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Herausforderung Multimedikation im Alter

03.04.2017 14:00
Eine bedarfsgerechte Arzneimittelversorgung stellt mit zunehmendem Alter eine Herausforderung dar. Alte und teilweise multimorbide Patienten mit einer optimalen Pharmakotherapie zu versorgen, bedingt nicht selten eine Multimedikation, auch oder besonders wenn leitliniengerecht therapiert wird. Denn allein die adäquate Therapie altersbedingter Stoffwechselveränderungen kann zu einer Einnahme von fünf oder mehr verschiedenen Wirkstoffen führen. Für den verordnenden Arzt ergibt sich dabei eine wesentliche Einflussmöglichkeit auf die Multimedikation und damit auch eine große Chance zur Prävention. In welchem Ausmaß insbesondere ältere Patienten von Multimedikation betroffen sind und welche Ansätze zur Bewältigung für Ärzte, Patienten und andere Beteiligte des Gesundheitswesens bestehen, wird exemplarisch erläutert.

>> Die Anwendung von Arzneimitteln bedarf auch bei einem indikationsgerechten Einsatz einer sorgfältigen Beobachtung. Insbesondere bei einer dauerhaften Mehrfachmedikation müssen Interaktionspotenziale verschiedener Wirkstoffe, relevante Kontraindikationen und individuelle Unverträglichkeiten Berücksichtigung finden. Dadurch können unerwünschte Arzneimittelwirkungen vermieden und letztlich auch die Compliance beim Patienten verbessert werden. Eine dauerhafte Mehrfachmedikation betrifft vornehmlich Patienten, die an chronischen und/oder mehreren Erkrankungen gleichzeitig leiden, folglich insbesondere ältere Menschen. Obwohl es keinen einheitlichen Grenzwert gibt, ist in der Regel von Multimedikation die Rede, wenn in einem definierten Zeitraum fünf oder mehr Arzneimittel parallel eingenommen werden (vgl. ABDA, 2016). Dabei unterscheidet die Leitlinie Multimedikation die notwendige Multimedikation, die aufgrund der Erkrankungen des Patienten erforderlich ist, von der unerwünschten. Diese wird unter anderem auf unkoordinierte Therapien, Selbstmedikation und das Weiterführen von Akutbehandlungen zurückgeführt (vgl. Hausärztliche Leitlinie Multimedikation der Leitliniengruppe Hessen, 2013).
Hohes Alter = Multimedikation?
Im folgenden Beitrag wird das Ausmaß der Multimedikation im Versorgungsalltag auf Basis von GKV-Verordnungsdaten dargestellt. Ein besonderes Augenmerk wird zudem auf die Altersgruppe der über 65-jährigen Patienten gelegt. Die Analyse basiert auf Daten aus dem 4. Quartal 2016, somit werden alle gesetzlich versicherten Patienten berücksichtigt, die im betrachteten Zeitraum mindestens eine Verordnung erhalten haben. Aufgrund technischer Vorgaben der Analyse werden fixe Wirkstoffkombinationen wie ein Einzelwirkstoff gewertet. Obwohl die nicht abgestimmte Selbstmedikation ebenfalls als eine Ursache für Multimedikation gesehen wird, können in dieser Analyse nur ärztliche Verordnungen betrachtet werden. Es ist aber davon auszugehen, dass nicht verschreibungspflichtige Präparate das Ausmaß der Multimedikation verstärken.
Wie Abbildung 1 zeigt, erhalten unter Berücksichtigung der oben aufgeführten Analysekriterien 46,5 Prozent der Patienten drei oder mehr Wirkstoffe parallel. Diese Gruppe hat seit 01. Oktober 2016 einen gesetzlichen Anspruch auf die Ausstellung eines Medikationsplans. 22,7 Prozent der betrachteten Patienten erhielten im genannten Quartal fünf oder mehr verschiedene Verordnungen und fallen somit nach einleitend festgehaltener Definition in die Gruppe mit Multimedikation. Nach der DEGAM-Leitlinie wird unter anderem ein nicht vorhandener Medikationsplan als eine Ursache für Multimedikation gesehen. Liegt dieser jedoch vor, können insbesondere ältere Patienten profitieren: Die Liste bietet Hilfe bei einer korrekten Einnahme der Arzneimittel und kann als eines der wenigen Instrumente auch die Selbstmedikation erfassen. Nach Ansicht vieler Experten genügt eine Papierform aber nicht hinreichend den Anforderungen an ein effektives Medikationsmanagement. Eine Verbesserung, insbesondere im Hinblick auf regelmäßige Aktualisierungen, kann eine Speicherung des Medikationsplans auf der elektronischen Gesundheitskarte erzielen. Gemäß einer Praxisinformation des Kassenärzt-
lichen Bundesverbands stehen die telematischen Anwendungen voraussichtlich ab 2018 zur Verfügung.
Werden Patienten aller Altersgruppen mit einer Verordnung im 4. Quartal 2016 betrachtet, erhalten diese im Schnitt mehr als drei Wirkstoffe. Dennoch variiert die durchschnittliche Verordnungsmenge im Lebensverlauf erheblich (vgl. Abb. 2). Während diese in den ersten Lebensjahren bei drei verschiedenen Wirkstoffen liegt, sinkt die Anzahl im Jugendalter und bei jungen Erwachsenen auf unter zwei. Bei Erwachsenen zeigt sich mit zunehmendem Alter ein Anstieg, der ab dem 60. Lebensjahr die Schwelle zu drei oder mehr Verordnungen erreicht und mit dem 80. Lebensjahr mit fünf oder mehr Verordnungen in den Bereich der Multimedikation fällt. Es bestätigt sich, dass insbesondere ältere Patienten gehäuft von Multimedikation betroffen sind.
Am Zustandekommen einer Multimedikation sind über alle Altersklassen hinweg nur wenige Facharztgruppen beteiligt: Bei insgesamt 93,9 Prozent der Patienten sind dies maximal zwei. Selbst bei der selektiven Betrachtung von Patienten über 65 Jahren mit fünf oder mehr Verordnungen sind bei 80,8 Prozent nur eine oder zwei Facharztgruppen beteiligt. Nur jeder siebte dieser Patienten erhält seine Verordnungen von drei oder mehr verschiedenen Facharztgruppen.
Vor allem Herz-Kreislauf?
Die am häufigsten verordneten Wirkstoffe bei Patienten über 65 Jahren mit Multimedikation ermöglichen Rückschlüsse auf die zugrunde liegenden Erkrankungen. Zumeist werden Arzneimittel zur Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verordnet: Zwei von drei der betrachteten Patienten erhalten Renin-Angiotensin wirksame Präparate und gut jeder zweite Betarezeptoren-Blocker; 41,1 Prozent werden mit Diuretika behandelt. Hierbei sind Torasemid, Ramipril, Bisoprolol und Metoprolol die häufigsten Wirkstoffe. Auffällig ist, dass bereits an dritter Stelle die Arzneimittelklasse der Antazida, Antiflatulentia und Ulkustherapeutika folgt. Diese Wirkstoffe werden vorwiegend zur Prävention und Therapie von Magenbeschwerden eingesetzt – eine häufige Nebenwirkung dauerhafter Medikamenteneinnahme insbesondere bei Gabe von NSAR und Kortikosteroiden. Mit Pantoprazol führt ein Protonenpumpenhemmer die Liste der am häufigsten verordneten Wirkstoffe bei Multimedikationspatienten über 65 an. Wird der Fokus weiterhin auf diese Altersgruppe gelegt, befinden sich neben Herz-Kreislauf- und Stoffwechseltherapeutika auch die Analgetika unter den Top 10 der Arzneimittelklassen. Das Schmerzmittel, das die meisten Patienten erhalten, ist Metamizol. Bei einigen der betrachteten Arzneimittelklassen treten bezüglich der Verordnungshäufigkeit deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede auf. So sind bei Frauen die Verordnungen von Schmerzmitteln, Psychopharmaka und Schilddrüsenpräparaten höher als bei Männern. Diese erhalten hingegen häufiger Gerinnungshemmer, Lipidregulatoren, Gichtmittel und Urologika.
Einmal Multimedikation, immer
Multimedikation?
Die Betrachtung der meistverordneten Arzneimittelklassen lässt darauf schließen, dass viele der Patienten über 65 Jahren an alterstypischen chronischen Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel-erkrankungen wie beispielsweise Bluthochdruck oder Diabetes leiden. Auch die hohe Anzahl an Verordnungen bei Allgemeinmedizinern stützt diese Vermutung. Folglich haben wohl viele der Patienten regelmäßige Arztkontakte und werden kontinuierlich mit einer Medikation versorgt. So erhalten Patienten, die im 1. Quartal 2014 mindestens fünf verschiedene Wirkstoffe erhielten und die auch im 4. Quartal 2016 mit einer Verordnung in der Analyse erfasst werden, zu 75,3 Prozent wieder mindestens fünf Verordnungen. Darüber hinaus ist in der betrachteten Gruppe ein Trend zur steigenden Anzahl verschiedener Wirkstoffe zu beobachten. Während die Anteile der Patienten mit fünf und sechs Wirkstoffen zurückgehen, erhält nun eine größere Gruppe sieben und mehr. Da drei von vier Verordnungen bei Multimedikationspatienten über 65 Jahren auf preisgünstige Generika entfallen, wird das Arztbudget bezüglich der reinen Arzneimittelkosten nur in beschränktem Ausmaß belastet. Die absoluten Folgekosten der Multimedikation für das gesamte Gesundheitssystem sind indes schwer zu beziffern. Werden alle potenziell unangemessenen Verordnungen betrachtet (inadäquat nach Priscus-Liste, unangepasste Dosis, Nichtbeachten von Wechselwirkungen und Gegenanzeigen), liegt die Schätzung der jährlich entstehenden Kosten bei etwa 400 Mio. Euro. Diese sind maßgeblich auf Krankenhausaufenthalte zurückzuführen, wobei additive Pflege- und Betreuungskosten unberücksichtigt bleiben (vgl. Forschung Frankfurt, 2012).
Ausblick
In der vorliegenden Analyse erhält mehr als jeder fünfte Patient mindestens fünf Verordnungen. Dies betrifft vornehmlich Patienten sehr hohen Alters, aber bereits ab dem 60. Lebensjahr werden zunehmend drei oder mehr Wirkstoffe verordnet. Die gezeigten Ergebnisse verdeutlichen die Relevanz der Multimedikation im Versorgungsalltag. Auch zahlreiche Experten rücken das Thema in die Öffentlichkeit und damit stärker in den Fokus der Entscheidungsträger. Von Seiten der Ärzteschaft, von Patientenorganisationen und auch aus der Gesundheitspolitik kommt daher die Forderung, ein systematisches Medikationsmanagement einzuführen. Hierfür setzt sich beispielsweise Prof. Dr. Marion Schaefer von der Universitätsmedizin der Charité Berlin ein. Sie machte kürzlich im Rahmen einer Pressekonferenz der Arbeitsgemeinschaft GESUNDHEIT 65 PLUS (AGG 65 PLUS) deutlich, dass pro Arzneimittel für die sachgerechte Anwendung 100–150 Einzelinformationen zu berücksichtigen sind. Um bei dieser Informationsflut den Überblick zu behalten und Risiken im individuellen Fall zu erkennen, fordern auch die Mitglieder der AGG 65 PLUS das systematische Medikationsmanagement über die elektronische Gesundheitskarte. In der Versorgungsforschung findet das Thema Multimedikation ebenfalls zunehmend Berücksichtigung. Beispielsweise setzt sich das Innovationsfonds-Projekt EVITA (Evidenzbasiertes Multimedikations-Programm mit Implementierung in die Versorgungspraxis) zum Ziel, ein umfassendes, wirksames und kosteneffektives Versorgungsprogramm für Patienten mit Mehrfachmedikation zu entwickeln. Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist die Förderung solcher Projekte von zentraler Bedeutung. <<

Autoren: Dr. Hans-Jürgen Schweyda, Jana Heiler und Kathrin Pieloth,

INSIGHT Health ([email protected]); Literatur bei den Verfassern. <<



Zitationshinweis : Schweyda, H.-J., Heiler, J., Pieloth, K.: „Herausforderung Multimedikation im Alter“, in: „Monitor Versorgungsforschung“ (03/17), S. 8f.; doi: 10.24945/MVF.03.17.1866-0533.2014

Ausgabe 03 / 2017

Editorial

RoskiHerausgeber
Prof. Dr.
Reinhold
Roski

 

 

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