarkt. Die These, die es in dem Modell zu beweisen gilt: „Kann ein Ausschöpfen des ambulanten Versorgungspotenzials dem demografisch bedingten Ausgabenanstieg entgegenwirken?“
Helming sieht das so, weil ein hoher Anteil stationärer Fälle diagnostische Maßnahmen enthält, die ambulant erfolgen könnten, wenn es denn „funktionale Intermediärstrukturen zur wohnortnahen ambulanten medizinischen Versorgung“ gäbe. Genau die baut StimMT u.a. mit dem KV RegioMed Zentrum Templin auf, das der sich verändernden Nachfrage durch eine Anpassung eines populationsbezogenen, sektorenübergreifenden und patientenorientierten Versorgungsangebots begegnen soll. Das alles läuft auf eine ebenso umfangreiche wie sektor-übergreifende Strukturmigration hinaus, für die es neben der Innovationsfonds-Förderung eine breiten gesellschaftlichen wie politischen Konsens gibt: Immerhin ziehen hier das Gesundheitsministerium des Landes Brandenburg (MASGF), das Wirtschaftsministerium und Zukunftsagentur des Landes Brandenburg, der Landkreis Uckermark, die Stadt Templin und das Gemeinsame Landesgremium gem. § 90a SGB V sowie die TK und IKK  an einem Strang.
Sektor- und berufsgruppenübergreifende Versorgung

Doch: Welche Herausforderungen gibt es überhaupt in der Versorgung in ländlichen Regionen? Dieser Frage ging Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann (Universitätsmedizin Greifswald – Institut für Community Medicine) in seinem gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Dr. Neeltje van den Berg erarbeiteten Vortrag „Praxisbeispiele und Projekte in der regionalen Versorgung“ nach. „Kooperation, Kompensation, Delegation, Substitution“ würden die Hauptstichworte lauten, für die es bereits vorhandene Herangehensweisen und Instrumente gibt:  Beginnend bei einer arbeitsteiligen Versorgung chronisch kranker Patienten, der Vermeidung von (Ab-)Brüchen in der Behandlung (z.B. Betreuung von psychiatrischen Patienten nach teilstationärer Behandlung) über die Unterstützung der Akutversorgung (z.B. Videokonferenzen, Übertragung von Bilddaten), Rettungsmedizin (Übertragung von Vitalparametern) und Teleradiologie bis hin zur fachärztlichen Konsultation von Subspezialisten.
Mit all diesen Ansätzen könne man
nach Hoffmanns Meinung durchaus die neuen Anforderungen an das Gesundheitssystem begegnen, wenn es denn gelänge, akute und chronische Lücken in der medizinischen Versorgung zu kompensieren und zudem die Aufgabenneuverteilung neu zu fassen, um zu einer sektor- und berufsgruppenübergreifenden Versorgung zu kommen. Eine Möglichkeit „für eine regionale, interprofessionelle, arbeitsteilige Versorgung“ seien hier durchaus Telemedizin und eHealth, wie sie bereits im Innovationsfonds (immerhin mit sechs Projekten in der 1. Welle) gefördert würden.
„Das kann es doch nicht sein“
„Man könnte doch eigentlich schon heute alles machen“, eröffnete Prof. Dr. Dr. Alfred Holzgreve (Vivantes, Berlin)  die Vormittagsdiskussion und fragte Schrappe: „Nur: Wie kommen wir eigentlich auf den Weg?“ Dessen Antwort: „Die einzige Möglichkeit für eine Weiterentwicklung des Systems ist die Regionalität“. Nur so könne man das endliche DRG-System mit seiner sektoralen Optimierungsstrategie verlassen und ebenso Neues im ambulanten Bereich schaffen. Doch dazu bräuchte es „wirklich von der Politik eine Weichenstellung“, denn obwohl die benötigten Instrumente alle seit langem vorhanden seien, könne es nicht dabei bleiben, dass Innovationen immer eine Einzelsache mit besonderer Anstrengung von Individuen blieben.
Dieser Meinung schloß sich Hoffmann an, der forderte, dass Einzelinteressen von Leistungserbringern im Zweifelsfall zurücktreten müssten, weil das entscheidende Kriterium nur das sein könne, was „was beim Patienten passiert“. Doch genau das könne man im Moment noch nicht, einfach deshalb, weil es „keine vernünftigen Messungen des Patientenoutcomes und der Qualität“ gäbe. Da diese bislang nicht vorhanden sind, seien Patienten wir Initiatoren innovativer Projekte davon abhängig, „dass eine Krankenkasse selbst mehr oder weniger innovativ“ sei, doch – so Hoffmann: „Das kann es doch nicht sein“. Die Privilegien bestimmter Akteure dürften doch nicht länger definieren, was andere machen oder nicht machen dürfen, das sei „ein erhebliches Problem für Fortschritt im System“.
Eine Möglichkeit, um zu einem Mehr an Innovationen zu kommen, meinte Pimperl, sei der Weg von Ausschreibungen. Und zwar, weil hier wirklich ein Wettbewerb der Ideen entstünde, die gegeneinander in Regionen agieren und zeigen  müssten, was sie leisten können. „Dafür braucht man allerdings dann auch ein Set von Indikatoren, über die vergleichend gemessen werden kann,“ erklärt Pimperl. Zudem seien entsprechende verpflichtende Finanzierungsbedingungen nötig, weil die bisherige Erfahrung zeige, dass es oft das Einfachste für Kassen wäre, „den Kopf wegzu-
ducken und keine Innovation zu machen“. Pimperl: „Ich verstehe ganz gut, dass man so agiert, weil es derzeit einfach keinen Anreiz für Kostenträger gibt, in Richtung Qualitätswettbewerb zu gehen.“
„Abgesehen davon, dass eine klare Zielvorgabe existieren muss, ist es auch Aufgabe der Politik zu sagen, wie in diesem solidarisch definierten System die Zielvision aussehen muss“, gab Helming zu Protokoll. Doch ebenso müsse in einem „Korridor der Möglichkeiten“ den Akteuren so viel Spielraum gelassen werden, um „innovativ, kreativ zu sein und etwas zu gestalten, was auf die regionalen Besonderheiten angepasst“ ist. An der Stelle könne er sich „heute vorstellen, dass das Finanzierungsmonopol für medizinische Versorgung nicht nur bei den derzeit etablierten Krankenkassen oder Kostenträgern den Krankenkassen verortet“ bleibe, sondern beispielweise auch Risikokapital genützt werden könnte, wenn es bereit sei, in die Gesundheitsversorgung zu investieren. Helming, bis vor kurzem der dienstälteste KV-Vorsitzende Deutschlands: „Das ist eine ganz unkonventionelle Art der Herangehensweise, die aber unheimlich viel Potenzial erschließt, wenn man dann von der Beitragsbezogenheit und den Begrenzungen wegkommt, die die Politik den Krankenkassen vorschreibt.“
Entscheidungen unter Ungewissheit
Der Kongressnachmittag beschäftigte sich schließlich mit den Perspektiven der Stakeholder. Die Sichtweise der Krankenhäuser brachte Dr. Eberhard Thombansen (Vivantes Netzwerk für Gesundheit, Berlin) ein, der unter anderem Beispiele bei Vivantes durchgeführter regionaler und sektorübergreifender Versorgung wie Home Treatment, das Schöneberger Modell und Portalpraxen darstellte. Das Thema „Regionale Versorgung – ein Mehr an Gesundheit?“ behandelte  Stefanie Stoff-Ahnis, Mitglied der Geschäftsleitung der AOK Nordost, Berlin, indem sie Modelle in der Region Nordost vorstellte, drei Bundesländer mit  ganz verschiedenen Herausforderungen, was Bevölkerungsentwicklung, Morbidität, Infrastruktur und Versorgungsstrukturen angeht. Darum sei es hier  nötig „Versorgung neu zu denken“, besonders, was Integration, Koordination- und Vernetzung angeht.
Doch ebenso würden, so Stoff-Ahnis, digitale Lösungen Distanzen überbrücken helfen, indem sie das Arzt-Patienten-Verhältnis durch telemedizinische Konsultation mit dem Arzt ergänzen, die Versorgung für bestimmte Indikationen durch Apps und Internetportale unterstützen, Patienteninformationen an den Schnittstellen übermitteln und Experten aus unterschiedlichen Einrichtungen vernetzen. Ihre Forderung: „Diversität in den Regionen erfordert regionale Lösungen, gemeinsame Ideen, Flexibilität und ein vielfältiges und breit gefächertes Wissen.“ Zur Weiterentwicklung der Versorgung brauche es aber auch eine Zusammenarbeit aller Partner vor Ort, denn die Bundespolitik könne und müsse zwar die Rahmenbedingungen vorgeben, doch: „Die Ausgestaltung erfolgt durch die regionalen Partner.“
Nur: „Was haben die Patienten eigentlich von der regionalen Versorgung? Die Frage beantwortete Dr. Ilona Köster-Steinebach, Mitglied im Innovationsausschuss, Berlin. „Regionale Versorgungsmodelle können Wissen generieren“, meinte sie, warnte aber auch: „,Notwendigerweise immer mit geringer Evidenzstufe!“ Darum seien hier Systementscheidungen immer auch „Entscheidungen unter Ungewissheit“, was eine „intensive Wirkungsforschung notwendig“ mache; einen Auftrag, den sie – wem auch anders? – der Versorgungsforschung zuordnete! <<

Ausgabe 03 / 2017

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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